Grafik von Personen am Strand, die durch eine gigantische Lupe schauen
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Fakten in der Wissenschaft
Über Tatsachen und ihre gebildeten Verächter

Wissenschaft ist fehlbar und dennoch der zuverlässigste Weg, Tatsachen herauszufinden. Aber auch unter Wissenschaftlern gibt es Tatsachenverächter.

Von Geert Keil 01.10.2019

Beginnen wir mit einigen Gemeinplätzen, die noch vor wenigen Jahren kaum Widerspruch provoziert hätten: Wissen von Tatsachen zu verschaffen gehört zum Kerngeschäft der Wissenschaften. Schon der Schritt der Datenerhebung mithilfe von Beobachtungen oder Messungen ist nichts anderes als das Ermitteln von Tatsachen. Hat sich beispielsweise die globale Durchschnittstemperatur seit Beginn der Industrialisierung erhöht? Nach der Auswertung zahlloser Messreihen ist klar: Ja, es verhält sich so. Die entsprechende Aussage ist wahr, sie drückt eine Tatsache aus. Und Tatsachen bestehen unabhängig davon, was wir über sie glauben.

Philosophen fügen diesen Gemeinplätzen einige begriffliche Klärungen hinzu: Tatsachen sind dasjenige in der Welt, was unseren wahren Aussagen entspricht. Es gibt deshalb keine falschen Tatsachen und auch keine wahren. Was wahr oder falsch sein kann, sind Tatsachenbehauptungen. Dass Tatsachen etwas "in der Welt" sind, bedeutet nicht, dass es sich um Dinge handelte, die man sehen und anfassen könnte. Tatsachen gehören zu denjenigen Gegenständen, die man in der philosophischen Ontologie "abstrakte Gegenstände" nennt, weil sie nicht materiell sind und keine räumliche Ausdehnung haben. Dass Tatsachen etwas "in der Welt" sind, habe ich nur betont, um klarzustellen, dass sie im Unterschied zu Sätzen nichts Sprachliches sind. Tatsachen sind nicht das, womit wir etwas sagen, sondern etwas, worüber wir etwas sagen. Dieser Unterschied wird spätestens wichtig, wenn Slogans wie "Alle Tatsachen sind Konstruktionen" in die Debatte geworfen werden.

"Was die Wissenschaft auszeichnet, sind ihre besondere Sorgfalt, ihr systematisches Vorgehen und die höhere Zuverlässigkeit ihrer Ergebnisse."

Die Wissenschaft ist mit dem Geschäft, Tatsachen zu ermitteln, nicht allein. Auch Journalisten, Detektive und Zählerstandsableser sind damit befasst. Was die Wissenschaft auszeichnet, sind ihre besondere Sorgfalt, ihr systematisches Vorgehen und die höhere Zuverlässigkeit ihrer Ergebnisse. Wissenschaft hat es mit Sachverhalten zu tun, deren Erforschung einen besonderen Aufwand verlangt. Der Stand eines Stromzählers lässt sich durch bloßes Hinsehen ermitteln, für die Ursache eines Vulkanausbruchs oder die Bedeutung einer alten Grabinschrift gilt das nicht.

Postfaktische Kommunikation und "alternative Fakten"

Manche Leserinnen und Leser mögen mittlerweile unruhig geworden sein. Gibt es nicht neben schlechten auch einige gute Gründe dafür, dass der Berufung auf Tatsachen heute vielfach mit Skepsis begegnet wird? Zunächst zu den schlechten Gründen: Es ist kein Geheimnis, dass diese Skepsis vornehmlich auf Entwicklungen außerhalb der Wissenschaft zurückgeht, etwa auf das Aufkommen eines "postfaktischen" Politikstils, der den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen einebnet und sich gegenüber wissenschaftlicher Expertise ignorant verhält. Warum sich um Tatsachen scheren, wenn man auch mit Lügen und "alternativen Fakten" durchkommt?

Der Ausdruck "alternative Fakten" geht bekanntlich auf eine Äußerung von Trumps Beraterin Kellyanne Conway zurück, die Trumps damaligen Sprecher gegen den Vorwurf der Lüge in Schutz nahm: "Sean Spicer didn’t lie. He provided alternative facts". Die Äußerung provozierte Empörung und Spott. Bald tauchten T-Shirts mit dem Aufdruck auf "Sorry, alternative facts are just lies". Das Beispiel ist instruktiv, weil es sich bei Spicers Aussage "This was the largest audience to ever witness an inauguration, period" klarerweise um eine Tatsachenbehauptung handelte. Und das Publikum hatte ein Gespür dafür, dass Conways rhetorisches Manöver dazu angetan war, den Sinn eines wichtigen Ausdrucks zu verfälschen. Die Jury, die den Ausdruck "Alternative Fakten" zum Unwort des Jahres wählte, führte zur Begründung an, er sei "der verschleiernde und irreführende Ausdruck für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen". Sollte Conway im Sinn gehabt haben, ein "pluralistisches" Verständnis von "Tatsache" zu etablieren, welches die Anpassung der Tatsachenlage an die jeweilige eigene Interessenlage erlaubt, so ist dieser Versuch gescheitert.

