Foto von Oktober 1996: Die Uni Kassel feiert 25.-jähriges Jubiläum. Blick auf einen Teil der Gesamthochschule Kassel (GhK), rechts im Bild der in diesem Jahr eingeweihte Neubau für den Fachbereich Technik.
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Gesamthochschulen
Universität Kassel – 50 Jahre jung

Vor 50 Jahren wurde in Kassel die erste Gesamthochschule gegründet. Das Konzept scheiterte im Zuge der Zeit, doch manches der Idee wurde verwirklicht.

Von Ulrich Teichler 25.10.2021

Bevor die Universität Kassel vor 50 Jahren gegründet wurde, waren in der Bundesrepublik Deutschland drei wichtige Entscheidungen zur zukünftigen Gestalt des Hochschulwesens gefallen: Eine deutliche Steigerung der Studienanfänger- und Absolventenquoten an den entsprechenden Altersjahrgängen wurde für unterstützungswürdig gehalten. Auch sollte das Studienplatzangebot regional breiter gestreut werden als zuvor. Schließlich sollten die Studierenden nicht durchgängig in das historisch gewachsene Universitäts-Ambiente aufgenommen werden, sondern von einem differenzierten Hochschulsystem.

Unterschiedlich blieben Vorstellungen, welches Ausmaß von Hochschulexpansion und von regionaler Streuung sinnvoll sei, aber wirklich kontrovers erwiesen sich die Vorstellungen von Differenzierung. Bereits 1968 fiel die folgenreiche Entscheidung für "inter-institutionelle" Differenzierung:  Fachhochschulen sollten als ein zweiter Hochschultyp etabliert werden und getrennt von den Universitäten ihr Eigenleben führen: Mit anderen Wegen des Zugangs, kürzeren Studiengängen, einem hohen Lehrdeputat der Wissenschaftler/innen und mit Anwendungsorientierung in Lehre und Studium und auch in der Forschung, soweit daran individuell Interesse bestand und Kraft verblieb.

Daneben gab es angeregte Diskussionen über Chancen (und Probleme) einer "intra-institutionellen" Differenzierung: Die getrennten strukturellen Züge und Grundideen von Universitäten und Fachhochschulen unter ein institutionelles Dach zu setzen, zu gegenseitiger kreativer Provokationen zu ermuntern und schließlich oft Mischungen statt Polaritäten zu realisieren. Die Gesamthochschule Kassel wurde 1971 als erste Hochschule nach diesem Leitbild gegründet. Ein paar ähnliche Neugründungen folgten bis 1975 in Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal, allerdings mit einer Aufteilung der Studierenden in zwei unterschiedliche Züge schon nach kurzer Zeit (das sogenannte Y-Modell).

"Der politische 'Liebesentzug' war schon perfekt, bevor die Stärken und Schwächen dieses Modells eindeutig geprüft sein konnten."

Noch 1976 hatte die Gesamthochschulidee im Rahmen der ersten Version des Hochschulrahmengesetzes Konjunktur, aber schon 1977 verkündeten die meisten hochschulpolitischen Erklärungen in Deutschland ihr Ende. Der politische "Liebesentzug" war schon perfekt, bevor die Stärken und Schwächen dieses Modells einigermaßen eindeutig aufgetreten und geprüft sein konnten.

"Unikat im Uni-Reigen"

In Kassel fiel die Entscheidung, die neue Hochschule nicht entsprechend dem Mainstream in zwei Institutionen aufzugliedern, sondern einen eigenen untypischen Weg einzuschlagen – als "Unikat im Uni-Reigen", wie es später formuliert wurde. Man war überzeugt, dass besondere Akzente schon Akzeptanz finden könnten, und man hoffte auch, dass das deutsche Hochschulsystem sich später mehr auf intra-institutioneller Differenzierung zubewegen würde.

In vielen Fächern wurden gestufte Studiengänge (Diplom I und Diplom II) – das sogenannte Konsekutiv-Modell – eingeführt. Auch wurden längere Praxisphasen vorgesehen – mit enger Verknüpfung zu Lehre und Studium – als an den Universitäten. Auf Interdisziplinarität wurde in Lehre und Forschung Wert gelegt. Viele Reformideen der damaligen Zeit spielten in Fachrichtungen eine Rolle, die sich nur bedingt auf universitäre Traditionen stützen konnten: Etwa in der Pädagogik, der Sozialarbeit und in der Stadtplanung.

Wegen dieser Sonderrolle setzte sich eher in Kassel als anderswo die Überzeugung durch, dass eine Hochschule ein strategischer Akteur sein muss: Ein besonderes Profil herausarbeiten, aber zugleich die Vielfalt von Konzeptionen pflegen, um nicht diejenigen zu entmutigen, die den besonderen Akzenten nicht nahestehen.

