Foto von Prof. Dr. Max Horkheimer bei einer Veranstaltung im Februar 1971
picture alliance / Associated Press / HELMUTH LOHMANN

Max Horkheimer
Immer wider die Unvernunft

Max Horkheimer begründete die Frankfurter Schule und erkannte früh die Kehrseiten moderner Naturbeherrschung. Eine Würdigung zu seinem 50. Todestag.

Von Felix Kämper 07.07.2023

Max Horkheimer war ohne jede Frage ein Organisationstalent, heute würde man wohl sagen, jemand, der sich auf gutes Wissenschaftsmanagement verstand. Als Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main hat er in den 1930er Jahren einige der innovativsten und, wie sich später erweisen würde, einflussreichsten Denker seiner Zeit in ein interdisziplinäres Forschungsprojekt eingebunden. Dazu zählen Geistesgrößen wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Erich Fromm und Herbert Marcuse. Das Ziel, das diesen illustren Kreis von Forschern verband: die bestehende Gesellschaft aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren, um herauszufinden, wieso sie nicht so vernünftig eingerichtet ist, wie sie es sein könnte. Horkheimer schaffte zu diesem Zweck einerseits einen institutionellen Rahmen, in welchem die unorthodoxe Weiterentwicklung marxistischer Grundannahmen betrieben werden konnte – eine Insel gesellschaftskritischen Denkens.

Andererseits, und dieser Aspekt wird oft unterschätzt, schlug er auch die programmatischen Pfeiler ein, die für die "Kritische Theorie", wie er sie taufte, fortan stilbildend sein sollten: Erstens jene Interdisziplinarität, die unterschiedliche Wissenschaftszweige in ein produktives Ergänzungsverhältnis zueinander setzt, zweitens die enge Verzahnung von empirischer Sozialforschung, die den gesellschaftlichen Status quo beleuchtet, mit normativer Grundlagenforschung, die Werturteile über ebendiesen ermöglicht, drittens die Orientierung an einem Vernunftbegriff, der den Idealismus von Kant und Hegel mit dem Materialismus von Marx verbindet, sowie viertens und letztens die selbstkritische Reflexion auf die soziale Bedingtheit der eigenen Forschung und auf ihre mögliche Wirkkraft. Diese Prägung aus ihren Gründerjahren kennzeichnet die Frankfurter Schule bis zum heutigen Tag, trotz all ihrer internen Ausdifferenzierung.

Horkheimers "Kritische Theorie" im Wandel

Betrieben wurde die Kritische Theorie zunächst vor dem Hintergrund des Siegeszugs des Nationalsozialismus. Horkheimer, der jüdischer Herkunft war, sah sich, wie so viele andere Wissenschaftler, dazu gezwungen, Deutschland zu verlassen und wanderte in die USA aus. Dieser Bruch veränderte nicht nur die institutionelle Ausgangslage und die persönlichen Umstände der Mitarbeiter des Instituts, sondern er führte auch zu einem tiefgreifenden Wandel auf theoretischer Ebene. Ausdruck gefunden hat diese Zäsur in Horkheimers Zusammenarbeit mit Adorno, die sich im Laufe ihres Exils intensivierte und aus der die gemeinsam verfasste "Dialektik der Aufklärung" hervorging – eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste Arbeit der Kritischen Theorie überhaupt. In diesem Buch bricht sich die Skepsis bahn, ob eine selbstbestimmte Einrichtung der Gesellschaftsordnung überhaupt möglich ist, ob nicht der Weg zur Emanzipation verstellt ist. Dieser theoretischen Skepsis zum Trotz kehrte Horkheimer einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankfurt am Main zurück und trieb die Wiedereröffnung des Instituts für Sozialforschung voran.

Schwarz-weißes Portraitfoto von Max Horkheimer von 1968
Der Philosoph und Soziologe Max Horkheimer gilt als Begründer der Kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule. picture-alliance / akg-images

Damit wurde ein neues, nicht minder faszinierendes Kapitel in der Geschichte der Frankfurter Schule aufgeschlagen. Von besonderer Bedeutung sollte dabei ihr ambivalenter Einfluss auf die 68er-Bewegung sein sowie ihre kommunikationstheoretische Umformung durch Jürgen Habermas. Seitdem hat sich die Frankfurter Schule zu einem weltweiten Netz verflochten, mit einzelnen Knotenpunkten wie dem Forschungszentrum Normative Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt, dem Institut für Sozialforschung, heute unter der Leitung Stephan Lessenichs, oder der New School for Social Research in New York. In Deutschland wird sie von Autorinnen und Autoren wie Axel Honneth, Rainer Forst, Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa in ganz unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt. In den USA zählen Seyla Benhabib, Nancy Fraser und Amy Allen zu ihren wichtigsten Vertreterinnen. Obwohl gewisse Schulstreitigkeiten dabei nicht ausbleiben und ihre Berechtigung darin haben, die "Waffen der Kritik" zu schärfen, sollte die Kritische Theorie darüber aber nicht vergessen, dass diese Auseinandersetzungen letztlich der praktischen Anwendung ihres Analyseinstrumentariums dienen. Wenn sie weiterhin Horkheimers Anspruch gerecht werden will, muss sie sich aktiv gegen all jene Entwicklungen und Ideologien wenden, die Beherrschung implizieren.

Missstände im Mensch-Natur-Verhältnis

Ansatzpunkte dafür gäbe es viele. Eine besonders akute Problematik ist ohne Zweifel der ausbeuterische Umgang moderner Gesellschaften mit der natürlichen Umwelt. Horkheimer selbst hatte schon früh die problematischen Züge der Naturbeherrschung identifiziert und kritisiert. Sowohl in der "Dialektik der Aufklärung" als auch in seiner Arbeit "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" finden sich wegweisende Ressourcen, um Missstände im Mensch-Natur-Verhältnis zu untersuchen. Die Unvernunft oder Hybris, die Natur vollständig kalkulierbar, kontrollierbar und letztlich kommodifizierbar machen zu wollen, wird dort in sich widersprüchlich, wo Menschen sich in Zwangslagen verstricken, wo, frankfurterisch gesprochen, Naturbeherrschung in Naturherrschaft umschlägt. Man denke dabei an schwerwiegende Krisen im Mensch-Natur-Verhältnis wie den anthropogenen Klimawandel, der die überforderten Gesellschaften der Moderne schon heute zu Reaktionen zwingt. Dem "Einfluss der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der Theorie", von dem es in Horkheimers Gründungsaufsatz "Traditionelle und kritische Theorie" heißt, dass er zum "Lehrbestand" der Kritischen Theorie gehört, muss in dieser Hinsicht von Neuem Geltung verschafft werden.

Die Kritische Theorie ist eine engagierte, auf Emanzipation gepolte Wissenschaft, die sich immer wider herrschende Formen von Unvernunft zur Wehr setzt. Diese Stoßrichtung wurde ihr von Horkheimer, ihrem Begründer, eingeschrieben und charakterisiert sie seither. Entsprechend muss, wo sich die Phänomene verschieben, die als widervernünftig zu bewerten sind, auch die Theorie selbst sich wandeln, um diese richtig aufspießen zu können. Ein äußerst dringlicher Anlass für einen derartigen Wandel stellen die globalen Herausforderungen dar, die im Hier und Jetzt, verstärkt aber noch in immer näher rückender Zukunft, aus unserem Umgang mit der natürlichen Umwelt resultieren. Ganz im Sinne Max Horkheimers gilt es daher aktuell, die Kritische Theorie der Gesellschaft zu einer Theorie der Weltgesellschaft und ihrer Umwelt zu erweitern.