"Tatsachen muss man kennen, ehe man sie verdrehen kann." Mark Twain

Mark Twain hat einmal treffend gesagt: "Tatsachen muss man kennen, ehe man sie verdrehen kann." Die Sprechakte des Lügens und Täuschens sind eben sehr voraussetzungsreich. Der Lügner will andere etwas glauben machen, was er selbst nicht für wahr hält. Er will sie über Tatsachen täuschen, über die er sich selbst nicht täuscht, und verlässt sich zudem darauf, dass die anderen nicht erwarten, getäuscht zu werden. Er missbraucht also das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Das ist eine gute Nachricht: Solange erfolgreich gelogen und getäuscht wird, ist dieses Kommunikationsverhalten parasitär gegenüber dem Standardfall, nämlich aufrichtig darüber zu informieren, was der Fall ist oder was man selbst glaubt.

Unaufrichtige Kommunikation kann für sich genommen den Tatsachen nichts anhaben. Dasselbe gilt für Wunschdenken. "Facts are stubborn things", hat John Adams, der Zweite Präsident der USA, bemerkt. Tatsachen sind störrisch, sie fügen sich nicht unseren Wünschen. Legen wir deshalb die Themen Lüge, Täuschung und Wunschdenken beiseite und wenden uns der Frage zu, was die Gebildeten unter ihren Verächtern den Tatsachen vorwerfen.

Ist nur Unumstößliches Tat­sache?

Nicht selten wird die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse als Herausforderung für die Auffassung betrachtet, dass Wissenschaften Tatsachen herausfinden. Die moderne Naturwissenschaft hat ein "fallibilistisches" Selbstverständnis: Sie betrachtet die wissenschaftliche Erkenntnissuche als ein grundsätzlich fehlbares Unternehmen. Menschen sind fehlbare Wesen und Wissenschaftler sind keine Ausnahme. Niemand kann aus eigener Kraft sicherstellen, dass etwas, was er für wahr hält, tatsächlich wahr ist. Wissenschaft ist ihrem Begriff nach auf Wissen aus, sie muss aber stets mit Irrtümern und späteren Revisionen rechnen. Die Wissenschaftsgeschichte bietet dafür reiches Anschauungsmaterial.

"Menschen sind fehlbare Wesen und Wissenschaftler sind keine Ausnahme."

Die Fehlbarkeit der Wissenschaft ändert allerdings nichts an ihrem Anspruch, Tatsachenerkenntnis zu verschaffen. Betrachten wir einige Revisionen in der Wissenschaftsgeschichte, etwa über das Alter der Erde, die Existenz einer Äthersubstanz im Weltall oder die Ursache von Magengeschwüren. Diese Revisionen bestanden nicht darin, dass infolge neuer Entdeckungen Wahres falsch wurde, sondern dass irrtümlich für wahr Gehaltenes als falsch erwiesen wurde. Oder vorsichtiger, da auch heutige Wissenschaftler fehlbar sind: dass etwas bisher für wahr Gehaltenes nunmehr für falsch gehalten wird – bis irgendwann vielleicht auch diese Auffassung berichtigt werden muss.

Was sich beim – vorläufigen – Berichtigen eines Irrtums ändert, sind nicht Tatsachen, sondern menschliche Überzeugungen: Etwas, was bislang für eine Tatsache gehalten wurde, erweist sich als falsche Tatsachenannahme. Die Wissenschaft kann sich also darüber irren, ob etwas eine Tatsache ist. Dabei ist das Festhalten am Anspruch, die Wahrheit herauszubekommen, gerade erforderlich, um der Fehlbarkeit der Wissenschaft Rechnung zu tragen. Die Begriffe der Tatsache, der Wahrheit und der Objektivität haben in der Wissenschaft, wie oft übersehen wird, eine wesentlich negative Funktion: Wahrheit ist nicht das, was wir sicher treffen, wenn wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben, sondern das, was wir verfehlen können, obwohl wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben.

Woran starb Ramses II.?

