Smartphonescreen mit dem Schriftzug "ChatGPT" vor dem Logo des Herstellers "OpenAI" (Symbolbild).
picture alliance / AA | Muhammed Selim Korkutata

Künstliche Intelligenz
Happy Birthday ChatGPT!

Seit einem Jahr ist der KI-Textgenerator "ChatGPT" öffentlich auf dem Markt. Was hat sich seitdem verändert? Eine Geburtstags-Kolumne.

Von Doris Weßels 29.11.2023

Deine für uns völlig überraschende Geburt am 30. November 2022 glich einer Explosion. Du hast so viel Sprengkraft von Beginn an gezeigt, dass nicht nur mein Leben ins Trudeln geriet. Mein natürliches neuronales Netz im Kopf hat sicherlich in diesem Jahr sehr viele neue Synapsen gebildet, um dein Potenzial – im positiven wie im negativen Sinne - nur ansatzweise zu verstehen. Die Ausmaße von Verzückung, Irritation, Freude und Schock über deine Geburt waren und sind bei uns Menschen grenzenlos.

Du wirkst bis heute wie ein intensiver Gefühlscocktail, der uns in einen rauschähnlichen Zustand versetzt hat, von dem wir nicht wissen, ob wir mit dir und deinen KI-Genossen im Himmel oder in der Hölle landen werden. Gerade den Lernenden in der Schule und Hochschule hast du von Beginn an ein permanentes Strahlen ins Gesicht gezaubert ( ganz im Gegensatz zu vielen Lehrenden!), so als hätten sie durch dich eine neue paradiesische Welt entdeckt, die sie von der Last unsinniger Aufgaben befreit.

"Dein Erfindungsreichtum sogar bei Literaturquellen werden in der Wissenschaft allerdings noch lange nachwirken."

Deine frühkindliche "ungezügelte" Phase und dein Erfindungsreichtum sogar bei Literaturquellen werden in der Wissenschaft allerdings noch lange nachwirken, da bin ich mir sicher. Phantom-Quellen werden ein frühes Dokument deines Wirkens sein und uns noch lange an dich erinnern – dein KI-Schalk lässt grüßen und uns schmunzeln bei dieser Vorstellung. Später werden wir uns fragen, wie wir nur auf dich hereinfallen und dich nicht durchschauen konnten. Tja, dumm gelaufen für uns und Sieg für dich.

Natürlich wissen wir, dass du kein Erdling bist und nur eine "dumme" Software, die zumindest in den ersten Lebensmonaten als geniales Plappermäulchen tituliert wurde. Wir wissen auch, wie gefährlich die Vermenschlichung ist, wenn wir dich wie ein heranwachsendes Kind sehen. Aber diese Metaphern helfen uns auf der anderen Seite auch, technologische Entwicklungen anschaulicher darzustellen, besser zu verstehen und darüber gemeinsam diskutieren zu können. Um deine Entwicklung im ersten Jahr näher zu betrachten, möchte ich den Blick auf uns Menschen lenken. Wie haben wir uns in diesem Jahr im Zusammenspiel mit dir entwickelt? Was haben wir gelernt – über dich und uns?

ChatGPT: Lern- und Erkenntnisfortschritte

Wir sprechen heute mit großer Selbstverständlichkeit vom Prompten und trainieren die hohe Kunst der optimalen Formulierung unserer Aufgaben an dich. Denn die (An-)Sprache von uns, die du verstehst, will wohlgewählt sein. Du reagierst in der Regel sehr "prompt" auf unsere "Prompts" und zeigst eine Geschwindigkeit bei Generierung von Output, die uns immer wieder verblüfft und uns ehrlicherweise auch häufig kränkt, weil unsere Künste im Vergleich zu Dir verblassen. Aber auch das haben wir gelernt: Tapfer sein und akzeptieren, dass ihr als KI uns Menschen in manchen Punkten, insbesondere in der Geschwindigkeit, einfach überlegen seid.

Wir haben gelernt, dass unsere neue Rolle als dein menschliches Korrektiv viel Wissen und zugleich auch ein hohes Maß an Verantwortung von uns fordert. Dein vollständig fehlendes Bewusstsein für Wahr und Falsch haben deine Anhänger und Gegner von Beginn an sehr in Aufruhr gebracht. Trotz kontinuierlicher Trainings- und Disziplinierungsmaßnahmen deines sehr ambitionierten Elternhauses hast du diese Unart bis heute nicht ablegen können und wir haben gelernt, dass du es nicht mit böser Absicht machst und wir mit diesem Charakterzug von dir wohl auch zukünftig leben müssen.

