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Proteste gegen Rechtsextremismus
"Mobilisierung der Vielen"

Die aktuellen Demonstrationen halten ungewöhnlich lange an. Sie mobilisieren unterschiedlichste Gruppen, sagt Protestforscher Leistner.

Von Katharina Finke 02.02.2024

Forschung & Lehre: Wie nehmen Sie die aktuellen Proteste wahr und wie unterscheiden sie sich von anderen ? 

Dr. Alexander Leistner: Dass die Proteste so groß und lang anhaltend sind, ist sehr überraschend. Es gab in der Vergangenheit große Mobilisierungen in dem thematischen Kontext, beispielsweise 2018 das große "Unteilbar"-Bündnis. Aber die hatten eher Kampagnen-Charakter, weil sie mit viel Vorlauf organisiert wurden. Im Gegensatz dazu sind die überraschend großen aktuellen Demonstrationen eher Graswurzelbewegungen. Das bedeutet, dass sie nicht einheitlich und bundesweit geplant wurden, sondern jeweils in den Orten selbst mobilisiert wurde. Sie haben eine Eigendynamik entwickelt und verselbstständigen sich. Der Ansteckungseffekt mobilisiert zusätzliche Menschen. 

Zu den aktuellen Protesten gibt es noch keine Forschung, was sich aber beobachten lässt, ist eine Mobilisierung der Vielen. In zweierlei Hinsicht: der Zahl der Teilnehmenden, also quantitativ, aber auch qualitativ bezogen auf die Teilnehmenden selber. Die aktuellen Demonstrationen unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Art der Mobilisierung von anderen, sondern auch aufgrund der Größe und gesellschaftlichen Breite.

Ein Mann mit Bart und Brille hat die Arme auf einem Geländer abgelegt und schaut freundlich in die Kamera.
Dr. Alexander Leistner, Universität Leipzig, Institut für Kulturwissenschaften, Leipzig Research Centre Global Dynamics (ReCentGlobe) Universität Leipzig/Swen Reichhold

F&L: Gesellschaftliche Breite – bedeutet das, die Protestierenden sind eine heterogene Gruppe? 

Dr. Alexander Leistner: Ja, aus protesthistorischer Sicht gibt es in Deutschland zwar einen Bias von eher bildungsbürgerlichem Hintergrund. Das bedeutet, dass die Protestwahrscheinlichkeit in dieser Bevölkerungsgruppe höher ist und sie überproportional viel an Protesten teilnehmen. Das schließt aber nicht aus, dass auch andere gesellschaftliche Gruppen protestieren gehen, wie auch die aktuellen Demonstrationen zeigen. Bei diesem Konflikt geht es nicht um sozialen Status, sondern um die Zukunft des demokratischen Zusammenlebens. 

Es sind viele Menschen ganz unmittelbar und viel existenzieller von der Drohung betroffen, dass ein großer Prozentsatz der Bevölkerung Deutschlands ausgewiesen werden soll. Dieses Bedrohungsszenario geht über soziale Schichten hinaus. Deswegen nehmen Menschen aus der Breite der Gesellschaft an den Protesten teil. 

Sie beschränken sich nicht auf Großstädte, sondern finden auch in ländlichen Regionen statt. Dort haben sich beispielsweise auch Bauern den Anliegen der Proteste angeschlossen. In Leipzig ist mir persönlich aufgefallen, dass viele Familien mit Kindern teilgenommen haben.

"Es sind viele Menschen ganz unmittelbar und viel existenzieller von der Drohung betroffen, dass ein großer Prozentsatz der Bevölkerung Deutschlands ausgewiesen werden soll."

F&L: Es gibt gerade eine öffentliche Debatte darüber, ob man Kinder auf Demonstrationen mitnehmen soll oder nicht – wie sehen Sie das? 

Alexander Leistner: Dass Kinder bei den Protesten dabei sind, ist für mich keine Instrumentalisierung. Eher ein Ausdruck dafür, in welchen gesellschaftlichen Kreisen die Sorgen vor dem Erstarken des Rechtsextremismus präsent sind und wie sich das artikuliert. Ich habe etwa das Plakat einer Fünftklässlerin gesehen, auf dem stand "Ich möchte nicht, dass meine Schulfreunde das Land verlassen müssen." Das ist eine kindliche Perspektive, aber dieses Mädchen weiß sehr genau, warum sie auf der Straße ist. Es ähnelt etwas der Mobilisierung von Fridays For Future, wo Kinder und Jugendliche auch sehr präsent sind, dieses Demokratiemittel genutzt und viele kreative Plakate gestaltet haben. 

F&L: Gibt es Unterschiede bei den Protesten in Städten oder auf dem Land? 

Alexander Leistner: Ja, die zentrale Demonstration in Berlin hat einen anderen Charakter als die unter der Woche in einer unterfränkischen Kleinstadt. Die Schwelle überhaupt an einer Demonstration teilzunehmen, ist in einem ländlich geprägten ostdeutschen Bundesland höher. Dort gibt es eine reale Bedrohungslage und Demonstranten werden eingeschüchtert – sei es bei der Abreise oder während der Kundgebung. Dort herrscht ein anderes politisches Klima und lokale Mileuprägungen. 

