Ein Kind steht in einem dunklen Raum am Fenster und schaut nach draußen.
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Mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
Kindheit in der Pandemie

Kinder und Jugendliche mussten pandemiebedingt lange zu Hause lernen, Freizeitaktivitäten fielen aus. Ein Gespräch über ihre psychische Gesundheit.

Von Friederike Invernizzi 20.11.2021

Forschung & Lehre: Frau Dr. Kaman, in der COPSY-Längsschnittstudie haben Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland erforscht. Die Auswertung zeigt, wie sehr Kinder und Jugendliche die seelischen Belastungen der Corona-Pandemie in Deutschland spüren: 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen fühlen sich belastet. Wie erklären Sie sich die Dramatik der Situation?

Anne Kaman: Durch die Kontaktbeschränkungen und die geschlossenen Schulen und Freizeiteinrichtungen ist ein Großteil der Lebensräume der Kinder weggefallen. Die Kinder hat es sehr belastet, dass sie ihre Freunde nicht sehen konnten. Sie konnten auch ihren gewohnten Hobbys nicht mehr nachgehen. Manchmal kamen dann noch Schwierigkeiten beim Lernen und beim Distanz- oder Wechselunterricht dazu, was zusätzlich auf ihre Stimmung gedrückt hat. Auch das enge Zusammenleben mit ihren Familien ist für einige Kinder belastend. Insgesamt verlangt ihnen die Pandemie also einiges ab und es kommen sehr viele Belastungen und Unsicherheiten zusammen. Wir sprechen von psychischer Auffälligkeit, wenn die psychische Gesundheit eines Kindes beeinträchtigt ist, beispielsweise durch eine Kombination von belastenden Gefühlen und Verhaltensweisen. Ganz wichtig ist dabei: Nicht jede psychische Auffälligkeit wird zur psychischen Erkrankung. Belastungen geben lediglich Hinweise und sollten abgeklärt werden. Nicht alle Kinder, die psychisch belastet sind, reagieren auch mit einer Angststörung oder Depression. Man darf also die Ergebnisse der COPSY-Studie auch nicht überdramatisieren. Der Großteil der Kinder wird die Krise gut überstehen. Es ist sogar davon auszugehen, dass die Kinder an den Erfahrungen wachsen, die sie in dieser Pandemie machen.

Portraitfoto von Dr. Anne Kaman.
Dr. Anne Kaman ist stellvertretende Leiterin der Forschungssektion "Child Public Health" am Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie arbeitet in nationalen und internationalen Forschungsprojekten zur Kinder- und Jugendgesundheit wie der COPSY-Studie. COPSY steht für COrona und PSYche.

F&L: Sie beziehen sich in Ihren Beschreibungen auf die Befragungen vom Sommer und Winter 2020. Welche Tendenzen haben sich da gezeigt? Gibt es aktuelle Zahlen zur Situation der Kinder in 2021?

Anne Kaman: Zurzeit wird die dritte Befragungswelle der COPSY-Studie durchgeführt, deren Ergebnisse wir Anfang 2022 erwarten. Bisher wurden für die COPSY-Studie bundesweit zwei Online-Befragungen durchgeführt. Die erste Befragung fand letztes Jahr im Frühsommer statt – kurz nach dem ersten Lockdown – und die zweite Befragung im Dezember 2020 und Januar 2021 – also während des zweiten bundesweiten Lockdowns. Die Ergebnisse zeigen, dass die Belastung im Verlauf der Pandemie zugenommen hat. Wie schon während der ersten Befragungswelle, litt fast jedes dritte Kind auch zehn Monate nach Beginn der Pandemie noch unter psychischen Auffälligkeiten wie emotionalen Problemen oder Hyperaktivität. Ängste und Sorgen haben bei den Kindern im Vergleich zur ersten Befragung noch einmal deutlich zugenommen. Die Kinder und Jugendlichen zeigten zudem häufiger depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen oder Schlafprobleme.

F&L: Familien verbrachten in der Corona-Pandemie viel Zeit zusammen. Welche Probleme sind im Familienalltag besonders zu Tage getreten?

