Büste des Dichters Paul Celan
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Zum 50. Todestag von Paul Celan
Sprechen zwischen Wunde und Narbe

Anlässlich des 50. Todestags von Paul Celan spricht Jürgen Wertheimer über die Bedeutung des renommierten Dichters in der heutigen Zeit.

Von Friederike Invernizzi 19.04.2020

Forschung & Lehre: Wie sehr war der deutsch-jüdische Dichter Paul Celan ein empfindlicher Seismograph seiner Zeit?

Jürgen Wertheimer: Alle Dichter von Format sind in gewissem Masse empfindliche Seismographen. Ich will Paul Celan damit dennoch nicht gleich etwas klischeehaft  als dunklen Seher und düsteres, leidendes Orakel sehen. Er konnte, zumindest in seinen frühen Jahren, auch humorvoll, sarkastisch, charmant sein, wissbegierig, alles aufnehmend. In seiner Jugend war er Mittelpunkt (im Kreis) der Bukowiner Dichterclique um Alfred Markus Sperber. Er war auch durchaus "karrierebewusst": Sein Weg führte nach Westen, in den deutschen Sprachraum, etwas später nach Paris. "Krumm war der Weg, den ich ging, krumm war er, ja, denn, ja, er war gerade" schreibt er selbst. Alles, was am Rande dieses "Krummgeraden Weges" lag, nahm er wahr, nahm er mit. Vor allem und von Anfang an die leisesten Spuren eines allmählich immer mehr anwachsenden Antisemitismus.

F&L: Welche Rolle spielte dabei seine Suche nach "Wahrheit", sein innerer Auftrag? Wie sehr ist er damit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ähnlich?

Jürgen Wertheimer: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" – dieses Postulat seiner Vertrauten Ingeborg Bachmann sollte man nicht unbedingt auf Paul Celan anwenden. Alle Menschen in seinem näheren und weiteren Umfeld wussten, dass man gerade ihm nicht alle Wahrheiten zumuten durfte, um gravierende Reaktionen zu vermeiden. Seine Frau Gisèle Lestrange verstand es über Jahrzehnte hinweg, diesen Balanceakt zwischen Aufrichtigkeit  und Rücksichtnahme zu halten. Auch er selbst mutet der Öffentlichkeit die Wahrheit nur dosiert zu. Aus seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises hat er eventuell anstößige Passagen getilgt. Die "humanistischen Phrasendrescher und postumen Betreuer jüdischer Gedankengänge" fehlen in der verlesenen Rede ebenso wie der Angriff gegen eine gewisse Art der Verwissenschaftlichung: "Das Keimfreie ist das Mörderische; im formal designing /es gibt auch ein solches im Philologischen/ ist der Faschismus heute." Deshalb weiß ich nicht, ob man Celan gerecht würde oder ihm einen Gefallen täte, ihn an wissenschaftlichen Verfahren zu messen. Ich kann auch nicht genau sagen, ob man bei einem von seiner Art der Wahrnehmung Getriebenen von "Auftrag" oder "Mission" sprechen sollte.

Prof. Jürgen Wertheimer
Professor Jürgen Wertheimer ist Hochschullehrer für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Tübingen. Klaus Franke

F&L: Paul Celan gilt heute als einer, wenn nicht der bedeutendste deutschsprachige Lyriker nach 1945. Was macht seine Faszination aus, die bis heute anhält?

Jürgen Wertheimer: Paul Celan ist zu einer Chiffre geworden. Sein Name steht für die europäisch grundierte Polyphonie einer großen Lyriker-Moderne mit sprachgenauen Gefühlen ohne Sentimentalität. Für Heimatvertrautheit ohne Nostalgisches. Für das Thema des Jüdischen ohne religiöse Aufladung. Für eine migrative, wenn man will unbehauste Lebensform, verbunden mit klarer, dezidiert antiideologischer Haltung. Es ist diese Kompromisslosigkeit, die einen Menschen dazu befähigt, sich den Traumatisierungen der Vergangenheit zu stellen, statt ihnen auszuweichen oder sie gar zu verdrängen. Hier schreibt einer tatsächlich mit "seiner verbrannten Hand von der Natur des Feuers" (Bachmann)  und ich denke, diese unbedingte Aufrichtigkeit und Authentizität teilt sich seinen Lesern mit – heute mehr denn je.

