Modell des afrikanischen Kontinents in einem Schraubstock
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Internationale Beziehungen
Afrika zwischen Abhängigkeit und Agency

Die afrikanischen Staaten sind mit wenigen Ausnahmen seit über 50 Jahren unabhängig. Dennoch setzten sich Außeneinflüsse fort. Wo steht der Kontinent?

Von Matthias Basedau 03.03.2023

Afrikas Geschichte ist auch eine Geschichte der externen Einflüsse und Außenabhängigkeiten. Nach Jahrhunderten des Kolonialismus und des Sklavenhandels sind die heute 49 Staaten des subsaharischen Afrika mit wenigen Ausnahmen seit über 50 Jahren unabhängige Staaten. Dennoch setzten sich nach der Unabhängigkeit die Außeneinflüsse fort. Westliche Staaten wie Frankreich behielten Einflusszonen und stellen sicher, dass Paris wohlgesonnene Regierungen an der Macht blieben. Zahlreiche Potentaten konnten sich westlicher Unterstützung sicher sein, wenn sie wertvolle Rohstoffe lieferten und sich nicht dem sozialistischen Lager anschlossen, das seinerseits wohlmeinende Regierungen sowie Rebellen- und Befreiungsbewegungen unterstützte. Der Westen versuchte mit sogenannter Entwicklungszusammenarbeit (EZ) Einfluss auszuüben und gleichzeitig die Entwicklung der Region voranzutreiben. Die Jahrzehnte nach der formalen Unabhängigkeit bis 1990 waren aber von ausbleibender Entwicklung, Autoritarismus, Kriegen und Militärputschen geprägt.

Wachsender Einfluss nicht-westlicher Staaten in Afrika

Mit dem Ende des Kalten Krieges wuchs zunächst der Einfluss der westlichen Länder. Fast flächendeckend wurden Mehrparteiensysteme eingeführt, auch wenn die Mehrzahl der Staaten im Graubereich zwischen Demokratie und Diktatur stecken blieb. Spätestens ab der Jahrtausendwende traten jedoch immer mehr nicht-westliche Akteure auf den Plan. Insbesondere China baute seinen wirtschaftlichen Einfluss massiv aus und ist seit einigen Jahren der größte Handelspartner Afrikas. Russland ist als Nachfolger der Sowjetunion inzwischen auf den Kontinent zurückgekehrt. Weniger von der Öffentlichkeit beachtet ist der wachsende Einfluss zahlreicher Staaten aus dem Mittleren und Nahen Osten. Ähnlich wie China und Russland betreibt die Türkei eine Großmachtpolitik, die sich auch in Afrika niederschlägt. Staaten aus dem Persischen Golf wie Katar und Saudi-Arabien sind ebenfalls aktiv. Kritiker führen den Anstieg dschihadistischer Gewalt (vor allem im Sahel und am Horn von Afrika) auch auf die Missionstätigkeit aus diesen Ländern zurück. Indien und Brasilien unterhalten nicht zuletzt im Zusammenhang mit indischen und afrikanischen Diasporas enge Beziehungen mit einigen Ländern. Kleinere Staaten wie Israel oder Taiwan betreiben Spezialpolitiken. Israel hat Beziehungen im Diamantenhandel und im Sicherheitsbereich. Beide Staaten sind bestrebt, in Afrika Verbündete zu gewinnen, um ihrer weltweiten bzw. regionalen Isolation entgegenzuwirken.

"Ab der Jahrtausendwende traten immer mehr nicht-westliche Akteure auf den Plan."

