Artenschwund
Der Verlust der Biodiversität und was wir tun können
Im Mai 2019 wurde der erste globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigen die dramatischen Ausmaße der Biodiversitätsverlusts. Bereits eine der geschätzt acht Millionen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten auf der Erde sind vom Aussterben bedroht. Die heutigen Aussterberaten liegen mindestens zehn Mal höher als in den letzten zehn Millionen Jahren und beschleunigen sich noch. Wir befinden uns damit am Beginn des sechsten großen Massenaussterbens der Erdgeschichte. Für Deutschland und Mitteleuropa wird in einer 2020 veröffentlichten Stellungnahme der Leopoldina zu "Biodiversität und Management von Agrarlandschaften" festgestellt, dass vor allem die Arten der Agrarlandschaft, das heißt Äcker, Wiesen und Weiden, zurückgehen. In der Europäischen Union sind zum Beispieö die Anzahl typischer Vögel der Agrarlandschaft seit 1990 um ein Drittel gesunken. Die Biomasse an Fluginsekten hat in geschützten Gebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg zwischen 1989 und 2016 um 76 Prozent abgenommen. Dieser Verlust der Biodiversität hat existentielle Folgen für das Wohlergehen der Menschen. So unterminiert der Verlust der Biodiversität das Erreichen fast aller Nachhaltigkeitsziele, insbesondere: keine Armut, kein Hunger, Gesundheit und Wohlergehen, sauberes Wasser, nachhaltige Städte, Klimaschutz und Leben unter Wasser und an Land.
"Das Monitoring der Artenvielfalt ist selbst in Deutschland bisher rudimentär."
Doch was ist Biodiversität überhaupt? Nach der Definition des Übereinkommens über die biologische Vielfalt ist Biodiversität die Vielfalt des Lebens auf unserer Erde, die sich aus der Vielfalt der Arten, der genetischen Vielfalt innerhalb der Arten sowie der Vielfalt der Lebensräume zusammensetzt. Für das Monitoring der biologischen Vielfalt wird meist die Artenvielfalt adressiert. Die Artenvielfalt besteht aus zwei Komponenten, der Artenzahl, zum Beispiel der Zahl der Baumarten in einem Wald, und der relativen Häufigkeit der Arten, das heißt ob alle Arten einer Lebensgemeinschaft ähnlich häufig sind (zum Beispiel in einem artenreichen Mischwald) oder ob einige wenige Arten dominieren (wie etwa in einer Monokultur). Doch das Monitoring der Artenvielfalt ist selbst in Deutschland bisher rudimentär. Dies liegt daran, dass für viele Organismengruppen (zum Beispiel Bodenorganismen) nur ein Bruchteil der Arten bekannt und wissenschaftlich beschrieben ist. Zum anderen ist das Monitoring der Arten eine methodische Herausforderung und sehr aufwändig. Deshalb gibt es selbst in Deutschland nur für ganz wenige Artengruppen kontinuierliche und flächendeckende Daten über Häufigkeitsentwicklungen – im Wesentlichen Vögel und Schmetterlinge und dank des Engagements von Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftlern.
Der Mensch ist auf biologische Vielfalt angewiesen
Aber warum ist Biodiversität für das Wohlergehen der Menschen wichtig? Der allergrößte Teil der Güter, die wir Menschen benötigen, die Luft, die wir atmen, unsere Nahrung und sauberes Trinkwasser, fossile Energiequellen und die meisten Baustoffe, sind Produkte der Natur. Auch in der modernen Medizin stammt der weitaus größte Anteil unserer Antibiotika aus der Natur. Die Biodiversität ist ebenfalls für funktionierende Ökosysteme von zentraler Bedeutung, für die Bestäubung und Samenausbreitung, die Regulation der Luftqualität, die Chemie der Ozeane und die Verfügbarkeit von Süßwasser, die Bodenbildung, für den Schutz vor Extremereignissen und für die Kontrolle von Krankheiten. Weiter ist die biologische Vielfalt für unsere psychische Gesundheit, Spiritualität und Identität wichtig. So zeigt eine neue Studie, dass für die Zufriedenheit von über 38.000 befragten Europäern die Vielfalt der Vogelarten in der Umgebung genauso wichtig ist wie das Einkommen. Eine Erhöhung der Vogelvielfalt um zehn Prozent erhöht die Zufriedenheit der Menschen genauso wie eine Erhöhung des Einkommens um zehn Prozent. Und biodiverse Artengemeinschaften sind letztlich robuster gegenüber Störungen und liefern stabilere Leistungen auch für die Menschen; so wurden zum Beispiel artenreiche Mischwälder durch die letzten Dürresommer weniger geschädigt als Monokulturen.
