Verantwortung in der Wissenschaft
Schuld und Sanktion
Reaktionen auf Fehlverhalten im Wissenschaftssystem sollten nicht beliebig, sondern regelorientiert erfolgen. Das Recht fächert Verantwortlichkeit nach Anlass, Verfahren und betroffener Institution auf. Wissenschaftliches Fehlverhalten muss nach Regeln festgestellt werden, die in Satzungen guter wissenschaftlicher Praxis oder Promotions- und Habilitationsordnungen niedergelegt sind. Geht es hingegen nicht um spezifische Wissenschaftsinhalte, sondern um Regelverstöße, die sich auch an jedem anderen Arbeitsplatz ereignen könnten (etwa Belästigung, Gewalt, Machtmissbrauch, Korruption), kann dies nach allgemeinen Regeln des Beamten-, Arbeits- oder Strafrechts sanktioniert werden.
Von entscheidender Bedeutung sind zudem Reaktionen der vielfältigen außeruniversitären Akteure des Wissenschaftssystems, etwa Retraktionen durch Fachjournale, durch Forschungsorganisationen oder Maßnahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach deren Verfahrensordnung. Rechtlich beruhen diese privatrechtlichen Mechanismen der Sanktionierung auf vertraglichen Vereinbarungen mit Verlagen, Arbeitgebern oder Förderorganisationen.
Wissenschaftsfreiheit und Fehlverhalten
Im Wissenschaftssystem arbeiten zunächst einmal Individuen, die unter dem Schutz des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) autonom forschen und lehren. Was wissenschaftlich richtig ist, beurteilt sich nach fachlichen Maßstäben, die im wissenschaftlichen Diskurs entstehen. Hierbei sind die "Eigengesetzlichkeiten" der Wissenschaft zu respektieren (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004 – 1 BvR 911/00, BVerfGE 111, 333, 354; Beschl. v. 24.6.2014 – 1 BvR 3217/07, BVerfGE 138, 338, 368).
Ob etwas gute oder schlechte Wissenschaft ist, ein methodischer Ansatz belastbar erscheint oder Forschungsergebnisse überzeugen, muss im Diskurs innerhalb der Wissenschaften verhandelt werden. Staatlichen Behörden ist es grundsätzlich verwehrt, hierüber amtlich zu entscheiden. Die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen gerade aufgrund ihrer Freiheit eine hohe gesellschaftliche Verantwortung, die eine "Ehrfurcht vor der Wahrheit" (Lise Meitner) voraussetzt, sich insbesondere nicht ergebnisorientiert oder interessengeleitet vereinnahmen zu lassen.
Der Schutz der Wissenschaftsfreiheit entfällt erst dann, wenn Rationalitätsanforderungen an wissenschaftliches Handeln systematisch unterlaufen werden, sodass keine ernsthafte und planmäßige Suche nach Wahrheit mehr vorliegt (BVerfG, Beschl. v. 11.1.1994 – 1 BvR 434/87, BVerfGE 90, 1, 12; BVerwG, Urt. v. 11.12.1996 – 6 C 5/95, BVerwGE 102, 304, 311). Das ist namentlich der Fall, wenn Forschungsergebnisse auf wissenschaftlichem Fehlverhalten (zum Beispiel Datenfälschung, Plagiat, angemaßter Autorschaft an fremden Forschungsdaten) beruhen. So hat das Bundesverwaltungsgericht überzeugend ausgeführt, dass dem Entzug eines unredlich erworbenen Doktorgrads nicht der Schutz der Wissenschaftsfreiheit entgegengehalten werden könne, der bei "vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verstößen gegen wissenschaftliche Kernpflichten" entfalle (Urt. v. 31.7.2013 – 6 C 9/12, BVerwGE 147, 292, 301).
Freilich ist meist der konkrete Nachweis anspruchsvoll, ob Kommunikation, die äußerlich in wissenschaftlichen Formen erfolgt (zum Beispiel als Aufsatz in einer Fachzeitschrift oder als Fachvortrag), dem Inhalt nach eigentlich keine Wissenschaft mehr ist, weil Mindestanforderungen wissenschaftlicher Objektivierung durch Fehlverhalten unterlaufen werden. Aus diesem Grund wird hierüber wissenschaftsadäquat in besonderen Verfahren – namentlich vor Ombudspersonen und -kommissionen oder vor Promotions- und Habilitationskommissionen – entschieden, in denen eine Zuschreibung von Verantwortlichkeit für Fehler nach wissenschaftlich-fachlichen Kriterien erfolgt.
Schutzverantwortung und individuelle Verantwortung
Liegt wissenschaftliches Fehlverhalten nachweislich vor, folgt aus der Wissenschaftsfreiheit eine objektiv-rechtliche Schutzverantwortung der Hochschule, durch geeignete Maßnahmen die wissenschaftliche Integrität sicherzustellen, also zum Beispiel unredlich erlangte Doktorgrade wieder zu entziehen (BVerwG, Urt. v. 21.6.2017 – 6 C 3/16, BVerwGE 159, 148, 168). Während die Einzelnen für das ihnen zurechenbare Fehlverhalten verantwortlich sind, trägt eine Forschungseinrichtung also Verantwortung für Strukturen, die das Risiko von Fehlverhalten angemessen reduzieren. Dazu dienen insbesondere Praktiken wirksamer Sanktionierung. Notwendig wäre aber auch eine systematische Prävention, die eine unverzichtbare Kultur integrer Wissenschaft fördert, in der Fehlverhalten möglichst vermieden wird.