Umso beeindruckender finde ich es, wer derzeit bei bestimmten kleinstädtischen Protesten alles spricht. Das sind häufig Personkonstellationen, die vor einer gewissen Zeit undenkbar gewesen wären. Ein Beispiel ist Bautzen. Das ist eine sehr problembelastete Stadt, mit einer extrem starken rechten Szene. Dort hat der sächsische Innenminister von der CDU die zivilgesellschaftlichen Proteste als aktiven Verfassungsschutz bezeichnet. Im dortigen politischen Raum kommt das nicht so häufig vor! Weil die sächsische CDU, die als konservativster Landesverband der Partei gilt, eigentlich mit zivilgesellschatlichen Initativen fremdelt, die sich in dem Bereich engagieren. 

F&L: Wie haben sich Proteste über die vergangenen Jahre verändert? 

Alexander Leistner: Es gab ein kontinuierliches, sehr intensives Protestgeschehen der rechten Szene in den vergangenen Jahren. Organisiert oder unter Einfluss von sehr rechten Akteuren in kleinstädtischen Räumen, die bis zuletzt fast wöchentlich auf die Straße gingen. Das hat straßenpoilitische Dominanz und Einschüchterungs-seffekte erzeugt, so dass es keinen Gegenprotest mehr gab. All das hat auch in die aktuelle Mobilisierung mit reingespielt: viele Menschen empfinden das jetzt als Befreiungsschlag, weil sie sprichwörtlich nicht mehr an der Wand stehen. 

F&L: Inwiefern helfen oder hindern Proteste bei der der politischen Polarisierung? 

Alexander Leistner: Da gibt es unterschiedliche Ebenen, auf denen man das beanworten kann. Einen interessanten Zugang hat mein Kollege Steffen Mau, Soziologe in Berlin. Sein Team sieht die gesellschaftliche Polarisierung eigentlich gar nicht so stark. Aber es gibt einen entkoppelten Diskurs, um Polarisierung, der eine bestimmte Funktion hat und instrumentalisiert wird. 

Dabei gibt es unterschiedliche Strategien: Die Umdeutung von Begriffen oder die Umkehrung, wie auch bei den jetzigen großen Demonstrationen, die extrem Rechte als faschistisch bezeichnen und das Narrativ benutzen: wir lassen uns nicht spalten oder die Gesellschaft wird polarisiert. Wenn jemand irgendwo sagt, etwas ist rechtsextremistisch oder für unsere Demokratie gefährlich, dann wird es gleich als Versuch die Gesellschaft zu spalten betitelt. Dann redet man nicht mehr über Rechtsextremismus und die Gefahren, sondern darüber, ob damit die Gesellschaft weiter gespalten oder polarisiert wird. Diese Angst und auch die Art über Polarisierung zu reden, ist auch Teil der Lähmung in der letzten Zeit vor den Demonstrationen gewesen. Man wusste gar nicht mehr, wie man mit der Partei und den Entwicklungen umgehen sollte. 

Deswegen ist ein Effekt der Demonstration auch ein sehr starker Perspektivwechsel. Das kann man auch aus Sicht der Wissenschaft bestärken: Es gibt eine AfD-Kernwählerschaft, die man durch solche Proteste nicht umstimmen wird. Aber die Demonstrationen hatten andere Effekte: Selbstverständigung und Selbstbestimmung der demokratischen Zivilgesellschaft. Das Gefühl, dass die Entwicklungen nicht unaufhaltsam sind und es viele gibt, welche die Demokratie für schützenswert halten. 

"Die Demonstrationen hatten andere Effekte: Selbstverständigung und Selbstbestimmung der demokratischen Zivilgesellschaft."

F&L: Welche Rolle spielen Hochschulen bei den Protesten? 

Alexander Leistner: Ob Städte starke Universitätsstandorte haben, sieht man an den Protesten. Bei Pegida haben sich die Hochschulleitungen zum Beispiel in Dresden stark positioniert. Aktuell hat sich in Thüringen das größte Netzwerk gegen Rechtsextremismus formiert, das es dort je gab. Bei Thüringen Weltoffen kommen Akteure aus Wirtschaft, Kultur und auch Hochschulen zusammen, denn sie alle sind ein wichtiger Teil des demokratischen Institutionsgefüges. 

Hochschulen positionieren sich vor allem, wenn es um Freiheit der Forschung und Lehre geht. Aktuell ist eine wichtige Frage: Was ändert sich für Hochschulen mit Demokratiefeindlichkeit? Insbesondere in den Bundesländern, in denen eine Machtoption der AfD nicht auszuschließen ist. Dort könnte es auch hilfreich sein, in Szenarien zu denken: Was könnte das für uns bedeuten? Und was sind Erfahrungen anderer Länder, bei denen es bereits einen Demokratieumbau gegeben hat? 

"Was ändert sich für Hochschulen mit Demokratiefeindlichkeit?"

F&L: "Stadt XY hasst die AfD" – welche Rolle spielt Hass bei den Protesten? 

