Foto von Windenergieanlagen auf einem Feld in Niedersachsen
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Klimawandel
Deutschland ist "fast follower" in der Energiewende

Zur Bewältigung des Klimawandels sind die Ingenieurwissenschaften besonders gefordert. Ein Gespräch über Deutschlands Position in der Energiewende.

Von Vera Müller 24.11.2020

Forschung & Lehre: Ist die Energiewende eine große Chance für Deutschland als dem "Land der Ingenieure"?

Detlef Stolten: Natürlich. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir im internationalen Wettbewerb nicht auf den hinteren Plätzen landen. In China wird die neue Energietechnik sehr stark vorangetrieben, das gilt für die Solartechnik, die Windenergie, für wasserstoff- und batteriebetriebene Fahrzeuge. Wir müssen die Chance ebenfalls ergreifen, wir haben gar keine andere Wahl. Wir Deutschen neigen dazu, die Energiewende ernst zu nehmen und als schwere Last auf unseren Schultern zu empfinden. In Asien existiert eine andere Haltung zur Energiewende, dort wird sie als Möglichkeit wahrgenommen, die es zu ergreifen gilt. Und natürlich hat China strukturell die industriellen Möglichkeiten. Deutschland gilt für China – auch in offiziellen Papieren – als ein Vorzeigeland, das heißt die Chinesen schauen genau nach Deutschland und kopieren die Strukturen. Einerseits ehrt uns das, andererseits macht es uns verletzlich, weil unser Alleinstellungsmerkmal angegriffen wird. China kann als aufstrebende Wirtschaft zudem Produkte auf den Markt bringen, die noch nicht so ausgereift sind, da die Anforderungen dort noch – zumindest in Berei­chen – niedriger sind. Amerika mussten wir vor diesem Hintergrund nicht so sehr fürchten, da deren Autos die Anforderungen des deutschen Marktes nicht so gut erfüllen. Die Amerikaner haben zwar den Software-Bereich weiterentwickelt, das hat uns aber nicht so angegriffen. Die Chinesen wiederum gehen in die Hard- und Software.

Portraitfoto von Prof. Dr. Detlef Stolten
Professor Detlef Stolten leitet das Institut für Elektrochemische Verfahrenstechnik (IEK-3) im Forschungszentrum Jülich und hat den Lehrstuhl für Brennstoffzellen an der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH Aachen inne. privat

F&L: Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 die Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent gegenüber dem Emissionsniveau von 1990 zu reduzieren. Wie weit sind wir vorangekommen?

Detlef Stolten: Wir haben einen zurückhaltenden Ausbau von erneuerbaren Energien von 38 Prozent im Netz. Im Brennstoffzellen-Bereich zum Beispiel gehört Deutschland nicht zu den großen Playern. Das gilt nicht nur im Vergleich mit China, sondern auch für Korea und Japan. Hyundai baut sehr gute Autos, bei Brennstoffzellen gehört nicht mehr Daimler, sondern Hyundai neben Toyota zu den besten. Im Windenergie-Bereich läuft es besser, aber auch dort gibt es durch den geringen Ausbau zur Zeit erhebliche Probleme, vielleicht droht der Branche ähnlich wie der Solarbranche das Aus. Trotz alledem: Das Argument "jetzt ist es schon zu spät" wäre fatal. Wir befinden uns nicht mehr ganz vorne, aber wir waren nie ganz vorne, auch nicht in der industriellen Revolution. Deutschland hat klassisch die Position eines "fast followers" eingenommen und steht heute trotzdem glänzend da. Ich würde mir wünschen, dass wir an zentralen Stellen mit dabei sind. Wir brauchen so etwas wie einen europäischen "Renewable-Energy-Airbus", ein großes Unternehmen oder eine Plattform, mit dem beziehungsweise mit der wir uns auf dem internationalen Parkett auch groß bewegen können. Eine Plattform ist aufgrund der sehr großen Diversität der Energietechnik sicher geeigneter als ein Unternehmen.

