Ölgemälde von Johannes Kepler, 1916; München, Deutsches Museum.
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Johannes Kepler zum 450. Geburtstag
Schneeflocken aus der Galaxie

Johannes Kepler wurde am 27. Dezember vor 450 Jahren geboren. Unser Autor erinnert an Stationen im Leben des Astronomen und Mathematikers.

Von Elmar Schenkel 27.12.2021

Johannes Kepler hatte ein karges Einkommen. Kaiser Rudolf II., bei dem er als Hofmathematiker und Astrologe in Prag tätig war, zahlte unregelmäßig. Überhaupt bestand sein Leben zu einem unguten Teil darin, Schulden von Auftraggebern einzutreiben.

Der Wissenschaftler wollte aber einem Freund ein Neujahrsgeschenk auf das Jahr 1611 machen, das nichts kosten durfte. Als er über die Prager Karlsbrücke ging, bemerkte er Schneeflocken auf seinem Mantel. Er hatte eine Idee, da wurden sie zu Sterntalern: "Welch höchst erwünschtes Neujahrsgeschenk für einen, der das Nichts liebt, und das wert ist, dass es gerade ein Mathematiker schenkt, der ja nichts hat und nichts bekommt, und das dennoch vom Himmel herabfällt und die Ähnlichkeit der Sterne an sich trägt." Seine Gedanken über die Schneeflocken schrieb er auf Latein und darin ist das Wort für Schnee: "nix".

Keplers verschlungene Pfade

Warum, so fragte er sich, sind Schneeflocken immer hexagonal? In seinem verspielt scheinenden Traktat – Kepler fügte auch seinen großen Werken Gedichte und Wortspiele bei – verbirgt sich etwas Ernsthaftes, das die Gesetze des Universums betrifft. Kepler äußert die Vermutung, dass die hexagonale Struktur die größte Packdichte ermöglicht – etwas, was die Bienen mit ihren Waben längst wissen. Es brauchte gut 400 Jahre und starke Computer, bis diese Vermutung, an der sich Gauß wie Hilbert abarbeiteten, (fast) bewiesen werden konnte.

"Keplers Geist war von Grund auf interdisziplinär angelegt. Nicht nur die Naturwissenschaften, auch die Theologie und Ästhetik bilden den Nährboden seines Denkens."

Kepler wusste, dass er, um eine umfassende Antwort zu erhalten, auch an die "Tore der Chemie" klopfen musste. Die Chemiker sollten sagen, ob im Schnee ein Salz ist, wie es aussieht und ob es diese Figuren erschafft.  Keplers Geist war von Grund auf interdisziplinär angelegt. Nicht nur die Naturwissenschaften, auch die Theologie und Ästhetik bilden den Nährboden seines Denkens. In seinen Hauptwerken zeigt Kepler die verschlungenen Pfade, auf denen er zu seinen bahnbrechenden Erkenntnissen kam. Sein erstes Buch brachte ihm die Einladung des berühmten Tycho Brahe nach Prag ein. In Astronomia nova (1609) formulierte er die ersten beiden nach ihm benannten Gesetze über die Planetenbewegung: Die Sonne steht im Brennpunkt einer Ellipse, auf der sich die Planeten bewegen, lautet das erste, das auch die Fernwirkung von Kräften postuliert, also eine Form von Schwerkraft. Die beiden anderen Gesetze verbinden Mathematik, Geometrie und Physik und machen Aussagen über die Geschwindigkeit und die Entfernungen der Planeten. Keplers Schriften vollziehen die vielen Schritte, die aus dem Gestrüpp mittelalterlichen und mythologisch-theologischem Denken zu diesen Gesetzen führen und setzt damit das kopernikanische Weltbild um. Das macht seine Sprache nicht leicht, er selbst hielt sie für hässlich und abschweifend, aber das geschah, weil er immer auf neue Gedanken stieß.

Ein unbekannterer Kepler

Neben dem bekannten Astronomen gibt es auch einen unbekannteren Kepler zu entdecken, den Menschen, der wie sein Zeitgenosse Shakespeare den Zwiespalt zwischen Mittelalter und Neuzeit verkörpert, und uns deshalb vielleicht gerade jetzt wieder näher rückt. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht seine Selbstcharakteristik, die er mit 26 Jahren verfasste. Mit Hilfe astrologischer Eckpunkte kommt er zu psychologischen Einsichten über sich, die sehr modern anmuten. Er sieht seine Kantigkeit, seinen Widerspruchsgeist, aber auch, dass er "die Natur eines Hundes" habe. Die Glaubenskämpfe erlebt er als Protestant in Graz am eigenen Leibe, und dennoch will er den Päpstlichen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es will ihm auch nicht in den Kopf, dass Gott die Völker straft, die nicht an Christus glauben.
 
Die Beobachtung der Sterne war ein Mittel, sich zumindest zeitweise dem Chaos und der Gesetzlosigkeit der Gegenwart zu entziehen und in die harmonische Grammatik der Schöpfung zu schauen. Mathematische Ästhetik, angewandt auf Weltraum wie auf Schnee, erschien ihm als etwas Göttliches. Geboren wurde er am 27. Dezember 1571 in Weil der Stadt bei Stuttgart, in unharmonischen Verhältnissen – der Vater Händler und Söldner, selten zuhause, die Mutter streitbar, alleinerziehend, mit vielen, auch kranken Kindern, als Kräuterfrau tätig. Sie war es, die dem Sohn den Kosmos nahebrachte. 1577 zeigte sie ihm den großen Kometen, der von Mexiko bis Japan beobachtet und von dem Dänen Tycho Brahe eingehend besprochen wurde. Bei diesem sollte Kepler, der am Tübinger Stift studiert hatte, nach einer Zeit in Graz Assistent am Prager Hof werden. Die Beziehung zu Brahe, dem Astronomen mit der goldenen Nase, die ihm in der Folge eines Duells angesetzt worden war, war nicht leicht. Der Däne besaß mit seinem Observatorium auf der Insel Hven die besten Sterndaten seiner Zeit, doch gelang ihm keine kohärente Theorie. Die Erde stand bei ihm im Zentrum, die anderen Planeten kreisten bereits um die Sonne. Das befriedigte den jungen Schwaben nicht. Das Weltbild war inkonsequent, eine Mischung aus ptolemäischen und kopernikanischen Elementen, weder ästhetisch noch mathematisch eine Freude.

