Wissenschaftspraxis
Forschende übersehen tendenziell eigene Fehler
Die durchschnittliche in der Forschung arbeitende Person glaubt, dass sie gute Forschungspraktiken besser befolgen kann als Kolleginnen und Kollegen. Sie glaubt auch, dass ihr eigenes Forschungsgebiet die gute Forschungspraxis besser befolgen kann als andere Forschungsgebiete. Das zeigt eine neue Studie von Forschern der Universität Linköping, Schweden. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Gefahr besteht, gegenüber den eigenen Unzulänglichkeiten blind zu werden, so die Linköping-Forschungsgruppe.
"In vielen Studien wurden wissenschaftliches Fehlverhalten oder Schwierigkeiten bei der Replikation von Forschungsergebnissen festgestellt. Die Glaubwürdigkeit ist in Frage gestellt"
Gustav Tinghög, Professor für Wirtschaftswissenschaften, Universität Linköping
"Der Ausgangspunkt des Projekts ist, dass es in der Forschungswelt eine gewisse Krise gibt. In vielen Studien wurden wissenschaftliches Fehlverhalten oder Schwierigkeiten bei der Replikation von Forschungsergebnissen festgestellt. Die Glaubwürdigkeit ist in Frage gestellt", sagt Gustav Tinghög, Professor für Wirtschaftswissenschaften am Fachbereich Wirtschaftsingenieurwesen.
Einschätzungen zur guten Forschungspraxis wurden abgefragt
Zusammen mit der Postdoktorandin Lina Koppel und der Doktorandin Amanda Lindkvist verschickte er einen Fragebogen an mehr als 33.000 schwedische Forschende. Die Fragen basierten auf den Regeln des schwedischen Forschungsrates für gute Forschungspraxis. Beispielsweise sollten die Befragten stets die Wahrheit über ihre Forschung sagen und die Prämissen, Methoden und Ergebnisse einer Studie stets offen darlegen.
Die Teilnehmenden wurden gebeten, zwei Fragen zu beantworten: Wie gut befolgen Sie Ihrer Meinung nach gute Forschungspraxis im Vergleich zu Kollegen im gleichen Forschungsbereich? Und wie gut glauben Sie, dass Ihr Forschungsgebiet im Vergleich zu anderen Forschungsgebieten der guten Forschungspraxis entspricht? Die Umfrage wurde an alle an schwedischen Universitäten beschäftigten Forschenden sowie Doktorandinnen und Doktoranden verschickt. Es gingen mehr als 11.000 Antworten ein. Die Antworten sollten auf einer siebenstufigen Skala gegeben werden, wobei eine Vier "entspricht dem Durchschnitt" bedeutete. Die Ergebnisse der Studie wurden jetzt in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
"Es zeigt sich, dass sich fast alle Forschenden als gut oder besser als der Durchschnitt einschätzen, was statistisch unmöglich ist", bemerkt Gustav Tinghög. "Wenn jeder objektiv auf sich selbst schauen könnte, wäre eine gleichmäßige Verteilung um die Mitte herum zu erwarten." Die meisten – 55 Prozent – gaben an, dass sie gute Forschungspraktiken genauso gut befolgen wie die meisten anderen. 44 Prozent dachten, sie seien besser. Nur 1 Prozent meinte, sie seien schlechter. Auf die Frage nach den Praktiken im eigenen Forschungsbereich antworteten 63 Prozent, dass sie genauso gut seien wie die meisten anderen, 29 Prozent, dass sie besser seien und 8 Prozent, dass sie schlechter seien.
"Es zeigt sich, dass sich fast alle Forschenden als gut oder besser als der Durchschnitt einschätzen, was statistisch unmöglich ist"
Professor Gustav Tinghög
Durchgängige Überschätzung der eigenen Ehrlichkeit
Alle Forschungsbereiche zeigten eine ähnliche Überschätzung der eigenen Ehrlichkeit, wobei der Effekt bei Forschenden in der Medizin am größten war. Der Linköping-Forschungsgruppe zufolge zeigen die Ergebnisse, dass Forschende als Gruppe oft ihr eigenes ethisches Verhalten überschätzen. Und diese Überschätzung erstreckt sich auch auf das eigene Forschungsgebiet im Allgemeinen. Die Ungenauigkeiten sind sehr selten skandalöser Natur, sondern betreffen eher alltägliche Abläufe, die Art und Weise, wie Ergebnisse geteilt und Daten gemeldet werden.
"Kleine Fehltritte können an Zahl zunehmen und vielleicht zu schlimmeren Fehltritten werden", sagt Amanda Lindkvist. Neben der Gefahr, gegenüber den eigenen ethischen Defiziten blind zu werden, kann auch die Überzeugung, das eigene Forschungsgebiet sei forschungsethisch besser als andere, zur Polarisierung in der Forschungswelt beitragen. Dies erschwert die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Forschungsbereichen, so die Linköping-Forschungsgruppe.
Gute wissenschaftliche Praxis
Zahlreiche Universitäten haben eigene Grundsätze für gute wissenschaftliche Praxis sowie zur Forschungsethik. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis formuliert. Darin heißt es: "Die Wissenschaft selbst gewährleistet durch redliches Denken und Handeln, nicht zuletzt auch durch organisations- und verfahrensrechtliche Regelungen, gute wissenschaftliche Praxis".
Forschende haben Schwächen wie alle Menschen
Natürlich könne man nicht völlig ausschließen, dass überwiegend sehr ethische Personen geantwortet hätten, es sei aber weniger wahrscheinlich, dass sich dies auf die Sichtweise der Forschenden auf ihr eigenes Forschungsgebiet auswirken würde, so die schwedische Forschungsgruppe. Grundsätzlich zeigt die Studie, dass Forscherinnen und Forscher nicht immun gegen psychologische Prozesse sind, die alle Menschen betreffen, also unsere Tendenz, das Beste von uns selbst zu glauben und wegzuerklären, was unserem Selbstbild zuwiderläuft.
In der Studie heißt es dazu lapidar: "Wir möchten glauben, dass Forschende der Gipfel der Objektivität sind und von rein wissenschaftlichen Motiven angetrieben werden. Allerdings sind sie auch Menschen (Überraschung!) und unterliegen denselben kognitiven Grenzen und eigennützigen Motivationen wie Menschen im Allgemeinen." “Jeden Tag stehen Forschende vor dem Dilemma: Soll ich das tun, was mir nützt, oder soll ich das tun, was der Wissenschaft nützt? In einer solchen Welt ist es wichtig, sich ständig im Spiegel zu betrachten und seinen forschungsethischen Kompass zu kalibrieren", sagt Gustav Tinghög.
"Wir möchten glauben, dass Forschende der Gipfel der Objektivität sind und von rein wissenschaftlichen Motiven angetrieben werden."
Aus der schwedischen Studie zu Forschungsethik
"Im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung wurden mehrere Maßnahmen vorgeschlagen (und teilweise umgesetzt), um das moralische Bewusstsein der Forschenden zu stärken. Dazu gehören beispielsweise bejahende Offenlegungserklärungen für Interessenkonflikte und für methodische Praktiken. Darüber hinaus kann die Vorregistrierung von Hypothesen und Analyseplänen eine Möglichkeit sein, die ethischen Freiheitsgrade von Forscherinnen und Forschern in einem Forschungsklima einzuschränken, das sie dazu anregt, Abstriche zu machen, um akademischen Erfolg zu erzielen", erläutert die Studie mögliche Auswege aus dem ethischen Dilemma.
cva