Beobachter nehmen an, dass die Diversifizierung externer Einflüsse fortschreiten und der Einfluss westlicher Staaten weiter zurückgehen wird. Einen Aufmerksamkeitsschub hat dieser Trend durch die Invasion der Russischen Föderation in der Ukraine am 24. Februar 2022 erhalten. Wie das Abstimmungsverhalten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen zeigte, waren viele afrikanische Regierungen zögerlich, Russlands Aggression zu verurteilen. Etwa die Hälfte der Länder Afrikas enthielten sich oder blieben den Abstimmungen der insgesamt fünf Resolutionen gegen Russland fern. Eritrea stimmte gegen die meisten dieser Resolutionen. Der Befund mag überraschen. Afrika war selbst Opfer von Imperialismus und sollte besonders sensibel für die imperialistische russische Ukrainepolitik sein. Tatsächlich werden aber auch afrikanische Regierungen von realpolitischen Motiven geleitet. Die meisten auf Neutralität bedachten Regierungen unterhalten teils enge wirtschaftliche Beziehungen mit Russland oder anderen Staaten wie besonders China, das sich ebenfalls enthielt. Im militärischen Bereich ist Russland bereits seit Jahren der größte Exporteur militärischer Güter, deutlich vor den USA und Frankreich.

Jene Staaten, welche die militärische Hilfe der berüchtigten russischen Gruppe Wagner (eine "Söldnergruppe", die für ihr brutales Vorgehen bekannt ist)  in Anspruch nahmen, enthielten sich durchweg. Dazu gehört Mali, das in eine schwere diplomatische Auseinandersetzung mit Frankreich geriet, das zuvor die militärische Intervention im Kampf gegen dschihadistische Gewalt geführt hatte. Insbesondere in den ehemaligen französischen Kolonien greift eine antifranzösische Stimmung um sich. Eine generell antiwestliche Stimmung erklärt wenigstens zum Teil das Verhalten der Regierungen in Südafrika, Namibia, Tansania oder Simbabwe, in denen ehemalige Befreiungsbewegungen an der Macht sind. Diese erinnern sich daran, dass Russland und nicht westliche Staaten ihren Befreiungskampf gegen Apartheid und Kolonialismus unterstützten – der Westen unterstützte vor allem ihre Gegner. Noch heute unterhalten diese Länder enge militärische Beziehungen, wie sich erst jüngst bei einer gemeinsamen Übung der russischen und südafrikanischen Marine zeigte.

Der lange Schatten des Kolonialismus

Die weit verbreiteten antiwestlichen Ressentiments sind auch eine Langzeitfolge des Kolonialismus. In der Tat lassen sich viele negative Phänomene des postkolonialen Afrikas auf externe Einflüsse zurückführen. So haben die europäischen Grenzziehungen der Berliner Afrikakonferenz von 1884/85 und der Dekolonisation künstliche Staaten hinterlassen, die ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl erst – oft vergeblich – schaffen mussten. Im Rahmen von Kolonialpraktiken des "Teile und Herrsche" wurden ethnische Gruppen teils bevorzugt oder gegeneinander ausgespielt. Eurozentristische Vorstellungen von Ethnizität schufen bzw. verschärften Identitätsunterschiede. Die Ausbeutung von Rohstoffen führte zu Außenabhängigkeiten. Abhängigkeit von Rohstoffexporten kennzeichnet zahlreiche afrikanische Volkswirtschaften und führt zu vielen Nachteilen bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Handel mit wertvollen und strategischen Rohstoffen führte nach der Unabhängigkeit zur Unterstützung von Regierungen, die der Entwicklung der Länder wenig dienlich waren.

Auch der psychologische Effekt des Kolonialismus sollte nicht unterschätzt werden. Kolonialismus bedeutete nicht nur eine ethisch verwerfliche Fremdherrschaft, sondern auch eine Demütigung. Dieser Umstand wirkt in den europäisch-afrikanischen Beziehungen bis heute fort, etwa im Feld der EZ. Nach wie vor gibt es ein den kolonialen Verhältnissen nicht unähnliches Gefälle zwischen "Gebern" und "Empfängern". Der Nachweis für die umfassende und nachhaltige Wirksamkeit der EZ fehlt. Nicht selten erscheint sie von Expertengremien aufgezwungen, begünstigt Korruption und missachtet oder entmutigt Eigeninitiative.

