Illustration einer Person mit einem Luftballon als Kopf unter einem Regenschirm, die sich vor fliegenden Pfeilen schützt
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Geistige Autonomie
Denkt die Person oder das Gehirn?

Denken ist komplexer als gedacht. Was genau passiert, wenn wir denken? Wie sehr haben wir überhaupt die Kontrolle über unsere Gedanken?

Von Thomas Metzinger 03.05.2022

Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Bug eines Segelboots und beobachten eine Schule von Delfinen, die spielerisch Ihre Fahrt begleiten und dabei links und rechts in hohem Bogen aus dem Wasser springen. Delfine sparen durch solche Sprünge Energie, denn in der Luft gibt es weniger Reibung als im Wasser darunter – es ist eine effiziente Methode, sich schnell zu bewegen und gleichzeitig zu atmen. In der Regel wechseln die Tiere lange, ballistische Sprünge mit Unterwasserschwimmmanövern ab, die etwa doppelt so lang sind wie der Sprung selbst – eine spektakuläre Art der Fortbewegung, die von Fachleuten manchmal auch als "porpoising" oder "Tauch­stam­pfen" bezeichnet wird.

Geistige Akrobatik

Die spielerische und gleichzeitig effektive Akrobatik der Zahnwale ist eine fruchtbare Metapher für das, was passiert, wenn wir denken. Was die meisten von uns immer noch als "unsere eigenen bewussten Gedanken" bezeichnen, sind in Wirklichkeit eher so etwas wie kognitive Delfine in unserem Kopf, die für kurze Zeit aus dem Ozean unseres Unterbewusstseins auftauchen, bevor sie wieder abtauchen. Die Zeitfenster, in denen sich diese Sprünge ins Bewusstsein entfalten, sind unterschiedlich groß. Ähnlich wie Delfine die Wasseroberfläche durchbrechen, überschreiten Gedanken oft die Grenze zwischen bewusster und unbewusster Informationsverarbeitung, und zwar in beide Richtungen. Manchmal sind einzelne Delfine so nah an der Oberfläche, dass sie halb im Wasser und halb außerhalb des Wassers sind. Meditierende können sogar lernen, Gedanken zu erkennen, kurz bevor sie springen. Sie zeigen sich dann als subtile, halbbewusste geistige Muster, die – wenn wir sie nicht als solche erkennen und das Gehirn sie automatisch im Selbstmodell einbettet – kurz davor sind, sich als ausgewachsene Gedanken und Gefühle zu manifestieren, die wir dann als unsere "eigenen" Gedanken und Gefühle erleben.

Die kognitive Verarbeitung im Gehirn verläuft parallel auf vielen Ebenen und natürlich existiert mehr als ein Delfin: Es gibt einen ständigen Wettlauf zwischen unseren Gedanken, einen inneren Wettbewerb um den Fokus der Aufmerksamkeit und darum, welcher Delfin-Gedanke schließlich die Kontrolle über unser Verhalten übernimmt. Aber wer ist dann die Denkerin oder der Denker? Gibt es wirklich einen kognitiven Agenten im System, ein geistiges Handlungssubjekt – oder sind "Sie selbst" am Bug des Segelschiffs eigentlich nur eine Kontrollillusion, mit dem das System versucht, einen lästigen Vorhersagefehler wegzuerklären, nämlich die ständige Überraschung durch aus dem Nichts auftauchende Gedanken?

"Mereologischer ­Fehlschluss" der Neurowissenschaften

Wer es ernst meint mit kritischer Rationalität, moralischer Subjektivität und dem politischen Erbe der Aufklärung, der muss neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den menschlichen Geist so ernst nehmen wie irgend möglich. Ich habe das als Philosoph während der letzten vier Jahrzehnte zu tun versucht – und das Ergebnis war oft ernüchternd. Viele meiner Kollegen und ich selbst haben im Dialog mit den Neurowissenschaften immer und immer wieder den "mereologischen Fehlschluss" erklärt: Man darf nicht Eigenschaften des Ganzen auf Eigenschaften von Teilen übertragen, Eigenschaften von Personen in Eigenschaften von Teilen des biologischen Gehirns verwandeln. Zellverbände oder Neuronen im visuellen Cortex "sehen" keine Stimuli, Personen sehen; das Gehirn denkt nicht, Personen denken.

Meine persönliche Erfahrung ist, dass Hirnforscher die ganze Sache mit der modernen Philosophie des Geistes sehr interessant finden, den begrifflichen Punkt auch sofort verstehen – und dann "nur im Labor" und aus Gründen der "kognitiven Ergonomie" einfach immer weiter so reden, wie ihnen der Schnabel eben gewachsen ist. Aber vielleicht haben die Neurowissenschaftler ja in Wirklichkeit Recht? Vielleicht ist es ja meistens tatsächlich das Gehirn das denkt, und nicht die Person als Ganze?

Autonomes Denken oder "mentales Schlafwandeln"?

Eine von vielen empirischen Tatsachen, die in den Geisteswissenschaften noch nicht angekommen sind, ist die Entdeckung, dass wir je nach Studie während unseres Wachlebens bis zu 50 Prozent keine Kontrolle über unsere Gedanken haben. Die Stichworte heißen hier "spontaneous task-unrelated thought" und "mind wandering". Eines der interessantesten aktuellen Forschungsgebiete in den Neurowissenschaften und der experimentellen Psychologie ist der anscheinend ziellos umherschweifende Geist, das Tagträumen, die ungebetenen Erinnerungen und das automatische Planen. Dabei geht es um das, was ich selbst "mentales Schlafwandeln" nenne, also das permanente Auftreten anscheinend spontaner, aufgabenunabhängiger Gedanken, der sich täglich hundertfach wiederholende Verlust der Aufmerksamkeitskontrolle.