F&L: Paul Celan, in der ehemaligen Bukowina (heutiges Rumänien) geboren, wuchs mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf. Beide Eltern wurden deportiert und ermordet. Welche Spuren haben diese Erfahrungen in seinem dichterischen Werk hinterlassen? Waren sie gar zentral für seine Entscheidung, Dichter zu werden?

Jürgen Wertheimer: Diese Erfahrungen sind omnipräsent. Die Shoah ist in Celans Gedichten mit jedem Wort, jeder Silbe eingeschrieben. Vor allem blieb die Deportation seiner Eltern in  Czernowitz, die er nicht verhindern konnte, ein lebenslanges Trauma. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sein Werk eine Art in Sprache gefasstes Holocaust-Mahnmal ist – weitaus wirkmächtiger als in Stein gehauene Denkmäler es sind. Seine Texte sind keine Versöhnungsautomaten, sondern  Protokolle der Verletztheit. Es ist ein Sprechen zwischen Wunde und Narbe, zwei seiner Schlüsselbegriffe. Es gelingt der Narbe nicht, sich völlig zu schließen: die Nahtstellen bleiben sichtbar, sie entstellen das Gesicht und das Gedicht und weisen auf die Verwundung hin. Indem er die Erinnerungen de Opfer beschwört und wieder und wieder heraufruft und ihre Namen in das Grabmal aus Wortstaub einschreibt, schneidet Celan eine symbolische Wunde in die Haut der Sprache. So bleibt die Vernichtungserfahrung nicht nur als Thema, sondern als Struktur präsent.

"Die Sprache, insbesondere die deutsche, war mitschuldig geworden, war von den Nazis zu einem todbringenden Instrument der Verführung gemacht worden."

F&L: Das Ringen um eine angemessene Sprache, das Vermeiden der Lüge und die Suche nach Bildern sind in Paul Celans Werk sehr intensiv spürbar. Wie sehr musste er Einzelgänger sein, um die Gedichte zu schreiben, über die sich zunächst die Literaturszene der 50er Jahre in Deutschland lustig gemacht hat?
 
Jürgen Wertheimer: "Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache." Mit diesem Satz aus der Büchner-Preisrede wird keine naive Geborgenheit beschworen, sondern ein anspruchsvoller Prozess gefordert. Die Sprache, insbesondere die deutsche, war mitschuldig geworden, war von den Nazis zu einem todbringenden Instrument der Verführung gemacht worden. Die hochtönende, pathetische Diktion war auch noch bei vielen deutschen Autoren und Rednern der 50er Jahre ansatzweise spürbar. Es bedurfte des "fremden Blicks" wie Herta Müller das Phänomen Jahrzehnte später nennen wird, um die mit Gift "angereicherte" Sprache Wort für Wort ihrer Zwielichtigkeit und Doppeldeutigkeit zu entkleiden und sie wieder tragfähig zu machen. Ein schmerzhafter Prozess, dem nur ein Extremist der Sprache gewachsen war.
 
F&L: Allgemein gelten Celans Bilder als schwer verständlich und hermetisch. Inwieweit ist dieser Einschätzung und Einordnung zuzustimmen?