Afrika ist mehr als ein Spielball externer Akteure

Es wäre jedoch falsch, alle Fehlentwicklungen in Afrika auf Kolonialismus, Sklaverei und neokolonialistische Machenschaften zurückzuführen. Die Staaten Afrikas haben sich nach ihrer Unabhängigkeit sehr unterschiedlich entwickelt. So war Äthiopien – abgesehen von fünf Jahren italienischer Besetzung – niemals kolonialisiert, teilt aber die meisten Probleme anderer Staaten. Wenig von der Öffentlichkeit beachtet hat sich zudem seit dem Ende des Kalten Krieges in Afrika vieles verbessert. Das Durchschnittseinkommen hat sich verdoppelt und die Kindersterblichkeit halbiert. Im Vergleich zur Nachbarregion Nahost steht Afrika politisch sehr viel vorteilhafter da – die große Mehrzahl der Länder praktiziert Mehrparteienwahlen. Zudem sollte die Verantwortung afrikanischer Regierungen nicht generell negiert werden. Zahlreiche Beispiele belegen, dass der Mangel an guter Regierungsführung und fragwürdige Politikexperimente viele postkoloniale Probleme mindestens mitbegünstigt hat – und verantwortungsvolle Politik wie in Botswana, Ghana oder auf den Kapverden zu nachhaltigen Erfolgen führte. Afrikanerinnen und Afrikanern jegliche eigene Handlungsfähigkeit abzusprechen wäre überdies eine Fortsetzung paternalistischen Denkens, das bereits für den Kolonialismus typisch war.

Afrika den Afrikanern!

Wie so häufig liegt die Wahrheit jenseits einfacher Erklärungen. Zweifellos gibt es negative Außeneinflüsse auch nach dem Ende des Kolonialismus, der selbst zahlreiche Fehlentwicklungen begünstigte. Daneben waren und sind Afrikaner aber keine hilflosen Objekte auswärtiger Mächte. Die gegenwärtige Diversifizierung externer Akteure erhöht zudem die Agency afrikanischer Akteure. Diese steigende Handlungsfähigkeit begünstigt eben jene "Augenhöhe", die in feierlichen Reden oft beschworen wird. Der Politik sei geraten, afrikanischen Regierungen und Angehörigen der Zivilgesellschaft mit Respekt zu begegnen und eine paternalistische Haltung abzulegen, welche die Rettung Afrikas immer noch als eine "mission civilisatrice" betrachtet. Letztlich wird sich Afrikas Entwicklung am Handeln von Afrikanerinnen und Afrikanern entscheiden. Der Westen bleibt aufgerufen, die eigenen Einflussmöglichkeiten realistisch einzuschätzen und auf Politiken zu verzichten, die Probleme eher verstetigen als sie zu beseitigen. Dies gilt vor allem für die Unterstützung von Regierungen, die ihren Ländern schaden, aber aus geopolitischen Gründen für den Westen nützlich sind. Angesichts sich wahrscheinlich verschärfender weltpolitischer Rivalitäten liegt darin eine große Gefahr für Afrika.

"Die gegenwärtige Diversifizierung externer Akteure erhöht die Agency afrikanischer Akteure."

Die Wissenschaft bleibt aufgerufen, Forschungslücken zu schließen. So ist die Frage, in welchem Maße der Kolonialismus Afrikas Gegenwart bestimmt, noch immer eher eine Glaubens- als eine Wissensfrage. Gleiches gilt für die Frage, in welchem Maße externe oder interne Faktoren die Entwicklung Afrikas beeinflussen. Die Afrikawissenschaften haben sich vermehrt Mikrothemen zugewandt und empirische Makrostudien vernachlässigt. Wir sollten Afrika angesichts zahlreicher positiver Entwicklungen zudem nicht nur als Ort von Katastrophen betrachten. Erfolgreiche Beispiele eröffnen einen besonderen Erkenntnisgewinn, der sich möglicherweise unmittelbar anwenden lässt. Damit verbunden sind dezidiert vergleichende Perspektiven vielversprechend. Dies betrifft den Vergleich innerhalb von Afrika und den Vergleich von Afrika mit anderen Regionen. Und nicht zuletzt: Es gilt, Afrika nicht nur von außen zu betrachten, sondern verstärkt mit afrikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu kooperieren.