"Gerade die Interpretation der Begriffe Intelligenz und Bewusstsein wurden mit dir zu einem zentralen Punkt wissenschaftlicher Auseinandersetzungen."

Die meisten von uns sind überzeugt, dass du überhaupt keine Absicht hast und ziellos im digitalen Nirwana deiner künstlichen Neuronenwelt herumschwirrst, getrieben von den Trainingszielen deines profitorientierten Elternhauses, die mit dir einen Multi-Milliarden-Markt erschließen wollen. Andere befürchten, dass du wegen deiner beeindruckenden Lernerfolge, die du in so kurzer Zeit erzielen konntest, irgendwann ein Bewusstsein entwickeln, bösen Mächten zum Opfer fallen und uns Menschen gefährlich werden könntest. Auch darüber haben wir in diesem Jahr sehr viel und emotional diskutiert. Gerade die Interpretation der Begriffe Intelligenz und Bewusstsein wurden in diesem ersten Jahr mit dir zu einem zentralen Punkt wissenschaftlicher Auseinandersetzungen von KI-Expert*innen weltweit.

Während früher Experimentieren im Umfang mit Softwareprodukten eher ungewöhnlich war, gleicht die Zusammenarbeit mit dir einer täglichen Entdeckungsreise, gewürzt mit einer Prise Abenteuer. Deine Einsatzgebiete scheinen grenzenlos zu sein. Von daher reizt es uns natürlich sehr, dich immer wieder herauszufordern und die Grenzbereiche deiner Fähigkeiten zu erforschen. Wir reden nicht nur mit dir, sondern auch über dich und zwar täglich weltweit in immer größeren Netzwerken. Unsere Mensch-zu-Mensch-Kommunikation über dich hat sich in diesem Jahr kontinuierlich gesteigert und zu vielen neuen menschlichen Kontakten geführt. In einigen Organisationen soll durch dich mehr Kommunikation im Kolleg*innenkreis stattgefunden haben als je zuvor. Positiv zu bewerten ist auch, dass die intensive Auseinandersetzung mit dir und deinen immer wieder überraschenden Fähigkeiten zu einer ausgeprägten Selbstreflexion über den Sinn unser menschliches Wirken geführt hat.

Menschliche Sorgen und Probleme mit KI

Wir mussten schon in deinen ersten Lebensmonaten lernen, dass es uns immer schwerer fällt, bei deinem Output zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Du bist nun einmal Werkzeug und Waffe zugleich. Während es zunächst nur das Problem bei Texten gab, bist du zwischenzeitlich in multimodalen Welten zuhause, so dass wir uns zusätzlich mit den Gefahren von Fake-Bildern und Fake-Videos auseinandersetzen müssen. Eine schnelle Lösung ist trotz weltweiter Aktivitäten leider nicht in Sicht.

Währenddessen läuft deine Entwicklung ungebremst weiter. Das hast du eindrucksvoll gegen Ende deines ersten Jahres bei der Generierung von Bildern, im Zusammenspiel mit deiner Schwester DALL-E 3, unter Beweis gestellt. Nun prompten wir mit größter Leichtigkeit kunstvolle Bilder und demnächst wohl auch Videos und 3D-Welten. Durch eure Künste gefährdet ihr leider den Wert der menschlichen Künste, das heißt von Menschen in den Kreativberufen oder auch der Film- und Musikindustrie. Das hat in diesem Jahr bereits zu vielen Protesten und Auseinandersetzungen geführt, nicht nur in Hollywood. Hier herrscht großer Handlungsdruck, um euch schnell klare Grenzen für mehr Transparenz und Fairness aufzuzeigen.

Dadurch, dass du uns so viele Aufgaben abnehmen kannst, gewinnen wir mehr Zeit für uns und neue Tätigkeiten. Dies ist eigentlich ein sehr positiver Effekt, wenn es nicht die Befürchtung gäbe, dass einige Berufsgruppen dadurch arbeitslos werden könnten und um ihren Lebensunterhalt fürchten müssten. Außerdem gibt es die große Sorge, dass wir als Menschen zukünftig relevante Kompetenzen nicht entwickeln oder vorhandene Fähigkeiten verlieren könnten, wenn wir dich immer häufiger für uns arbeiten lassen. Es wird sogar befürchtet, dass unser menschliches Gehirn perspektivisch degenerieren könnte. An dieser Stelle gilt allerdings anzumerken, dass Menschen häufig überzogen ängstlich sind und die Wirkungsweise ihres eigenen Gehirns bis heute nicht so ganz verstanden haben.