"Stabile kognitive Kontrolle ist die Ausnahme, während ihr Fehlen die Regel ist."

Die empirischen Ergebnisse haben nicht nur große Bedeutung für Politik, Bildung und Moral. Betrachtet man sie näher, so kommt man zu einem überraschenden Ergebnis von tiefgreifender philosophischer Bedeutung: Stabile kognitive Kontrolle ist die Ausnahme, während ihr Fehlen die Regel ist. Das autonome "Selbst" als Initiator oder Ursache unserer kognitiven Handlungen ist ein weit verbreiteter Mythos, denn wenn man den Traumzustand hinzunimmt, dann besitzen Wesen wie wir geistige Autonomie nur für etwa ein Drittel unserer bewussten Lebenszeit. Die meiste Zeit denken wir ohne überhaupt zu merken, dass wir gerade denken, denn was wir alltagssprachlich "Denken" nennen, ist im Normalfall eher eine unabsichtliche Form von innerem Verhalten. Ein Marker für mentale Autonomie ist "Veto-Kontrolle", die Fähigkeit, dieses Verhalten jederzeit stoppen zu können. Rationalität ohne Veto-Kontrolle gibt es nicht. Um innezuhalten, um einen inneren Monolog oder den ziellos wandernden Fokus der Aufmerksamkeit aber überhaupt stoppen zu können, müsste der Schlafwandler aufwachen, sich des eigenen inneren Verhaltens zunächst einmal bewusst werden. Das Interessante am mentalen Schlafwandler ist aber, dass er nicht weiß, dass diese Möglichkeit überhaupt existiert.

Soziokultureller Kontext der Gedanken

Im Grunde ist dies ein würdeloser Zustand. Er schränkt unsere Kritikfähigkeit, unsere politische Vernunft und die Fähigkeit zum ethischen Handeln stark ein, das klassische Ideal der "Aufklärung" gewinnt angesichts der neuen Forschungsergebnisse eine ganz neue Bedeutung. Es ist aber wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Neuro- und Kognitionswissenschaften nicht der einzige Teil des Puzzles sind. Auch die Kultur spielt eine Rolle. Der soziokulturelle Kontext prägt die Art und Weise, wie wir über unsere eigenen inneren Erfahrungen berichten, die letztendlich aus ungenauen, aber funktional erfolgreichen Weltmodellen in unserem Bewusstsein bestehen. Wenn wir Kindern schon früh sagen, dass sie für ihr eigenes Handeln voll verantwortlich sind, und wenn wir sie entsprechend bestrafen und belohnen, dann wird diese Annahme in ihr bewusstes Selbstmodell eingebaut. Ihr Gehirn wird nun automatisch "vorhersagen", dass sie autonome Personen sind, die für Taten verantwortlich gemacht werden, ihre innere Lebenserzählung wird sagen: "Das war schon immer so", seit Anbeginn der autobiografischen Erinnerungszeit. Das bewusste Selbstmodell des erwachsenen Menschen könnte daher zumindest teilweise eine aus dem soziokulturellen Kontext importierte post-hoc-Konfabulation sein – eine Kontrollillusion, die letztlich auch darauf beruht, wie wir soziale Interaktionen und eingefahrene Sprachspiele verinnerlicht haben. All dies gilt auch für innere Handlungen, für die Fiktion eines unsichtbaren "epistemischen Agenten" in uns, der Entität, die nicht nur autonom ist, sondern immer schon weiß, dass sie weiß. Die Touristin am Bug unseres Schiffes beginnt, sich als allmächtige Zauberin zu erleben, die Delfine aus dem Nichts auftauchen und auf ihr Kommando hin springen lässt und scheitert dann unerklärlicherweise viel zu oft an der Wirklichkeit.

Einschränkende Faktoren für mentale Autonomie

Wer kritische Rationalität will, muss geistige Autonomie wollen. Wenn uns die Forschung zunehmend mehr darüber sagt, was die einschränkenden Faktoren für mentale Autonomie wirklich sind, dann muss sich dies auch in der akademischen Lehre widerspiegeln. Rationalität kann man genauso trainieren wie innere Bewusstheit. An manchen Orten hat der Transfer von der Forschung in die Lehre bereits begonnen: Es gibt seit Langem philosophische Angebote zur Argumentationstheorie, viele Universitäten machen nun säkularen Meditationsunterricht und systematische Programme für die Entwicklung kritischer Medienkompetenz zum festen Teil ihres Profils. In gesellschaftlichen und politischen Krisensituationen und im Kontext sich beschleunigender globaler Transformationsprozesse ist dieser Transfer ein entscheidender Beitrag zum Gemeinwohl, denn er erhöht die demokratische Resilienz und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzer.

Denken – Schwerpunkt in Forschung & Lehre 5/22

Das Denken ist auch heute noch eines der großen Geheimnisse, das Gehirn das rätselhafteste Organ des Menschen. Wer denkt, wenn der Mensch denkt? Wie funktioniert denken? Wie denken Künstliche Intelligenzen? Wann und wo kommen uns die besten Gedanken?

Diesen und weiteren Fragen nähert sich die Mai-Ausgabe von Forschung & Lehre.

Forschung & Lehre 5/22 – jetzt lesen!