Geschichtswissenschaft
Kontroversen? Fehlanzeige
Forschung & Lehre: Wie wichtig ist eine "gute" wissenschaftliche Streitkultur für die Geschichtswissenschaft?
Paul Nolte: So wichtig wie für die Wissenschaft überhaupt. "Gute" Streitkultur heißt ja zunächst einmal: Formen der Austragung, die die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis beachten, die sich an rationale Diskursregeln halten und wissenschaftliche Differenzen zum Beispiel nicht in persönliche Vorwürfe kleiden. Aber es meint zugleich eine Streitkultur, die "gut entwickelt" ist, die also lebendig und lebhaft ist und der Austragung von Differenzen einen Raum bietet: in der Profession, auf Tagungen, in Publikationsorganen. Für die Geschichtswissenschaft ist eine gute Streitkultur besonders wichtig – und aus demselben Grund manchmal besonders umstritten: weil nämlich Geschichte, besonders in Deutschland, zugleich eine öffentliche Disziplin ist, in der wissenschaftliche Erkenntnis und kulturelle Standortbestimmung oft ganz eng miteinander verbunden sind. Der Streit um den Nationalsozialismus ist das wichtigste Beispiel dafür. Oder denken Sie an die aktuellen Jubiläen, in denen neue Forschungsergebnisse sich mit außerwissenschaftlichen Perspektiven auf den Gegenstand verbinden: die Reformation, der Erste Weltkrieg, der sowjetische Kommunismus.
F&L: Wann gab es den letzten großen Streit unter Historikern?
Paul Nolte: Vielleicht sollte man besser von Streitwellen sprechen. In den 1980er und 1990er Jahren gab es die großen Debatten über die Deutung und die Gegenwart des Nationalsozialismus: vor allem natürlich den "Historikerstreit" der Jahre 1986/87, bei dem es um die Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit des Judenmordes ging – dahinter stand die Frage nach Schuld, Verantwortung und nationaler Identität der Deutschen. Solche Kontroversen setzten sich nach der Wiedervereinigung zunächst fort: in der "Goldhagen-Kontroverse" ging es wiederum um den Holocaust, dann im Streit um die Wehrmachtsausstellung um dessen Verknüpfung mit dem Krieg gegen die Sowjetunion, den wir erst in dieser Zeit vollends als einen Vernichtungskrieg zu akzeptieren gelernt haben, gegen den Mythos der "sauberen" Wehrmacht. Aber auch in anderer Hinsicht und über andere Themen wurde in der Geschichtswissenschaft damals heftiger gestritten: vor allem über methodische Ansätze, über die Berechtigung von Sozialgeschichte gegen die bisherige Politikgeschichte, über eine neue "Alltagsgeschichte", schließlich über die Bedeutung des "cultural turn" für unser Fach. Damals standen sich feindliche Lager in der "Zunft", wie sich die Historikerprofession manchmal immer noch nennt, gegenüber, und man musste aufpassen, auf welcher Seite man steht.
F&L: Wird heute in der Wissenschaft weniger gestritten? Ist man "zahmer" und "friedfertiger" geworden?
Paul Nolte: Auf jeden Fall; die Zeit der großen Kontroversen ist vorbei. Die Gründe sind vielfältig. Zum Teil ist das eine Gegenbewegung: Die Jüngeren waren die Lagerbildung, die auch mit einer politischen Sortierung nach Linken und Konservativen einherging, leid, und wollten andere Wege gehen als ihre akademischen Lehrer. Überhaupt ist, nicht nur in der Geschichtswissenschaft, die Politisierung zurückgegangen. Was man wissenschaftlich denkt und forscht und wovon man politisch überzeugt ist, kommt weniger als früher zur Deckung. Aber auch die Wissenschaft selbst hat sich verändert. Früher gab es, vereinfacht gesagt, eine Lehrmeinung, und dagegen erhob sich bisweilen Widerspruch. Das war das Muster von Orthodoxie und Heterodoxie, das Muster des Schismas, auf jeden Fall einer Dichotomie, eines wissenschaftlichen Dualismus. In den letzten zwei Jahrzehnten ist das aufgebrochen – an die Stelle des Dualismus von Positionen ist eine bunte Vielfalt getreten, eine Art Polydoxie, wenn die "Doxa", die Lehrmeinungen, überhaupt noch eine strukturierende Rolle spielen. Und woran liegt das? Gewiss hat das auch mit kulturellen Veränderungen allgemeinster Art zu tun, mit dem Übergang von der Moderne in die Postmoderne.