Eine zentrale Profilierungsentscheidung war, den Nachteilen, denen sich fast alle neuen Universitäten gegenüber der Reputation von alt-etablierten Universitäten ausgesetzt sahen, durch starke Schwerpunktsetzungen in der Forschung zu begegnen – und das vor allem in wissenschaftlichen Bereichen,  die bisher von den alt-etablierten Universitäten kaum aufgegriffen waren. Das frühzeitig sich verbreitende Unbehagen über die Gefährdung der Umwelt wurde in Kassel in verschiedenen Bereichen zentrales Thema, etwa in der Ökologischen Agrarwissenschaft. Am eindrucksvollsten war, wie aus einer Professur ein großes Forschungsinstitut für Solartechnik hervorging, das später auch außerhalb der Hochschule die Gründung von SMA – eines der weltweit bedeutendsten Unternehmen der Solartechnik – auslöste und auch entscheidend dafür war, dass in Kassel das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik etabliert wurde. Von den Interdisziplinären Zentren, die zunächst vor allem im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften entstanden, wurde insbesondere INCHER-Kassel weltweit bekannt – heute mit dem englischsprachigen Namen International Centre for Higher Education Research. Hinzu kamen internationale Akzente in Forschung und Lehre, etwa das Studienprogramm Deutsch für Ausländer.  

Neue Kontext-Bedingungen seit Beginn des 21. Jahrhunderts

Spätestens zu Beginn der 21. Jahrhunderts waren die Kontext-Bedingungen für die Kasseler Institution völlig verändert: Bemühungen um eine enge Verknüpfung von wissenschaftlicher Qualität und praktischer Relevanz wurden auf dem Wege zur "Wissensgesellschaft" nicht mehr als Ausnahme betrachtet. Die Etablierung von gestuften Bachelor- und Master-Studiengängen an allen deutschen Hochschulen ließen ein zentrales Element intra-institutioneller Differenzierung, wie es Kassel lange hatte, zum Normalbild werden, und der Abstand zwischen Universitäten und Fachhochschulen  verringerte sich in verschiedener Hinsicht. Die Kasseler Hochschule war nunmehr eher der Normalfall als ein Unikat. Und sie war eine Universität mit breitem Fächerspektrum, zu dem auch die Ingenieurwissenschaften und die Kunst gehörten.

"Die Bezeichnung 'Gesamthochschule' wurde aufgegeben, da sie auf Sonderheiten verwies, die keine Besonderheiten mehr waren."

Daher war es auch normal, dass die Bezeichnung "Gesamthochschule" aufgegeben wurde, die nicht nur Glück gebracht hatte und die auf Sonderheiten verwies, die jetzt keine Besonderheiten mehr waren. Aber den Verantwortlichen der Universität Kassel war klar, dass weiterhin Herausforderungen zu bewältigen waren. Es zeichnete sich bereits ein Wettbewerb um die Reputation in der Forschung ab, der wenige Jahre später mit der Exzellenz-Initiative, der leistungsbezogenen Hochschullehrerbesoldung und in der vermehrten Forschungsfinanzierung über Drittmittel hochschulpolitisch gezielt verstärkt wurde.

Strategische Prioritätensetzung – wohl eine Daueraufgabe

Drei strategische Richtungen waren in jüngsten zwei Jahrzehnten bemerkenswert: Erstens erhob die Universität Kassel weiter an sich den Anspruch, in Lehre und Studium herausragende Qualität und besondere Relevanz zu bieten. In der Tat wurde sie besonders häufig von dem neu eingeführten Hessischen Programm "Exzellenz in der Lehre" ausgezeichnet, und es ist auch ein Zeichen für einen guten Ruf in Lehre und Studium, dass die Zahl der Studierenden überdurchschnittlich – auf etwa 25.000 – stieg. Erhalten blieb zweitens die Überzeugung, dass in Kassel mehr qualitativ hochwertige Forschung zügig realisiert werden kann, wenn man auf neue Themen-Terrains zugeht, aber in dieser Entwicklungsstufe wurde ein breiteres Spektrum von Schwerpunkten gefördert als zuvor. In dem jüngsten Selbstevaluationsbericht der Universität Kassel werden acht "Forschungsfelder", vier "Wissenschaftliche Zentren" und neun "Kompetenz- und Forschungszentren" genannt. Drittens wurden Bemühungen um eine übergreifende Profilbildung fortgesetzt. Eine besondere Chance bietet sich dafür in einem der beiden größeren Forschungsschwerpunkte, die sich in letzter Zeit herausgebildet haben: Mehr als ein Drittel der Professorinnen und Professoren befassen sich mit dem Themenbereich "Nachhaltigkeit", und durch das Hessische "300 Professuren Programm" erhielt die Universität Kassel die Möglichkeit, 17 neue Professuren entsprechend den 17 "Sustainable Development Goals" der Vereinten Nationen einzurichten.

Nach 50 Jahren fällt es an der Universität Kassel leicht, das Erreichte und das noch zu Erreichende offen strategisch zu reflektieren. Die vielen Besonderheiten des bisherigen Weges haben Selbst-Evaluation und strategisches Vorausdenken zur Normalität werden lassen. Eine Suche nach weiterführenden Akzenten wird wohl auch in der Zukunft dazugehören.