Jürgen Wertheimer: Diese Einschätzung ist ein verhängnisvolles Vorurteil, das sich nur schwer korrigieren lässt. Ich glaube, dass vieles der vermeintlichen Dunkelheit der Bilder Celans eher mit unserer Unfähigkeit, bildsprachlich assoziativ zu denken zu tun hat als mit seiner Neigung zum Hermetischen zu tun hat. Zugegeben, es sind nicht immer auf den ersten Blick vertraute Wörter oder Wendungen, Zusammensetzungen und Bezüge, die er herstellt. Im Gegenteil: er rekonstruiert, aus den Bruchstücken und Fragmenten einer ein für alle Mal zerstörten Welt eine Erinnerungswirklichkeit. Worte, Wortteile, Sprachreste formieren sich zaghaft, bisweilen stockend, gelegentlich verstummend. Manchmal kaum hörbar. Aber man sollte nicht den Fehler begehen, aus diesem Ringen nach Atem auf ominöse Unschärfe, eben die viel geschworene "Dunkelheit" zu schließen. Die Bilder mögen auf Krücken kommen, aber sie tragen überaus konkrete Leidensspuren in sich. 

F&L: Wie sehr war Celans "Sprache", statt sich verschließen zu wollen, vielmehr auf ein Du ausgerichtet, auf ein "Zeigen" von inneren und äußeren "Wahrheiten", von dessen Verständnis viel abhing?

Jürgen Wertheimer: Trotz seines angeblich "hermetischen" Charakters ist Celans Werk bei genauerem Hinsehen ein einziger Versuch, auf ein "Du" zuzuhalten.  Die Entschiedenheit dieses im Sinne von Martin Buber genuin dialogischen Bemühens macht auch vor "Auschwitz" nicht halt. Selbst in einer Welt der Ausgelöschten, Vernichteten, Zerstörten, in der Todeszone aus Antikörpern der Spezies Mensch kann es ein Weitersprechen geben. So beginnen zerstreute Teile verlorener Konzepte von Individualität in einen zerstückelten Dialog miteinander zu treten. Durch die Schleuse der Sprache getrieben kann – für Momente – gespenstisches, unwirkliches Leben entstehen: "Durch die Schleuse mußt ich/ das Wort in die Salzflut zurück- / und hinaus- und hinüberzuretten: Jiskor". Ein Ich, gerettet, unrettbar, dem jederzeit die eben wiedergefundenen Worte im Mund entzweibrechen können.

"Will man sein Vermächtnis ernst nehmen, sollte man vor allem seine Texte ernst nehmen"

F&L: Welche "Wege" kann es also geben, Celans Gedichte zu lesen?

Jürgen Wertheimer: Celan neu zu lesen, heißt auch, ihn von seiner Legende zu befreien. Heißt, sich ihm nähern, statt ihn in unglaubwürdiger philosemitischer Betroffenheit zu bestaunen. Oder ihn philologisch zu sezieren. Oder in seiner Biographie zu wühlen. Will man sein Vermächtnis ernst nehmen, sollte man vor allem seine Texte ernst nehmen. Man hat die Möglichkeit, die innere Genese jedes seiner Gedichte genau zu verfolgen – ein Blick in die Tübinger Ausgabe genügt. Hier wird vor Augen geführt, wie ein Gedicht sich materialisiert, auskristallisiert. Oft aus persönlichem Anlass entstanden, gewinnt es langsam an Autonomie, löst sich vom allzu familiären und gewinnt Bedeutung – für uns, die Nachgeborenen, Nachlebenden.

F&L: Können Dichter heute noch Warner und wichtig für die Gesellschaft sein?

Jürgen Wertheimer: Nur wenn man gewillt ist ihnen zuzuhören, ist man offen für Warnungen. Celans Texte könnten Warnungen aus der Retrospektive sein. Wenn man sich auf sie einlässt, wird man emotional resistenter gegen billige Versprechen und Vertröstungen. Darin liegt ihr "gesellschaftlicher" Wert. Vielleicht sollte man aber darauf verzichten, von der Gesellschaft zu sprechen. Das Entscheidende geschieht im Individuellen.