F&L: Muss man inzwischen eher von einer wissenschaftlichen Konsenskultur sprechen?
Paul Nolte: Das ist die entscheidende Frage: Ist an die Stelle des antagonistischen Konflikts eine Vielfalt von Positionen getreten, oder hat der Konsens den Konflikt abgelöst? Von beidem etwas, würde ich sagen. Die Extreme haben sich abgeschliffen, der Zug in die Mitte, die Neigung zum Mainstream hat sich verstärkt. Auch hier spiegelt sich in der Wissenschaft, was wir in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik bereits erlebt haben, nämlich der Trend zum Konsens, zum Großkoalitionären. Die Lust, wider den Stachel zu löcken, hat nachgelassen. Andererseits: Die Vielfalt nicht nur der Themenfelder, sondern auch der Interpretationen und der methodischen Ansätze in der Geschichtswissenschaft ist groß; im Bild des Konsenses geht das nicht auf. Freilich: Man streitet nicht mehr wie früher darüber, sondern lässt die anderen gewähren, auch wenn man mit ihnen nicht übereinstimmt, und verfolgt sein eigenes Programm. Die methodischen Unterschiede zum Beispiel zwischen einer klassischen Politikgeschichte und einer konstruktivistischen Kulturgeschichte sind gewaltig. Aber Kontroversen? Fehlanzeige. Man macht seine eigenen Sammelbände, seine eigenen Tagungen und bleibt dabei unter sich.
F&L: Welche Folgen hat es für den Erkenntnisgewinn, wenn die Wissenschaft nicht mehr durch grundsätzliche Kontroversen getrieben wird?
Paul Nolte: Das ist gar nicht so leicht zu sagen. In der Geschichtswissenschaft haben wir in Deutschland seit den 1960er Jahren an das Wissenschaftsmodell von Thomas S. Kuhn geglaubt, an seine "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen": Auf eine Phase der "Normalwissenschaft" folgt Irritation, Herausforderung, Heterodoxie – der große Streit, der nach vorne drängt. Dann etabliert sich das neue "Paradigma", regiert eine Weile als neue Normalwissenschaft, bis zur nächsten kreativen Herausforderung. Das scheint aber nicht mehr zu stimmen. Über einen Mangel an Neuem kann jedenfalls meine Wissenschaft nicht klagen. Doch entsteht das Neue nicht mehr im Widerspruch gegen das Alte, sondern immer mehr aus Anregungen, die aus allgemeinen Kontexten oder aus anderen Fächern importiert werden: zum Beispiel die Globalgeschichte, der Postkolonialismus, die Emotionengeschichte. Und fairerweise muss man sagen: Die Konflikte, die die Geschichtswissenschaft vor zwei oder drei Jahrzehnten noch dominiert haben, waren nicht immer epistemisch kreativ. Der "Historikerstreit" ist dafür das beste Beispiel: Man hat sich im Grunde politisch beharkt; die entscheidenden Innovationen, zum Beispiel eine vergleichende Genozidforschung, kamen erst später und aus anderer Quelle.
F&L: Wenn nicht mehr ernsthaft gestritten wird, wird dann in der Wissenschaft nur an- und umgebaut, statt abgerissen und neu gebaut?
Paul Nolte: Das Bild ist gar nicht so falsch: Unsere Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt ist heute weniger die der Ablösung des Alten durch etwas ganz Anderes, jedenfalls soweit ich die Geistes- und Sozialwissenschaften überblicke. Ja, es wird an- und umgebaut, neue Räume und neue Gebäudeteile kommen hinzu, ohne dass die alten unbewohnt werden. Das ist ein Bild faszinierender Vielfalt und Kreativität. Aber sprechen die Hausbewohner noch miteinander? Treffen sie sich noch in der Küche, um sich über eine gemeinsame Mahlzeit zu verständigen? Es gibt natürlich, wie in anderen Fächern auch, den professionellen Verband, der alle zwei Jahre eine Großtagung, den Historikertag, veranstaltet. Aber auch dort ist die große Kontroverse, ist der heftige Streit selten geworden. Es gibt zu viel Schwimmen im eigenen Saft, zu viel Selbstzufriedenheit mit der je eigenen Position. Also: Auch im Zeitalter der Polydoxie würde ich mir eine lebhaftere Streitkultur wünschen. Nicht um die Wissenschaft wieder homogener zu machen, geschweige denn konformistischer, sondern damit der Stachel der Kritik in der Vielfalt der Positionen nicht verlorengeht.