Eine andere Herausforderung stammt aus den Kultur- und Sozialwissenschaften. Dort führen die Gebildeten unter den Tatsachenverächtern konstruktivistische Auffassungen ins Feld. Dem in den 1970er Jahren entwickelten "radikalen Konstruktivismus" zufolge ist die Wirklichkeit eine Konstruktion unseres Gehirns. Später sind "sozialkonstruktivistische" Theorien hinzugekommen, die sich zunächst auf die These des Konstruktcharakters sozialer Phänomene beschränkten und später verallgemeinert wurden: Alle Tatsachen seien soziale Konstruktionen. Die philosophische Erkenntnistheorie ist von diesen Auffassungen übrigens weitgehend unbeeindruckt geblieben und wird dafür aus dem konstruktivistischen Lager des "naiven Realismus" bezichtigt.

Als französische Wissenschaftler nach einer Untersuchung der Mumie von Pharao Ramses II. feststellten, dass Ramses wahrscheinlich an Tuberkulose starb, widersprach der Wissenschafts­soziologe Bruno Latour dieser Diagnose: Wie könne Ramses an einem Erreger gestorben sein, der erst 1882 von Robert Koch entdeckt wurde? Mycobacterium tuberculosis habe vor der Entwicklung entsprechender Nachweismethoden "nicht wirklich existiert". Die Behauptung, Ramses sei an Tuberkulose gestorben, sei nicht weniger anachronis­tisch als die, er sei im Maschinengewehrfeuer umgekommen.

Der Vergleich ist, mit Verlaub, Unfug. Maschinengewehre gab es zur Pharaonenzeit nicht, während der Tuberkuloseerreger lediglich noch nicht entdeckt war. Nun wird der Streit zwischen einem realistischen und einem konstruktivistischen Verständnis von Tatsachen auch als einer darüber geführt, ob Tatsachen entdeckt oder erfunden werden. Wenn aber Robert Koch den Erreger einer seinerzeit unbehandelbaren Krankheit nicht entdeckt, sondern erfunden hätte, wäre dann statt des Nobelpreises nicht eher Einzelhaft bei Brot und Wasser angezeigt gewesen?

"Fakten sind störrische Dinge und Krankheiten sind es auch."

Unstrittig ist, dass Ramses' Leibärzte dessen Krankheit nicht als Tuberkulose diagnostizieren konnten. Daraus folgt aber mitnichten, dass Ramses nicht tuberkulosekrank gewesen sein kann. Der Grund dafür ist einfach: Weder die Existenz des Bakteriums noch seine Verbreitung im Ägypten der Pharaonenzeit noch dessen Wirken im Körper von Ramses sind davon abhängig, was Menschen darüber wussten. Fakten sind störrische Dinge und Krankheiten sind es auch. Man kann auch an nichtdiagnostizierten Krankheiten sterben. Der Stand unseres medizinischen Wissens ist dem Tuberkuloseerreger "nicht einmal egal".

Der Slogan "Tatsachen sind konstruiert" mag einen kleinen wahren Kern haben, der aber durch den Slogan irreführend ausgedrückt und auch nicht leicht herauszuarbeiten ist. Als "Konstruktion" kann man das Ergebnis einer konstruktiven Tätigkeit bezeichnen, aber auch die Tätigkeit selbst. Eine Stahlbetonbrücke ist ein Artefakt, sie entsteht nicht von allein. Wenn sie aber konstruiert und gebaut worden ist, dann ist sie nicht weniger real als das Matterhorn oder ein Nilkrokodil, die ohne menschliches Zutun in die Welt gekommen sind. Das Konstruiertsein der Brücke betrifft allein die Frage, auf welche Weise sie entstanden ist. Ihrer Existenz tut der Umstand, dass es sie ohne menschliches Zutun nicht gäbe, keinen Abbruch.

Ist der naive Realismus nicht seit Kant überwunden?

Nun werden Tatsachen in einem anderen Sinn als "konstruiert" bezeichnet als Bauwerke, denn das Konstruieren ist hier keine physische Tätigkeit, sondern eine geistige. Von konstruktivistischer Seite wird angeführt, dass Tatsachen nicht "einfach da" seien, wie der naive Realismus annehme, sondern sich einer konstruktiven Tätigkeit des menschlichen Verstandes verdankten. Gebildete Konstruktivisten verweisen auf die Erkenntnistheorie Immanuel Kants, nach der unsere Sinne von "rohem Material" affiziert werden, das vom Verstand unter Anschauungsformen und Begriffe gebracht wird. Ohne die Synthese- und Konstitutionsleistungen des Verstandes hätten wir keine Erfahrung von Gegenständen, sondern würden allenfalls Informationen registrieren, wie Digitalkameras es tun. Auf dem Bildsensor einer Kamera mag die gleiche optische Information eintreffen wie auf der Netzhaut eines Menschen, doch sind Kameras keine Subjekte von Erfahrung.