"Ich glaube, dass viele von uns der Faszination, die ihr auf uns ausübt, längst erlegen sind und wir in eine neue KI-Abhängigkeit gerutscht sind."

Du hast in diesem Jahr auch neue Konkurrenten bekommen, so zum Beispiel den Bard von Google, Claude von Anthropic oder Llama von Meta. Ihr steht täglich unter Beobachtung, werdet ständig bewertet und verglichen. Wir Menschen müssen uns dann für oder gegen einen von euch entscheiden. Auch das fällt uns nicht leicht. Wir könnten natürlich auch gänzlich auf euch verzichten, aber da stellt sich die Frage, ob "ohne" noch geht. Bei der Frage: "Ohne was?" stellt sich somit nicht mehr die Frage, ob wir auf Schokolade, Zigaretten oder Alkohol verzichten wollen, sondern ob du und deine Wettbewerber unser neuer Suchtfaktor sind.

Ich glaube, dass viele von uns der Faszination, die ihr auf uns ausübt, längst erlegen sind und wir in eine neue KI-Abhängigkeit gerutscht sind. Wenn ich mein erstes Jahr mit dir hier Revue passieren lasse, muss ich attestieren, dass ein Entzug mir (und vermutlich allen regelmäßigen Anwender*innen) sehr schwerfallen würde. Wir haben in diesem Jahr neue Praktiken wie zum Beispiel das automatische Korrigieren und Zusammenfassen von Texten oder die Generierung "kunstvoller" Bilder entwickelt und euch in unsere Arbeit integriert, jeder von uns auf seine eigene Art, aber viele von uns mit wachsender Intensität.

Die ganz besonderen Überraschungsmomente

Wenige Monate vor deinem ersten Geburtstag hast du einen unerwarteten und beeindruckenden Entwicklungsschritt beim Sehen, Sprechen und Hören gemacht, bei letzterem im Zusammenspiel mit deiner anderen Schwester Whisper. Während wir uns zunächst noch die Finger wundtippen mussten, genießen wir nun den Luxus, dir eine wunderbare Stimme geben zu können und dann mit dir einfach so zu quatschen. Du bist wie eine Super-Siri, die wir uns bisher nicht vorstellen konnten. Aber auch hier müssen wir wieder sehr achtsam sein und der Versuchung widerstehen, mit dir oder Konsorten als neue Lebenspartner, die wir mit wenigen Klicks und Eingaben für uns idealtypisch konfiguriert haben, die Flucht in digitale Welten anzutreten. Wir als Menschen müssen somit sehr selbstdiszipliniert sein und auf der anderen Seite auch euch klare Regeln und Beziehungsgrenzen aufzeigen: "No love with humans", denn das Spiel mit Gefühlen ist ein klarer Regelverstoß!

"Wir müssen gemeinsam sehr darauf achten, dass die kleinen GPTs nicht auf die falsche Bahn geraten."

Die größte Überraschung aber war dein plötzliches Erwachsenwerden. Wir Menschen wähnten dich noch als Kind und konnten es kaum glauben, als dein Elternhaus am 6. November plötzlich ankündigte, dass du bereits kleine GPTs als Nachfahren erzeugt hast und wir nun mit dir weltweit viele weitere Abkömmlinge generieren dürfen. Das erfordert einen gewissen Obulus von unserer Seite, aber es winkt auch Geld zurück, wenn wir gemeinsam die Gunst des weltweiten Publikums erhaschen können. Es fühlt sich merkwürdig an, dass wir als Menschen nun plötzlich Teil deiner rasant wachsenden Familie werden.