Nutzung und Ausbeutung der Natur
Die Ursachen für den Rückgang der Biodiversität sind im Allgemeinen gut bekannt. Der IPBES-Bericht identifiziert als wesentliche direkte Ursachen Änderungen der Land- und Meeresnutzung – das betrifft in den Tropen und Subtropen derzeit insbesondere die Abholzung der Wälder – sowie in Mitteleuropa die intensive landwirtschaftliche Nutzung. So wurde der Verlust der Biodiversität in der deutschen Agrarlandschaft in der erwähnten Leopoldina-Stellungnahme durch eine einseitige Ausrichtung der landwirtschaftlichen Nutzung hin zu einer Steigerung der Produktivität identifiziert. Dies ist verbunden mit dem Verlust von Wiesen und Weiden, von Baumreihen, Hecken, Randstreifen und Brachen zu Gunsten intensiv genutzter artenarmer Äcker und Stallhaltung. Der zweitwichtigste Faktor für den Verlust der Biodiversität ist auf globaler Ebene die Ausbeutung von Arten. Im marinen Bereich geschieht dies insbesondere durch Fischfang, und an Land spielt die Jagd nach Buschwild oder die Nutzung von tropischen Hölzern eine wesentliche Rolle. Der Klimawandel spielt für den Verlust der biologischen Vielfalt bisher zwar eine nachgeordnete Rolle. Es ist jedoch davon auszugehen, dass seine Bedeutung in Zukunft stark zunahmen wird. Weitere Rollen spielen die Umweltverschmutzung, vor allem im Süßwasser, sowie die Ausbreitung exotischer (invasiver) Arten.
"Würden alle Menschen auf der Erde so leben wie die Deutschen, so würden wir drei Erden für die Deckung unseres Lebensstandards benötigen."
Hinter diesen direkten Ursachen stehen jedoch als tiefe Ursachen indirekte Treiber, insbesondere der Anstieg der menschlichen Bevölkerung und in noch größerem Maße die Zunahme der Ressourcennutzung des Einzelnen. In einer vereinfachten, auf den Kohlenstoffkreislauf reduzierten Berechnung lässt sich dieser Effekt mit dem ökologischen Fußabdruck abschätzen. So hat der ökologische Fußabdruck einer durchschnittlichen Person in Deutschland den Wert drei, d.h. würden alle Menschen auf der Erde so leben wie die Deutschen, so würden wir drei Erden für die Deckung unseres Lebensstandards benötigen. Der Wert für die USA ist fünf, der Wert für Indien 0,7. Wichtige andere indirekte Treiber sind ökonomische und technische Entwicklungen, Änderungen in Institutionen und Governance sowie Konflikte und Epidemien.
Welche Handlungsoptionen gibt es?
Der Blick auf die indirekten Treiber ist besonders wichtig, zeigt er doch eine Vielfalt möglicher Handlungsoptionen auf, um den Rückgang der Biodiversität aufzuhalten und wieder zu fördern. Auch hier eröffnet der Bericht des Weltbiodiversitätsrats von 2019 einen richtungsweisenden Rahmen. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass eine Teillösung, die die Verantwortung einem einzelnen gesellschaftlichen Sektor, zum Beispiel "der Politik", zuweist, nicht ausreicht. Notwendig ist eine grundlegende Transformation der Gesellschaft hin zu Nachhaltigkeit in vielen, wenn nicht allen Aspekten. Hierfür bedarf es einer fundamentalen, systemweiten sozial-ökologischen Reorganisation von Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft, aber auch der Wissenschaft. Gefordert sind kluge Mischungen lokal angepasster politischer Strategien, die evidenz-basiert, sektoren-übergreifend, inklusiv und partizipativ sind, und adaptiv nachjustiert werden.
Was bedeutet dies konkret? Auf globaler Ebene sind zentral für Schutz und Förderung der Biodiversität nach wie vor Schutzgebiete. Hier muss das Ziel sein, bis zum Jahr 2030 30 Prozent der Land- und Meeresfläche effektiv zu schützen. Bisher ist ein Problem, dass viele Schutzgebiete de facto gar nicht nachhaltig geschützt sind. Einen innovativen Ansatz bietet hier der "Legacy Landscapes"-Ansatz, mit dem die größten, biodiversesten und bisher am wenigsten vom Menschen beeinflussten "Archen der Natur" für die nächsten Jahrhunderte und Jahrtausende geschützt werden können. Durch eine evidenz-basierte Auswahl der weltweit bestgeeigneten Flächen wird über eine Fondlösung und eine strategische Zusammenarbeit von Regierungs- und Nichtregierungs-Organisationen eine neue Form der nachhaltigen Finanzierung und der Governance etabliert, die einen langfristigen Schutz verspricht.