Nun lässt sich weiter argumentieren, dass die konstruktive Tätigkeit so oder anders ausfallen kann und dann entsprechend unterschiedliche Tatsachen ,erzeugt‘. Irgendetwas wird es "da draußen" schon geben, aber auf welche Weise Menschen das Seiende einteilen, hängt von den Begriffen und Kategorien ab, die sie dabei verwenden. Wer etwa das Konzept des "Unkrauts" nicht besitzt, wird den Löwenzahn nicht als solches klassifizieren. Außerhalb des Kontextes des Ackerbaus und der Gartenpflege ist auch schwer zu erläutern, was mit dem Ausdruck "Unkraut" gemeint ist.

Der Realist bleibt unbeeindruckt. Dass man die Welt mithilfe anderer Kategorien immer auch anders einteilen kann, tut der Existenz des Eingeteilten keinen Abbruch. Um den konstruktiven Anteil des menschlichen Erkennens genauer herauszuarbeiten, müssen wir zwischen dem unterscheiden, was wir einteilen und womit wir es tun. Die Abhängigkeitsthese betrifft nicht die Realität der Gegenstände und Tatsachen, sondern etwas anderes: Von Begriffen und Kategorien ist abhängig, was wir erkennen können. In der Wissenschaft sind oft noch weitere epistemische Ressourcen nötig, etwa Verfahren und Messinstrumente. Bevor die Wissenschaft den Ultraschall entdeckt hat, lag dieses Phänomen außerhalb unseres Erkenntnishorizonts. Wir mussten rätseln, warum Fledermäuse im Dunkeln nicht ständig gegen Wände fliegen. Der Ultraschall selbst war höchst real und das Orientierungssystem der Fledermäuse auch.

Bei sozialen Tatsachen kommt hinzu, dass ihr Fortbestehen in einem robusten Sinn von Einstellungen und sozialen Praktiken abhängig ist. Beispielsweise ist Geld nur das, was es ist, nämlich ein Zahlungsmittel, weil bestimmte Metallplättchen, Papierstücke und neuerdings auch immaterielle Prozesse in dieser Funktion akzeptiert werden. Auch hier gilt aber: Menschengemachte Tatsachen sind, solange sie bestehen, nicht weniger real als natürliche.

Ich fasse zusammen: Weder die Fehlbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnissuche noch der konstruktive Anteil jeder menschlichen Erkenntnistätigkeit sprechen dagegen, dass die Wissenschaft damit befasst ist, Tatsachen herauszufinden. Erst recht irrelevant ist ein gegenüber wissenschaftlicher Expertise ignoranter Politikstil, der der Wissenschaft freilich aus anderen Gründen Sorgen bereiten sollte. Tatsachen bleiben störrische Dinge, die sich nicht unseren Wünschen fügen. Die Wirklichkeit hält auch genügend Wege bereit, uns das spüren zu lassen. Der Begriff des Klimawandels mag sozial konstruiert sein, doch das mit ihm bezeichnete Phänomen wird nicht dadurch verschwinden, dass Klimaskeptiker es anders oder gar nicht konzeptualisieren. Alles andere wäre magisches Denken, wie autoritäre Regierungen es üben, die Konferenzrednern die Verwendung bestimmter Ausdrücke in Vortragstiteln verbieten.

Was schließlich den Vorwurf betrifft, die Verteidiger robuster geistunabhängiger Tatsachen seien in einem "naiven Realismus" befangen: Es gibt neben der reflexionslosen Naivität, die von erkenntnistheoretischen Skrupeln nicht angekränkelt ist, auch so etwas wie eine "zweite Naivität". Kleist schreibt in seinem kleinen Essay über das Marionettentheater, wir müssten "wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen". Das Paradies sei zwar "verriegelt", aber wir könnten "die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist". Die Reise um die Welt wäre in diesem Fall eine eingehende begriffliche und erkenntnistheoretische Klärung: Nachdem er die Fragen, was Tatsachenbehauptungen wahr macht, was Tatsachen sind und was wir zu ihrer Erkenntnis hinzutun, gehörig untersucht hat, könnte der Tatsachenrealist sich diese zweite Naivität verdient haben: Ja, es gibt Tatsachen und die Wissenschaft ist trotz ihrer Fehlbarkeit der zuverlässigste Weg, etwas über sie herauszubekommen.