Person zeichnet mit einer Feder zwei Papageien von einer digitalen Vorlage ab
Stefan Klatt

Geistiges Eigentum
"Kopieren steht zu Unrecht in schlechtem Ruf"

Kopieren ist rechtlich meist verboten und moralisch umstritten, für Lernprozesse aber unabdingbar. Wann ist Kopieren ethisch legitim?

Von Reinold Schmücker 09.09.2021

Wer hat noch nie eine urheberrechtlich geschützte Karikatur aus einem Buch oder von einer Webseite kopiert und damit eine Power-Point-Präsentation aufgehübscht, die dann nicht nur im Seminar, sondern auch öffentlich vorgeführt wurde? Und darauf verzichtet, den Rechteinhaber um Erlaubnis zu fragen, obwohl die Verwendung nicht durch eine urheberrechtliche Schrankenregelung gedeckt war? Oder sich einen dringend benötigten wissenschaftlichen Text, der über die Uni-Bibliothek kurzfristig nicht zu bekommen war, kurzerhand über Sci-Hub besorgt, anstatt ihn für einen zweistelligen Betrag vom Verlag als E-Paper zu erwerben?

Rechtlich ist das nicht erlaubt. Aber ist das geltende Urheberrecht wirklich gerecht? Oder gibt es moralische Gründe, auf die wir uns berufen könnten, wenn man uns fragt, warum wir widerrechtlich etwas kopiert haben? Gründe, die erklären könnten, warum wir dabei nicht das Gefühl hatten, etwas Verwerfliches zu tun?

Die Ethik des Kopierens geht solchen Fragen nach. Sie fragt: Gibt es ethische Kriterien, anhand derer sich legitime Kopierhandlungen von illegitimen unterscheiden lassen? Und wenn ja: Decken sich diese mit den Kriterien des Urheberrechts?

Urheberrechtlicher Schutz in digitalen Zeiten

Dass solche Fragen heute dringlich sind, hat mit dem technischen Fortschritt zu tun. Heute können mehr Menschen denn je zuvor mit einer bisher ungekannten Mühelosigkeit kopieren – oft sogar ohne irgendeinen Qualitätsverlust. Man denke nur daran, wie einfach und rasch sich digital gespeicherte Texte oder Musikstücke oder Teile davon duplizieren lassen. Auch kann man viele Gegenstände, die sich früher allenfalls von Hand und nur bedingt vorlagengetreu kopieren ließen – zum Beispiel Gemälde –, heute mit einer früher unvorstellbaren Perfektion technisch reproduzieren.

Die Inhaber von urheberrechtlichen Nutzungs- und Verwertungsrechten haben angesichts der neuen Kopiertechniken im 20. und 21. Jahrhundert immer wieder auf eine Erweiterung und Verschärfung des Urheberrechts hingewirkt: Waren Werke in Deutschland noch 1836 allenfalls in den ersten zehn Jahren nach ihrem Erscheinen geschützt, darf man sie heute erst nach Ablauf von siebzig Jahren nach dem Tod des Urhebers ohne die Einholung einer Erlaubnis kopieren.

Ist ein derart starker Schutz der Interessen von Verwertern und Urhebern (die man als Nutznießer solcher Regelungen wohl in dieser Reihenfolge nennen muss) mit den Bedürfnissen moderner, digitalisierter Gesellschaften vereinbar? Trägt er auch den legitimen Interessen derer hinreichend Rechnung, die urheberrechtlich geschützte Werke nutzen möchten? Kopierverbote, die sich auf urheberrechtlich geschützte Werke beziehen, reglementieren ja nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft.

"Die Entwicklung der Künste wäre ohne eine Unzahl von Kopierhandlungen völlig undenkbar."

Kopieren steht zu Unrecht in einem schlechten Ruf. Tatsächlich ist es eine der basalsten Kulturtechniken des Menschen: Kopieren ist für Lernprozesse konstitutiv und für die Fortentwicklung von Technik und Kultur unabdingbar. Niemals hätten Computer und Smartphone unser Leben binnen so kurzer Zeit so grundlegend verändern können, wenn die ersten dieser Geräte nicht – mehr oder weniger abgewandelt – kopiert und dabei oft auch verbessert worden wären, im Zweifelsfall auch ohne die Erlaubnis ihrer allerersten "Erfinder". Ohne das Kopieren der Aussprache und Ausdrucksweise von Muttersprachlern ließe sich keine Fremdsprache erlernen. Und die Entwicklung der Künste wäre ohne eine Unzahl von Kopierhandlungen völlig undenkbar; das Œuvre eines Künstlers wie Andy Warhol macht das unmittelbar augenfällig.