F&L: Welche Erklärung haben Sie dafür, dass wir nicht weiter (vorne) sind?

Detlef Stolten: Die Geschwindigkeit des Fortschritts, die Kosten und die systemischen Verbesserungen wurden unterschätzt. Ich erkenne das zum Beispiel an der Lern- beziehungsweise Kostenkurve. Mit solchen Kostenkurven zu arbeiten zählt heute zum Standard. In der Literatur sieht man, dass Wissenschaftler in ihren Prognosen für die Zukunft die Steigung der Kurve abgesenkt haben. Sie glaubten also nicht an den starken Fortschritt, den wir in den letzten Jahren erlebt haben. Das ist symptomatisch dafür, wie die technischen und ökonomischen Fortschritte – insbesondere die Kostensenkung – erneuerbarer Energie von den meisten Beteiligten der Gesellschaft unterschätzt wurden. Es ist aber auch zu erwähnen, dass die Politik die Ziele der Energietransformation in den letzten Jahren ambitioniert vorangetrieben hat.  

F&L: Wie steht es um die gesellschaftliche Akzeptanz und den Druck auf die Politik, die ambitionierten Ziele zu erreichen? Geht es um Umsetzen oder Durchsetzen?

Detlef Stolten: Das ist die Frage: Müssen wir das durchsetzen? Wenn wir es wirklich durchsetzen müssen, dann wage ich zu bezweifeln, dass es funktioniert. Wir brauchen eine andere Diskussionskultur, die die Bevölkerung stärker miteinbezieht und die Vorteile aufzeigt. Ich habe lange an der Schweizer Grenze gewohnt. In der Schweiz gibt es öffentliche und klare Prozesse, auch zu diesen Themen. Die Schweizer sind wesentlich langsamer als wir im Start. Wenn die Entscheidung dann aber gefallen ist, kann man nichts mehr dagegen unternehmen. Insgesamt führen diese Entscheidungsprozesse zu einem hohen Konsens. Das müssen wir auch lernen. Wir müssen die Menschen beteiligen, nicht nur anhören. Meines Erachtens müsste auch eine finanzielle Beteiligung der Bürger möglich sein.

F&L: Welcher Art zum Beispiel?

Detlef Stolten: Ich meine damit, dass kleine Beträge – wirklich kleine Beträge – risikoarm in erneuerbare Energien mit Gewinn angelegt werden können. Das auch kleine Beträge erfolgreich gehandhabt werden können, zeigen uns internationale Bezahldienste wie PayPal. Das sollte auf solche Anlagen übertragen werden. Bei gleichen Kosten der Stromerzeugung sind erneuerbare Energieanlagen auch etwa doppelt so kapitalintensiv wie Kohlekraftwerke, da ja keine Verbrauchskosten wie beispielsweise für Kohle anfallen. Wir müssen neue Wege gehen und einen Konsens schaffen.

F&L: Ihren Berechnungen zufolge ist der Strombedarf bei einer 95-Prozent-Treibhausgasreduktion 2050 fast doppelt so hoch wie heute. Lässt sich dieser Strom komplett aus erneuerbarer Energie erzeugen?

Detlef Stolten: Die erneuerbaren Energien basieren in Deutschland auf Windenergie, Biomasse und Photovoltaik. Das sind die wesentlichen Treiber auf der Primärenergieseite. In unserem Szenario sind auch etwa 200 TWh importierter Energie in Form von Wasserstoff enthalten, die in anderen Ländern über Elektrolyse von Solar- oder Windstrom erzeugt wurden. Die erforderlichen etwa 1.000 TWh Strom lassen sich in Deutschland produzieren. Die Speicherkapazitäten für den Wasserstoff in Deutschland sind groß genug, da wir dafür Salzkavernen nutzen können und Salzkavernen bereits heute umfänglich zur Erdgasspeicherung genutzt werden. Auch die Speicherkapazitäten in Deutschland sind weiter ausbaubar,  gerade in der Nordsee. Wenn wir aber an große Offshore-Windparks denken, dann ist es durchaus möglich und in meinen Augen hochattraktiv, die darunter befindlichen Salzstöcke zu nutzen und dort Salzkavernen zu bauen.

