Zwei Jahre Corona
Von der Pandemie zur Endemie
Rund zwei Jahre sind vergangen seit den ersten Berichten über eine mysteriöse Lungenkrankheit in der chinesischen Metropole Wuhan. Mittlerweile steckt Deutschland in der vierten Corona-Welle – der bisher schlimmsten, gemessen an der Zahl der Infizierten. Und Experten halten hierzulande noch immer so viele Menschen für empfänglich, dass das Virus weitere Wellen befeuern könnte. Hört das denn nie auf?
Ausrotten lässt sich ein so ansteckender und verbreiteter Erreger wie Sars-CoV-2 laut Fachleuten aller Voraussicht nach nicht. Die Annahme ist vielmehr, dass das Virus endemisch wird. Das kann laut dem Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI), Professor Lothar Wieler, bedeuten, dass es wie die Grippe saisonal für Infektionswellen sorgt, ohne jedoch in einem Ausmaß wie bisher Menschen schwer krank zu machen.
Das Immunsystem wird dann nicht mehr mit einem neuartigen Erreger konfrontiert, sondern ist durch frühere Infektion oder durch Impfung gewappnet. Wieler spricht von Grundimmunität, die aufgebaut werden müsse. Epidemische Verläufe im Sinne eines langdauernden oder schnellen Anstiegs von Infektionszahlen würden dann ausgebremst, erläutert der Epidemiologe Professor Rafael Mikolajczyk aus Halle.
Was seit Pandemiebeginn abläuft, ist im Prinzip ein Prozess der Anpassung. "Wie lange die Anpassung bei Sars-CoV-2 dauern wird, lässt sich schwer voraussagen", sagte Wieler der Deutschen Presse-Agentur. Vier verschiedene Corona-Erkältungsviren gebe es schon. "Auch die sind irgendwann einmal vom Tier auf den Menschen übergegangen." Anzunehmen sei, dass der Übergang in den endemischen Zustand bei ihnen schon sehr lange zurückliegt, "Jahrzehnte oder Jahrhunderte".
Was den Übergang von der Pandemie in die Endemie beeinflusst
Bei Sars-CoV-2 sei die Lage wegen der Impfstoffe eine besondere: "Wenn sich ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger impfen lässt, haben wir den endemischen Status mit weniger schweren Krankheitsverläufen schneller", sagt Wieler.
Eine neu auftretende Virusvariante oder Veränderungen bei bereits bekannten Varianten könnten den weiteren Verlauf jedoch stark beeinflussen. Es sei entscheidend, schnell und effektiv zu handeln, um die Verbreitung des Virus und neuer Varianten zu verlangsamen: mit Maßnahmen und hoher Impfquote. Die Ausbreitung neuer Varianten zu verhindern, sei "extrem schwer".
Solche Varianten könnten Epidemiologen zufolge grundsätzlich sowohl das Erreichen der Endemie hinauszögern als auch beschleunigen. Im Einzelnen hängt das etwa davon ab, wie gut der Impfschutz erhalten bleibt, wie sich die Verbreitungsgeschwindigkeit und die Krankheitsschwere verändern – und welche Maßnahmen in Kraft sind.
WHO dringt auf faire Impfstoffverteilung
Der Übergang von einer Pandemie in einen endemischen Zustand hänge nicht nur von der Virus-Entwicklung ab, sondern auch vom globalen Erfolg der Maßnahmen, sagt Wieler: "Beides bedingt sich gegenseitig."
Was die schleppende Impfung in ärmeren Ländern angeht: Da wirft der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, den reichen Ländern moralisches Versagen vor. "Niemand ist sicher, bis alle sicher sind", wiederholt er gebetsmühlenartig und kanzelt die reichen Länder ab, weil sie Impfstoffe horteten, während in Dutzenden Ländern händeringend auf die Impfdosen gewartet werde.
Wenn das Virus in fernen Ländern ungehindert zirkuliere, könnten gefährliche Varianten entstehen, die sich über den Globus verbreiten und gegen die die heutigen Impfstoffe wirkungslos sein könnten. "Für Gleichheit bei der Impfstoffverteilung zu sorgen ist kein Akt der Wohltätigkeit, es ist im besten Interesse jedes Landes", sagte er – schon bevor die Omikron-Variante Ende November als besorgniserregend eingestuft wurde.
Wie es in Deutschland weitergehen könnte
Hierzulande sind noch Millionen Menschen ohne Impfung, darunter viele ab 60. Experten warnen, dass auch nächsten Winter noch nicht Schluss sein könnte mit größeren Corona-Wellen. Mit dem mittlerweile großen Anteil an Geimpften in der Bevölkerung sei zwar viel erreicht. "Wir sind natürlich schon weit", sagt RKI-Chef Wieler. "Das ist jetzt die zweite Wintersaison. Wir kennen das von früheren Influenza-Pandemien, dass es in der Regel zwei bis drei sehr starke Erkrankungswellen gab, bevor sich das Geschehen einpendelte."