Manchen rechtlichen Kopierbeschränkungen fehlt es deshalb an gesellschaftlicher Akzeptanz: Sie werden von vielen Menschen nicht als "richtiges" Recht wahrgenommen (oder sogar schlicht deshalb missachtet, weil man nicht auf die Idee kommt, dass eine simple Kopierhandlung, die einem naheliegend erscheint, verboten sein könnte). Doch an welchen Richtigkeitsmaßstäben ließe sich das Recht des geistigen Eigentums überhaupt messen? Und wie wären die legitimen Interessen der Rechteinhaber von einem unparteilichen Standpunkt – einem moral point of view – fair gegen die kaum zu überschätzende Bedeutung der Kulturtechnik des Kopierens und das Nutzungsinteresse von Forschenden, Lehrenden und vielen anderen Nutzungsinteressierten abzuwägen?

Ethische Prinzipien als Prüfsteine des Urheberrechts

Ähnlich wie in der Medizinethik lassen sich auch für den Bereich des Kopierens (der sich nicht auf den Geltungsbereich des Urheberrechts beschränkt) ethische Prinzipien mittlerer Reichweite formulieren. Diese können ihren Geltungsanspruch darauf stützen, dass sie sich in ein System allgemeiner moralischer Normen einfügen, von denen plausibel angenommen werden kann, dass sie breite Zustimmung finden. Eines dieser Prinzipien macht zum Beispiel geltend, dass die Zulässigkeit von Kopierhandlungen nur dann an die Einwilligung von Rechteinhabern geknüpft werden darf, wenn durch das Kopieren Gegenstände erzeugt werden, die das kopierte Objekt im Hinblick auf eine oder mehrere seiner zentralen Funktionen ersetzen könnten. Denn dafür, auch in anderen Fällen die Zulässigkeit von Kopierhandlungen an eine entsprechende, gegebenenfalls nur durch die Zahlung einer Gebühr zu erlangende Erlaubnis zu binden, gibt es keine überzeugenden moralischen Gründe. Rechtlich mag es einer Konditorin verboten sein, eine Schokoladenminiatur des ersten VW-Käfers zum Kauf anzubieten, ohne den Erben von Ferdinand Porsche Lizenzgebühren zu zahlen. Ethisch gut begründet ist ein solches Verbot aber nicht. Denn es erschwert der Konditorin die kreative Weiterentwicklung ihrer Produktpalette, obgleich dem Autohersteller durch die Herstellung von Schokoladenkäfern in Miniaturgröße insofern kein Schaden oder Nachteil entsteht, als ein Schokoladenkäfer keine der Funktionen eines gewöhnlichen VW-Käfers (der ohnehin längst nicht mehr gebaut wird) erfüllen kann.

Manche Erkenntnisse der Kopierethik hat der deutsche Gesetzgeber bereits aufgegriffen. So trägt die Reform des Zitatrechts, die durch die Novellierung von § 51 UrhG zum 1. März 2018 in Kraft getreten ist, der Einsicht Rechnung, dass die Zulässigkeit des Zitierens von Bildern, die ihrerseits andere Bilder zitieren, nicht von der Zustimmung dessen abhängig sein darf, der die Rechte an dem im Bild zitierten Bild besitzt. Klargestellt ist nunmehr auch, dass zur Zitation eines Werkes auch eine Abbildung genutzt werden darf, die selbst urheberrechtlich oder durch Leistungsschutzrecht geschützt ist. So wird der ethischen Einsicht Rechnung getragen, dass es einer fairen Abwägung der betroffenen Interessen nicht entspräche, wenn die Möglichkeit, Erkenntnisse und Aussagen über geschützte Werke durch deren Zitation zu belegen oder zu veranschaulichen, beispielsweise durch einen nicht entsprechend begrenzten Lichtbildschutz eingeschränkt würde.