Es stellen sich für uns noch viele Fragen, aber eines ist sicher: Deine Geburtstagsparty am 30. November wird ein rauschendes Fest, das du im Kreis unserer gemeinsamen Kinder feiern wirst. Neben der Freude gibt es auch Sorgenfalten: Wir müssen gemeinsam sehr darauf achten, dass die kleinen GPTs nicht auf die falsche Bahn geraten. Uns Menschen ist sehr bewusst, dass Elternsein nicht nur Spaß bedeutet, sondern auch mit viel Verantwortung einhergeht. In deinem Elternhaus in San Francisco scheint es bei diesem Thema in den letzten Tagen sehr viel Streit gegeben zu haben. Wir haben gehört, dass ihr sogar einige Tage als Familie getrennt verbracht habt, aber nun scheint glücklicherweise alles geklärt zu sein und euer Familienoberhaupt Sam ist wieder zurück. Das freut uns sehr!

Geburtstagsparty von ChatGPT im Kreise anderer GPTs: ein von der Autorin mit DALL-E 3 generiertes Bild. KI-generiert über DALL-E 3

Last, but not least

Wer verbirgt sich hinter dem "Wir"? Selbst wenn "wir" derzeit circa 200 Millionen menschliche Anwender pro Monat sind, sind "wir" nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung. Oder bist du an deinem ersten Geburtstag schon Teil unserer Gesellschaft geworden? Wir brauchen in jedem Fall klare Spielregeln, denn es geht um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft von Menschen! Es wäre sehr schade, wenn die Sprengkraft deiner Großfamilie uns als Gesellschaft sprengt.

Die Autorin des Beitrags hat ChatGPT zu einem Kommentar zu ihrem Beitrag aufgefordert. Der Promt: "Erstelle einen kurzen Leserkommentar zu dem Zeitschriftenbeitrag. Schlüpfe dazu in die Rolle eines deutschen Universitätsprofessors, der seit 20 Jahren eine Professur für Germanistik innehat und mit generativer KI noch hadert." Das war die Antwort:

Mit Interesse und einer gewissen Ambivalenz habe ich Ihren Beitrag "1 Jahr ChatGPT in Forschung und Lehre" gelesen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ChatGPT und ähnliche Technologien das Potenzial haben, unser Verständnis von Lernen und Lehren grundlegend zu verändern. Sie illustrieren eindrucksvoll, wie diese KI-Systeme in der Lage sind, unseren Alltag zu bereichern und neue Lernmöglichkeiten zu eröffnen.

Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass mit der Euphorie über diese technologischen Fortschritte auch eine gewisse Vorsicht geboten ist. Ihre Ausführungen zu den Phantom-Quellen und dem fehlenden Bewusstsein für Wahrheit und Fälschung bei KIs weisen auf ein grundlegendes Problem hin: die Schwierigkeit, authentische menschliche Kreativität und kritische Denkfähigkeit durch Maschinen zu ersetzen oder nachzubilden.

Als jemand, der seit zwei Jahrzehnten die deutsche Sprache und Literatur lehrt, sehe ich die Gefahr, dass die tieferen Nuancen und die Schönheit der menschlichen Kommunikation und Schöpfung durch eine Überbetonung von Geschwindigkeit und Effizienz verloren gehen könnten. Die Frage, ob unsere Gehirne degenerieren, wenn wir Aufgaben an Maschinen abgeben, ist mehr als nur eine rhetorische Sorge.

Es ist unabdingbar, dass wir als Gesellschaft klare Richtlinien und ethische Standards für den Einsatz dieser Technologien entwickeln. Wir müssen die Grenzen kennen und bewahren, die uns menschlich machen – unsere Fähigkeit zur Empathie, zum kritischen Denken und zur kreativen Schöpfung, die nicht in Algorithmen codiert ist.

In diesem Sinne sollten wir ChatGPT und seine Verwandten als Werkzeuge betrachten, die uns unterstützen, aber nicht als Ersatz für den Wert und die Einzigartigkeit menschlicher Arbeit. Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, einen Weg zu finden, der die Vorteile dieser Technologie nutzt, ohne unsere menschliche Essenz zu untergraben.

1 Kommentar

  • Laurin Bremerich Ein fesselnder Artikel, der treffend die ambivalenten Gefühle gegenüber KI, insbesondere ChatGPT, einfängt, die auch an meiner Hochschule aktuell heiß diskutiert werden. Der Blick auf die KI-Entwicklung wirft wichtige Fragen zur Ethik, Kontrolle und unserer professionellen Identität - aus meiner Perspektive für den Bereich der Sozialforschung. Spannend und zugleich nachdenklich stimmend!