"Wir müssen die großen Umwälzungen beginnen und Detailtoleranz zeigen."

F&L: Gilt es nicht, im Zuge des Umbaus der Energiewirtschaft Energieimporte und damit Abhängigkeiten zu reduzieren?

Detlef Stolten: Wir haben jetzt die Chance, unsere Energiepolitik strategisch neu auszurichten und auch Abhängigkeiten zu reduzieren. In großen Teilen wird das auch getan. Besorgniserregend finde ich, dass angenommen wird, dass wir die Energie importieren müssen. Unsere Berechnungen haben gezeigt, dass 2050 1.000 TWh Strom in Deutschland erzeugt werden können und nur etwa ein Drittel der nach den jetzigen physischen Bedingungen und rechtlichen Vorgaben möglichen Standorte genutzt werden. Das sollte soweit vom maximalen Ausbau entfernt sein, dass es sich auch umsetzen lassen sollte. Heute importieren wir den überwiegenden Teil der fossilen Energie. Deswegen tut es den Beteiligten so wenig weh, auch zukünftig auf Importe zu setzen. Wenn wir zu viel importieren, dann vergeben wir damit auch die Chance, neue Arbeitsplätze im Energiebereich aufzubauen. Mit der Digitalisierung wird es beipielsweise im Verkehr durch automatisiertes Fahren zu einem massiven Arbeitsplatzverlust kommen. Deshalb macht es Sinn, im Rahmen des Umbaus der Energiewirtschaft entsprechende Arbeitsplätze zu realisieren. Wind­anlagen zum Beispiel müssen nicht nur entwickelt, produziert und aufgebaut, sondern auch gepflegt und gewartet werden. Dadurch ergibt sich eine andere Art der Ökonomie. Meiner Meinung nach sollten wir so viel wie möglich in Deutschland machen – natürlich da, wo es kostenmäßig sinnvoll ist. In unserer ES2050-Studie zeigen wir, dass Deutschland relativ viel Geld in erneuerbare Energien investieren sollte, und es handelt sich dabei um ein kostenoptimiertes Energiemodell für Deutschland. Wir müssen diese großen Umwälzungen beginnen und Detailtoleranz zeigen. Die große Linie zählt, das schnelle Vorankommen ist jetzt ganz wichtig. Wichtig ist auch, dass große Investitionen mit langer Vorlaufzeit angegangen werden. Das betrifft den Netzausbau, aber ganz besonders auch den Speicherausbau.  

F&L: Sind Sie zuversichtlich, dass wir die notwendigen großen Veränderungen angehen und der Klimaneutralität näher kommen?

Detlef Stolten: Wir haben bereits einen merklichen Klimawandel, deshalb müssen wir dahin kommen, möglichst schnell nichts zusätzlich zu emittieren. 95 Prozent Treibhausgasreduktion bedeutet nicht Klimaneutralität. Unsere Berechnungen liegen damit deutlich unter der Forderung der Klimaneutralität, die letzten fünf Prozent sind noch einmal besonders schwierig, und die haben wir uns noch nicht intensiv angeschaut. Die Welt brennt, ob in Kalifornien, Australien, im Amazonasgebiet oder Sibirien. An vielen Stellen haben wir bereits jetzt sichtbare Klimafolgen. Der Meeresspiegelanstieg, den wir jetzt schon sehen, der teilweise aus der Ausdehnung des wärmer werdenden Wassers und teilweise von abschmelzendem Kontinentaleis kommt, ist menschengemacht. Das ist die eine Seite, die schwere Last auf der Schulter. Wir müssen aber auch sehen, dass wir diese immense Herausforderung bewältigen können, indem wir die Technik vorantreiben und die Technologien, die nicht in der Masse verfügbar sind, auch zügig und schnell entwickeln. Und das ist die Chance der Ingenieure. Das geht notwendigerweise mit erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen einher.