Aufbruch in neue Sphären

Als Tycho Brahe 1601 starb, erbte Kepler seine astronomischen Aufzeichnungen. Kepler gelang es nun, Ordnung in die Daten zu bringen und das heißt, das kopernikanische Weltbild zu systematisieren. Doch beeinflusst wurde er auch von seinen ästhetisch-theologischen Weltkonzepten. Warum gibt es sechs Planeten? Und wie passen deren Bahnen in die große Himmelssphäre? Er glaubte an die ursprüngliche Harmonie aller Bewegung und versuchte zunächst, die Bahnen mit den fünf platonischen Körpern abzustecken. Solche Polyeder, von der Pyramide und dem Würfel bis hin zum Zwanzigflächner, scheinen in das sphärische Modell des Sonnensystems zu passen. Aber, und das macht Kepler zu einem Vorläufer des selbstkritischen wissenschaftlichen Denkens, seine Berechnungen geben der gewünschten Figur nicht recht. Die Idealgestalt der Kugel weicht einem Ei, der Ellipse. Kepler hat sich wie Kolumbus von Mythen leiten lassen, um schließlich in neue Sphären vorzudringen.

Die Mythen leben jedoch fort in seiner anderen Beschäftigung, der Astrologie. Als Grazer Mathematiker oblag es ihm, den astrologischen Kalender für 1595 zu errechnen. Viele seiner Voraussagen – etwa der Einfall der Türken – trafen ein und brachten ihm Ruhm. Insgesamt legte er für über 900 Personen Horoskopfiguren an, für Freunde und Bekannte, für Kaiser und Fürsten und für sich selbst. Er tat es, um sein Einkommen aufzubessern, aber er glaubte auch an die "närrische Tochter" der Astronomie in gereinigter Form. Wallenstein, bei dem er am Ende seines Lebens in Diensten stand, ließ sich bekanntlich von ihm einige Horoskope erstellen, von denen einiges zutraf, anderes nicht. Sein Todesjahr soll Kepler ihm vorausgesagt haben, in verschleierter Form. Jedenfalls galt ihm: "Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt."

Phantastische Literatur

Sein schwieriges Leben nach dem Tod seines Sohnes und seiner ersten Frau, einer zweiten Heirat und einem Wechsel nach Linz, als der Kaiser 1612 starb, wurde noch bedrängender, weil seine Mutter der Hexerei angeklagt wurde. Kepler gelang es über Jahre hinweg, sie zu unterstützen in Prozessen, die er letztlich gewann. Doch die Mutter starb bald darauf, vor allem aufgrund der schlimmen Haftbedingungen. Die Mutter taucht auch in einem weiteren Buch Keplers auf, das erst 1634, vier Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurde: Somnium, oder ein Traum vom Mond. Begonnen hat er es 1609, als sich in Prag die Spannungen erhöhten, die schließlich zum Dreißigjährigen Krieg führten. Das Buch ist erzählerisch komplex, phantastisch, sowohl autobiographisch als auch wissenschaftlich. Deshalb ist es zu Recht eines der ersten Science Fiction-Werke genannt worden; noch H.G. Wells sollte sich darauf berufen.

Der isländische Erzähler im Buch hat eine Mutter, die als Kräuterhexe tätig ist und deren Geheimnis er aufdeckt. Zur Strafe verbannt sie ihn, er kommt auf die Insel Hven und lernt Astronomie bei Tycho Brahe. Jahre später kehrt er nach Island zurück und seine Mutter führt ihn nachts zum Vulkan Hekla, wo sie den Mondgeist Levana treffen. Der spricht mit blecherner Stimme über die Geheimnisse der Mondfahrt, über das Leben auf dem Mond, die Lebewesen dort und wie die Erde vom Mond aus eigentlich aussieht: der erste Blick aus dem Kosmos auf die Erde, versehen mit Hinweisen auf künftige Raumfahrt wie etwa die Schwerelosigkeit). "Man schaffe Schiffe und Segel, die sich für die Himmelsluft eignen", schreibt Kepler.

Wegweisend für Seefahrer und Astronomen wurde sein Spätwerk, die Rudolfinischen Tafeln, die Tycho Brahe begonnen hatte: genaue Daten über die Bewegungen der Planeten, die über Jahrhunderte genutzt wurden. Im Übrigen berechnete Kepler, dass Jesus Christus im Jahre 4. v.Chr. geboren wurde.  Kepler war einer, der an "der himmlischen Tafel gespeist" hat, und doch irdisch blieb. Das Schwierige, schreibt er, habe ihn immer angezogen. "Oh, wahrhaftig, ein Leben ohne Philosophie ist tot."

Zum Weiterlesen

Elmar Schenkel. 2016. Keplers Dämon. Begegnungen zwischen Literatur, Traum und Wissenschaft, S. Fischer: Frankfurt.