Anne Kaman: Man muss sagen, dass viele Kinder und Familien bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen sind. Durch enges Zusammenleben, mangelnde Rückzugsmöglichkeiten und eine fehlende Tagesstruktur kann es allerdings häufiger zu Streitigkeiten und Konflikten in den Familien kommen. Ein Drittel der Familien, die an den ersten beiden Befragungen teilgenommen haben, hat angegeben, dass Streitigkeiten häufiger eskalieren als vor der Pandemie. Die Anspannung in den Familien war also deutlich spürbar. Es fehlte an Ausweichmöglichkeiten und Alternativen, die Belastungen kumulierten sich im häuslichen Umfeld. Um diesen negativen Stimmungen und Anspannungen entgegenzuwirken, sind Gespräche über Sorgen und Ängste sowie gemeinsame familiäre Aktivitäten wichtig. Auch Routinen und Rituale fördern die Gesundheit der Kinder. Ein strukturierter Tagesablauf mit festen Schlaf- und Essenszeiten kann den Kindern Halt und Sicherheit vermitteln und in Pandemiezeiten entlastend wirken.

F&L: Das familiäre Zusammenleben kann Kinder und Jugendliche also stärken? Was ist mit Konstellationen, wo dies scheitert?

Anne Kaman: Ja, wenn Kinder und Jugendliche über Ressourcen verfügen, die sie schützen und seelisch stabilisieren, dann gelingt es ihnen besser, mit den Belastungen umzugehen. Als besonders wichtige Ressource hat sich in unseren Ergebnissen der familiäre Zusammenhalt herausgestellt. Wenn die Familie Sicherheit und Unterstützung bietet – wenn sich die Kinder in ihrer Familie geliebt und unterstützt fühlen – dann können viele andere Belastungen und Schwierigkeiten ausgeglichen werden. Sorgen machen wir uns um die Kinder und Jugendlichen aus Risikofamilien, die zu Hause nicht aufgefangen werden – deren Probleme und Ängste nicht gehört werden – und die möglicherweise nicht die Unterstützung bekommen, die sie eigentlich bräuchten. Das sind häufig Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder wenn ihre Eltern selbst psychisch belastet sind. Speziell für diese Kinder brauchen wir unserer Ansicht nach dringend individuelle und niedrigschwellige Unterstützungsangebote.

F&L: Was sagen Ihre Erhebungen dazu, wie Kinder Bildung und Freizeit erleben, die ja auch zu den UN-Kinderrechten gehören?

Anne Kaman: Kinder und Jugendliche erleben die Schule und das Lernen als deutlich anstrengender als vor der Pandemie. Vielen Kindern fällt es schwer, den schulischen Alltag zu bewältigen. Sie empfinden diesen teilweise als sehr belastend. Bei der Bewertung der Ergebnisse sollte berücksichtigt werden, dass die Schule nicht nur ein Ort des Lernens ist, sondern auch eine wichtige Möglichkeit, um Freunde zu sehen und soziale Beziehungen aufzubauen. Die Veränderung des schulischen Alltags und die Einschränkung von Nachmittags- und Freizeitangeboten kann demnach massive Konsequenzen für die individuelle soziale, kognitive, emotionale und gesundheitliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben. Dadurch steht die Sorge im Raum, dass Bildungs- und Lebenschancen verpasst werden und dass es bei einigen Kindern zu dauerhaften Entwicklungseinschränkungen kommen könnte.

F&L: Was kann die Gesellschaft tun, um Kinder in der Corona-Situation besser zu unterstützen?

Anne Kaman: Bislang haben wir es als Gesellschaft nicht geschafft, die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen im Verlauf der Pandemie zu verbessern, oder sie auch nur zu stabilisieren. Im Gegenteil: Die Belastung der Kinder und Jugendlichen hat in vielen Bereichen wie gesagt zugenommen. Mit den Ergebnissen der COPSY-Studie im Blick appellieren wir an politische Entscheidungsträger, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bei Infektionsschutzmaßnahmen nicht aus den Augen zu verlieren. Wir brauchen mehr ehrlich gemeinte Bemühungen, mehr Ideen und Konzepte, damit belastete Kinder und Jugendliche einerseits diagnostiziert und behandelt werden können und andererseits präventiv gestärkt werden. Es hat sich in den letzten Monaten gezeigt, dass die Unterstützungsnetzwerke oftmals nicht ausreichen und dass wir in vielerlei Hinsicht eine strukturelle Weiterentwicklung brauchen.

Internationaler Tag der Kinderrechte

Der 20. November ist der internationale Tag der Kinderrechte. An diesem Tag im Jahr 1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Diese Übereinkunft über die Rechte des Kindes wurde am 26. Januar 1990 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet.

Zu den in der Konvention aufgeführten Kinderrechten gehört neben dem Recht auf Leben und dem Schutz vor Diskriminierung und Gewalt auch der Schutz der Privatsphäre. Weitere Kinderrechte sind das Recht auf Bildung, auf Ruhe und Freizeit, Spiel und "altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben".

Die UN-Konvention zum Wohle des Kindes ist im Wortlaut nachzulesen beim Deutschen Kinderhilfswerk.