Eine zweite, zentrale Rolle kommt der Renaturierung zu. Das 2020 veröffentlichte Hauptgutachten des WBGU zur "Landwende im Anthropozän" schlägt hierzu vor, dass im Rahmen der Bonn Challenge gesteckte Ziel der Renaturierung von 350 Millionen Hektar degradierter Landfläche bis 2030 deutlich zu erweitern. Im Vordergrund steht die Wiederherstellung biodiverser und standortgerechter Wälder, Feuchtgebiete und Graslandschaften.
Umdenken in Landwirtschaft und Konsumverhalten
Im Bezug auf die Biodiversität in der Agrarlandschaft stellt die Leopoldina-Stellungnahme klar, dass der Rückgang nur durch einen gesamtgesellschaftlichen Wandel erreicht werden kann. In der Landwirtschaft wird eine Ökologisierung benötigt, die von Ökolandbau bis zur Ökologisierung des konventionellen Landbaus reicht und unter anderem extensive Weidehaltung oder biologische Schädlingsbekämpfung und strukturreiche Landschaften fördert. Der zentrale Hebel, durch den das wirtschaftliche Auskommen der landwirtschaftlichen Betriebe gesichert werden kann, ist die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union (GAP). In Zukunft sollten die Subventionszahlungen an die Landwirtschaft von jährlich rund 6,2 Milliarden Euro (in Deutschland) an die tatsächlich erbrachten und messbaren Gemeinwohlleistungen der Betriebe auch für Biodiversität und Umwelt statt an die Bewirtschaftungsfläche geknüpft werden. Dies kann auch auf nationaler und Bundesland-Ebene umgesetzt werden. Bei der Umsetzung kommt der Zusammenarbeit aller Akteurinnen und Akteure auf Landschaftsebene – von landwirtschaftlichen Betrieben über die Kommunalpolitik bis hin zu Naturschutzorganisationen – eine zentrale Rolle zu.
Doch auch alle weiteren gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure müssen einbezogen und überzeugt werden. In der Wissenschaft bedarf es einer Verstärkung der anwendungsorientierten inter- und transdisziplinären Forschung unter anderem mit dem Ziel, neben biodiversitätsfreundlichen Anbaumethoden auch die Technologieentwicklung voranzutreiben. Robotik und Digitalisierung in Landwirtschaft und Vermarktung haben ein großes Potenzial für den Biodiversitätsschutz. Daneben kommt der Züchtung robuster, krankheitsresistenter, und im Hinblick auf den Klimawandel dürretoleranter Sorten eine zentrale Bedeutung zu. Im Handel ist eine Kennzeichnung und gutes Marketing biodiversitätsfreundlich-erzeugter Lebensmittel sowie die Förderung der regionalen Weiterverarbeitung und Vermarktung von großer Bedeutung. Eine besondere Rolle spielt die Zivilgesellschaft als Konsumentinnen und Konsumenten sowie Wählerinnen und Wähler; hier bedarf es einer Sensibilisierung für die Werte der Biodiversität unter anderem mit dem Ziel, Kauf- und Konsumentscheidungen zu verändern. Eine nachhaltige Veränderung der Landwirtschaft benötigt Konsumentinnen und Konsumenten, die bereit sind, biodivers erzeugte Lebensmittel zu kaufen, weniger Fleisch zu essen und weniger Lebensmittel zu verschwenden.
Eine Umkehr ist möglich
Was zunächst wie eine lange Auflistung verschiedener Maßnahmen wirkt, könnte im Zusammenwirken der Schlüssel für die Förderung der Biodiversität sein. Eine im Oktober 2020 veröffentlichte globale Modellierungs-Studie in der Zeitschrift Nature zeigt, dass die sofortige Umsetzung eines Portfolios von Maßnahmen, bestehend aus mehr Schutzgebieten, Renaturierung, nachhaltiger Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion in Regionen, die derzeit unter ihren Möglichkeiten liegen, sowie Änderungen in Ernährungsstilen und Reduzierung der Lebensmittelverschwendung bereits im Jahr 2050 wieder zur Erhöhung der Artenvielfalt führen könnte. Diese ist nur eine von vielen Studien, die derartige integrierte politische Strategien vorschlagen. Diese Arbeiten zeigen, dass durch sofortiges, informiertes, systemweites und gemeinsames Handeln sozial-ökologische Transformationen möglich sind und die Biodiversität für die nächsten Generationen erhalten und sogar wieder erhöht werden kann.