Wo genau Deutschland steht, dürfte sich Wieler zufolge im Frühjahr klarer zeigen. Es liefen Studien zur Verbreitung von Antikörpern gegen Corona in der Bevölkerung, sei es durch Infektion oder durch Impfung. "Je höher der Anteil der Menschen mit Antikörpern im Frühjahr ist, desto besser sieht es aus für uns." Ende 2020, bevor es mit dem Impfen losging, hatten laut dem RKI-Chef erst etwa zwei Prozent entsprechende Antikörper.
China geht rigoros gegen Sars-CoV-2 vor
China, wo die Pandemie mit einem Ausbruch in Wuhan begann, versucht dem Virus so wenig Raum wie möglich zu geben. Im bevölkerungsreichsten Land der Erde werden seit weit über einem Jahr kaum noch Covid-19-Erkrankungen registriert. Zuletzt war in den Staatsmedien zwar von der "schwersten Welle" seit Wuhan die Rede. Aber was bedeutet schon "schwer", wenn man die Zahlen mit der Lage in Deutschland vergleicht? Seit Oktober zählten die Behörden wenige Tausend Infektionen – in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen.
Möglich sind solche Werte, weil China das Virus zuerst mit strengen Lockdowns austrocknete und sich gleichzeitig vom Rest der Welt abschottete. Wer noch einreisen darf, muss in der Regel 21 Tage in Hotelquarantäne verbringen. Sobald in einer Stadt einzelne Infektionen auftreten, werden umgehend Massentests und Ausgangssperren verordnet. Anzeichen, dass die politische Führung auf absehbare Zeit von ihrer strikten Null-Covid-Strategie abweichen will, gibt es nicht.
Chinesen werden also weiterhin kaum Kontakt mit Sars-CoV-2 haben. Doch was geschähe, würden die Schutzmaßnahmen doch einmal versagen? Dann käme es auf die Impfstoffe an. Doch es gibt zunehmend Zweifel daran, dass die chinesischen Präparate ähnlich wirksam sind wie die der westlichen Hersteller. Steht China das Schlimmste womöglich noch bevor?
Aus historischer Sicht: Nach der Seuche ist vor der Seuche
Auch wenn teils davon die Rede ist, dass eine Pandemie drei Jahre dauere: Eine Faustregel zur Dauer könne man aus früheren Seuchen nicht ableiten, sagt der Medizinhistoriker Professeor Jörg Vögele von der Universität Düsseldorf. Nicht nur die Eigenschaften der jeweiligen Krankheitserreger, sondern auch die gesellschaftlichen Umstände seien zu unterschiedlich. Historisch werde das Ende von Pandemien etwa an einem Absinken der Sterbezahlen festgemacht.
Pandemien hätten neben einem epidemiologischen aber immer auch ein soziales Ende, sagt Vögele. "Man hat zum Beispiel bei der Spanischen Grippe gesehen, dass die Menschen irgendwann gesagt haben: Es ist genug jetzt" – obwohl das Ende epidemiologisch gesehen noch nicht vollkommen erreicht gewesen sei. Auch die Resilienz einer Gesellschaft spiele eine Rolle: "Für die an Leid und Tod gewöhnte Nachkriegsgesellschaft zum Beispiel galt die Asiatische Grippe ab 1957 als kein so starker Einschnitt wie Corona für uns heute."
"Eine Lehre aus der Geschichte ist: Wenn die eine Seuche vorbei ist, kommt die nächste", sagt Vögele auch. Heutzutage könnten Klimawandel und Globalisierung das Auftreten von Epidemien und Pandemien beschleunigen: "Es ist zu befürchten, dass so etwas künftig häufiger vorkommen wird."
Endemie muss nicht Endemie bleiben
Generell könnte auch aus einer Endemie wieder eine Pandemie werden: "Neue Varianten können leider immer wieder zu einer neuen pandemischen Welle führen", sagte der Epidemiologe Professor Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Umso entscheidender sei die globale Durchimpfung der Weltbevölkerung, "das verringert das Risiko für neue stark mutierte Varianten". Auch Epidemiologe Mikolajczyk betont: Ein Blick nur auf das eigene Land greife zu kurz.
RKI-Chef Wieler hält so ein Szenario derzeit "für eher unwahrscheinlich" – wegen der Grundimmunität. Viren entwickelten sich zwar auch dann punktuell weiter und könnten Krankheitswellen verursachen. Für eine weitere Pandemie müsste sich das Virus laut Wieler jedoch "substanziell ändern – so wie man das von Influenzaviren kennt". Coronaviren besäßen keinen vergleichbaren Mechanismus.
Christiane Oelrich, Jörn Petring und Gisela Gross (dpa)