"Notwendig wäre aber auch eine systematische Prävention, die eine unverzichtbare Kultur integrer Wissenschaft fördert, in der Fehlverhalten möglichst vermieden wird."
Wissenschaftliches Fehlverhalten ist für wissenschaftliches Personal einer Hochschule zugleich ein (beamtenrechtliches) Dienstvergehen beziehungsweise eine Verletzung arbeitsrechtlicher Pflichten. Hierauf kann mit einem Disziplinarverfahren oder arbeitsrechtlichen Maßnahmen (von der Abmahnung bis zur außerordentlichen Kündigung) im Rahmen der Verhältnismäßigkeit reagiert werden. Wird bestimmtes Fehlverhalten persönlich vorgeworfen, etwa durch eine disziplinarrechtliche Sanktion, setzt dies Schuld voraus, also die "materielle Vorwerfbarkeit" des Handelns, an das der Vorwurf geknüpft wird.
Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip (Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 3 GG) liegt die Idee vom Menschen "als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten" (BVerfG, Urt. v. 19.03.13 – 2 BvR 2628 u.a., BVerfGE 133, 168, 197; Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317, 343). Daher dürfen nur (in einem rechtsstaatlichen Verfahren erwiesene) Verletzungen solcher Regeln vorgeworfen werden, an denen sich Adressatinnen und Adressaten zumutbar eigenverantwortlich orientieren konnten. Die Höhe der Schuld – also letztlich die Schwere des Vorwurfs – begrenzt auch die Bemessung des Sanktionsrahmens.
"Wissenschaftliche Autorschaft ist Übernahme von Verantwortung für wissenschaftliche Redlichkeit und Verlässlichkeit."
Wissenschaftliche Autorschaft ist Übernahme von Verantwortung für wissenschaftliche Redlichkeit und Verlässlichkeit. Forschende sind stets selbst für ihr eigenes wissenschaftliches Fehlverhalten verantwortlich (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.3.2015 – 19 A 1111/12, Rn. 17). So entlastet beispielsweise eine schlechte Betreuung nicht vom Vorwurf, in einer Dissertation plagiiert oder gefälschte Daten verwendet zu haben.
Mitunter stellt sich wissenschaftsrechtlich das Problem, dass Forschungsarbeiten arbeitsteilig in einem Team entstehen, das gemeinsame Verantwortung für eine Veröffentlichung trägt. Hat jemand Fehler gemacht, verantworten dies grundsätzlich alle kraft gemeinsamer Autorschaft, selbst wenn die Mitautorinnen schuldlos der Schludrigkeit oder den Täuschungen eines Mitautors aufgesessen sind. Solches schuldloses Fehlverhalten kann zwar nicht disziplinarisch subjektiv vorgeworfen, aber (etwa durch eine Kommission zur Untersuchung wissenschaftlichen Fehlverhaltens) als objektiver Befund gegen das Autorenteam festgestellt werden.
Administrative Folgemaßnahmen
Persönliche Schuld ist nicht erforderlich bei Eingriffen zur Gefahrenabwehr oder administrativen Organisationsmaßnahmen. Diese machen Fehlverhalten nicht zum persönlichen Vorwurf, sondern ziehen nur angemessene Konsequenzen zum Schutz der institutionellen Integrität oder der Rechte Dritter. Möglich sind beispielsweise Maßnahmen im Rahmen der Ressourcenverteilung oder der Infrastrukturnutzung, um einen geordneten und für alle Hochschulangehörigen sicheren Dienstbetrieb in Forschung und Lehre zu gewährleisten. Etwa kann die Ausbeutung von Nachwuchs dadurch abgestellt werden, dass Stellen entzogen und anderen Einheiten zugewiesen werden. Wenn an einem Lehrstuhl schwerwiegendes oder systematisches Fehlverhalten auftritt, können Sachmittel gestrichen werden, die immer knapp sind und besser dort eingesetzt werden, wo Wissenschaft redlich erfolgt.
Rechtlich bestehen immer wieder Unsicherheiten, wie weit organisationsrechtliche Maßnahmen gehen dürfen, wie exemplarisch ein vom Verwaltungsgericht Köln entschiedener Fall zeigt. Einem Professor waren systematische Übergriffe und sexuelle Belästigungen vor allem gegenüber Studentinnen vorgeworfen worden. Der Dekan traf daher Anordnungen, um vulnerable Personen zu schützen, vor allem Beschränkungen der Lehre in Präsenz. Das Gericht hielt dies in einer problematischen Entscheidung für rechtswidrig, weil die gesetzliche Generalklausel, eine ordnungsgemäße Lehre sicherzustellen, keine so weitreichenden Eingriffe in die Lehrfreiheit zulasse. Vielmehr sei die Universität darauf verwiesen, den Hochschullehrer disziplinarrechtlich zur Verantwortung zu ziehen und insoweit ggf. zu suspendieren (Beschl. v. 27.5.2022 – 6 L 687/22). Auch der Gesetzgeber trägt mithin Verantwortung, passgenaue Ermächtigungen zu schaffen, um die wissenschaftliche Integrität zu schützen.