Alexander Leistner: Hass gibt es in den Slogans, aber es war keine prägende Stimmung auf den Demonstrationen. Ich persönlich habe eine andere Grundstimmung wahrgenommen: Großen Ernst und eine gewisse Gelöstheit in der Wahrhnehmung – ich bin nicht allein, da sind viele und uns ist das ein wichtiges Anliegen. Es gibt eine symbolische Kommunikation davon, wogegen protestiert wird. Aber es gibt keine Gewaltandrohungen oder Personalisierungen, wie man das bei den Pegida-Demonstrationen beobachten konnte. Dort gab es immer konkret Verantwortliche wie Habeck oder Baerbock und Symbole wie Sträflingskleidung oder Galgen. Diese Zuspitzungen haben etwas Tribunalhaftes und drücken eine politische Kultur aus, die stark mit Feindbildern und Drohkulissen arbeitet. Das würde ich nicht gleichsetzen mit “Stadt XY hasst die AfD". Es widerspricht der Stimmung auf den Demonstrationen. 

F&L: “Kein Kölsch für die AfD" – welche Rolle spielt Humor bei den Protesten? 

Alexander Leistner: Wenn man sich die Plakate ansieht, ist eine humoristische Gestaltung sehr verbreitet. Humor gehört zum Standard beim Protestrepertoire, es ist ein typisches und verbreitetes Stilmittel. Das gab es auch schon früher bei Mobilisierungen gegen Rechtsextremismus. Und dass Slogans gegen die AfD entstehen und auf Gefahren hinweisen, ist nicht überraschend. Man könnte es auch neutraler formulieren: Proteste sollen sehr viele Menschen anziehen. Sie werden eher mit einladender Protestsymbolik angesprochen als mit dreißig Seiten Forderungen. Und humoristisch ist eher einladend. 

F&L: Ist es besser für oder gegen etwas zu demonstrieren? 

Alexander Leistner: Das kann man so pauschal nicht sagen. Proteste, die sehr stark geprägt sind von einem Dagegen, können eine Form von Identitätsbildung erleichtern und zu einem stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühl führen. Man kann dabei aber keine Rückschlüsse ziehen, ob ein Protest wirksamer ist oder nicht. Gerade bei den Protesten, finde ich es gar nicht so einfach zu beantworten, weil es nicht klar ist, ob es eine Anti-AfD oder Demokratie-Demonstrationen sind. Das ist sehr uneindeutig. Es gibt den Anlass und die sehr konkrete Sorge, aber es ist auch eine Solidarisierung mit den gesellschaftlichen Grundlagen des Zusammenlebens hier. 

F&L: Wie eindeutig sollten Anliegen bei Protesten sein? 

Alexander Leistner: Wenn die Anliegen diffuser sind, ist ein Protest anschlussfähiger für Viele. Wenn es ganz konkret etwas wäre – das ist aber jetzt abstrakt – beispielsweise für den Entzug von Bürgerrechten von Björn Höcke, das ist ein konkretes Ziel, da gehen die Meinungen sicher noch deutlicher auseinander. 

Momentan besteht eine große Sorge um die Demokratie überhaupt. Das ist ein sehr allgemeines Anliegen. In der Sache konkret und nicht diffus. Dabei gibt es noch keine konkreten Ideen, mit welchen Instrumenten, die Demokratie geschützt werden kann. Aber das sind auch keine Fragen, die bei einer Demonstration geklärt werden müssen, sondern in der gesellschaftlichen Debatte. Demonstrationen können diese anstoßen und Raum geben, mit einer anderen Dringlichkeit über etwas zu sprechen. 

"Momentan besteht eine große Sorge um die Demokratie überhaupt. Das ist ein sehr allgemeines Anliegen."

F&L: Wann ist ein Protest erfolgreich? 

Alexander Leistner: Häufig sieht man erst im Rückblick, ob Proteste erfolgreich waren oder nicht. Aber die Forschung unterscheidet verschiedenen Ebenen. Am einfachsten ist es, sich anzugucken, ob bestimmte Forderungen erfüllt werden oder nicht. Zum Beispiel führten in den 90er Jahren Proteste in Brandenburg gegen einen Truppenübungsplatz dazu, dass er nicht gebaut wurde. 

"Eines steht fest auf jeden Fall fest: Proteste wirken!"

Dann gibt es Dinge, die Protestentwicklungen gar nicht unbedingt immer direkt beeinflussen können. Beispielsweise, wenn sich bestimmte Debatten ändern, andere Themen besprochen werden, weil sichtbar wird, wie dringlich sie sind und man darüber reden oder auch, dass langfrisitig gesellschaftliche Werte geändert werden müssen. Ein Beispiel dafür ist die Frauenbewegung und der daraus resultierende andere gesellschaftliche Umgang mit Frauenrechten. Das sieht man nicht unmittelbar, es sind eher langfristige gesellschaftliche Effekte. Aber ein Wertewandel wird häufig auch von Protestbewegungen angestoßen. Eines steht fest auf jeden Fall fest: Proteste wirken!