Degrowth-Forderungen
Wachstum oder Postwachstum?
Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung findet sich eine mutige Ankündigung: "Es gilt, die soziale Marktwirtschaft als eine sozial-ökologische Marktwirtschaft neu zu begründen." Wie diese Neubegründung im Detail aussehen wird, ist noch nicht ausgemacht, doch die Marschroute scheint klar gesetzt: "Wir setzen [...] auf konkrete Maßnahmen, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden und die Menschen mitnehmen." Der Mensch soll nach dem Willen der Regierungsparteien im Mittelpunkt einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft stehen, und diese darf nicht im Ungefähren verbleiben, sondern muss in eine fassbare und effektive Wirtschaftspolitik münden. Interessanterweise verabschiedet sich die Koalition dabei nicht vom Wachstumsbegriff, möchte ihn aber als "nachhaltiges Wachstum" verstanden wissen.
Vielen Menschen wird das zu wenig sein. Einem wachsenden Anteil der Bevölkerung erscheint es unausweichlich, dass nur noch ein rascher, radikaler Wechsel unserer Lebensweise die Rettung vor dem drohenden Kollaps bietet. Dieser Wandel muss – so die eindringliche Mahnung von Postwachstumsökonomen – vor allem auch weitreichende Konsequenzen dafür haben, wie und wie viel wir wirtschaften. Ein Ende des Wachstums scheint zumindest aus drei Gründen geboten: Erstens führen immer weitreichendere Produktivitätssteigerungen bei gleichem materiellem Wohlstand zur Freisetzung von Kapazitäten, nach weiteren Spezialisierungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn man sich nicht mehr vorrangig um die eigene Basisversorgung kümmern muss, kann man anfangen, systematisch neue Geräte und Prozesse zu entwickeln. Dies verschlingt weitere endliche Ressourcen.
Zweitens ist die Hoffnung, "grünes Wachstum" zu erzeugen, häufig trügerisch. Der Entkoppelung von Wachstum und Umweltbelastung sind enge Grenzen gesetzt und aufgrund zahlreicher technischer, ökonomischer und psychologischer "Reboundeffekte" dauerhaft eine Illusion. Auch die Digitalisierung wird hierbei kein Game Changer sein, wie viele jüngere empirische Studien zeigen. Denn nicht selten führen Effizienzsteigerungen durch Digitalisierung und smarte Anwendungen zu Mehrkonsum in anderen Bereichen. Zudem muss der Verbrauch ohnehin schon knapper Ressourcen, die für die digitale Transformation eingesetzt werden, gegengerechnet werden.
Drittens, so könnte man mit dem Ökonomen und Glücksforscher Matthias Binswanger konstatieren, befinden wir uns in einer "hedonistischen Tretmühle": Wir strengen uns ständig an, um unser Einkommen durch den nächsten Karriereschritt zu erhöhen, aber der soziale Aufstieg gelingt nicht, da alle anderen um uns herum sich genauso verhalten. In der Summe steigen lediglich das Einkommen und der Verbrauch aller. Der Wachstumskritiker Niko Paech (siehe Beitrag in diesem Heft auf S. 520) spricht hier vom "Fremdversorgersystem", in das wir uns immer weiter verstricken; er fordert stattdessen eine "Befreiung vom Überfluss". Ohne Zweifel: Die Zukunft wird sich um die Frage drehen, wie nachhaltiger bzw. suffizienzorientierter Konsum aussehen kann. Wir werden Debatten beispielsweise über das Recht auf Reparatur, informationelle Selbstbestimmung und die Personalisierung digitaler Vermarktungsstrategien führen müssen. Hierzu gehört auch, die Potenziale einer Sharing Economy zu nutzen, genauso wie die Reduktion unserer Mobilität, die Rückführung von fossilen Rohstoffimporten und die Renaturierung von Flächen anzugehen. Es spricht zudem vieles dafür, dass eine genügsamere auch eine entspanntere und erfüllendere Lebensweise ist.
Behutsame Forderungen nach einem Lebenswandel
Jedoch: So unabdingbar es ist, schrittweise unseren Lebensstil zu ändern, so behutsam sollte man mit einer Forderung nach einem radikalen Schnitt sein. Es ist völlig legitim, einen Kultur- und Lebenswandel zu predigen, aber es ist in einer freiheitlichen Gesellschaft weder angemessen noch nachhaltig, ihn bis ins Detail zu verordnen – auch wenn manche Apologeten einer Gemeinwohlökonomie wie der Österreicher Christian Felber genau diesen Weg einschlagen möchten. Die Verschiebung unserer Konsum- und Produktionsmuster hin zu einer klimaverträglichen Struktur muss so gestaltet werden, dass die Gesellschaft in ihrer Breite diesen Prozess akzeptiert und unterstützt. Schon jetzt hat man den Eindruck, dass Urban Gardening in geteilten Gärten, der Konsum nachhaltig produzierter Lebensmittel oder Reparatur-Initiativen Elite-Projekte sind, die für die klassische Mittelschicht doch weit von der Lebensrealität entfernt sind. Man mag als Professor entspannt mit dem Zug von Vortrag zu Vortrag reisen (sofern das mit der Bahn derzeit möglich ist), für eine berufstätige Mutter mit zwei Kindern wird die Jonglage zwischen Sportverein und Musikunterricht mit dem ÖPNV im ländlichen Raum nur begrenzt gelingen.
Die Hoffnung von nicht wenigen Postwachstumsökonomen, dass wir in naher Zukunft weniger arbeiten, dass verbleibende gesellschaftliche Einkommen in gerechter, am besten gleicher Weise und bedingungslos an alle ausgeschüttet werden, sodass sich dann jeder mit Dingen beschäftigen kann, die ihr oder ihm wirklich am Herzen liegen, erinnert ein wenig an die großen sozialistischen Traumgebilde, so wie in Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung". In diesen, auf 1.600 Seiten geballten großartigen Gedankenwolken, erschienen zwischen 1954 und 1959, trieben ihn "Fragen der erfüllenden, von Ausbeutung befreiten Arbeit, aber auch eines Lebens jenseits der Arbeit" um. Wenn man bedenkt, dass es einem nicht geringen Teil der deutschen Bevölkerung schwerfällt, den einfachen Zusammenhang "Impfung hier – Ende der Pandemie dort" zu akzeptieren, wie viel schwerer wird es gelingen, Menschen davon zu überzeugen, liebgewonnene, aber klimaschädliche Gewohnheiten aufzugeben und sich einer neuen Lebensweise hinzugeben – und das in Zeiten, in der viele sich von den unaufhaltsamen und rasanten Änderungen der Lebenswelt und geopolitischen Unwägbarkeiten bereits jetzt überfordert fühlen. So werden Verzichtsforderungen nicht nur als Überforderung empfunden, im schlimmsten Fall klingt es wie Hohn der Bessergestellten – und damit wäre der ökologischen Sache ein Bärendienst erwiesen. Ohne Maßnahmen, die für alle gelten und für die meisten akzeptabel sind, wird es nicht glücken, den Umbau Richtung Nachhaltigkeit gesellschaftlich breit zu verankern und demokratisch zu legitimieren.
"Eine Postwachstumsökonomie steht in der Gefahr, unversöhnliche Verteilungskämpfe zu forcieren."
Hinzu kommt ein handfestes ökonomisches Problem. Das Versprechen von Ludwig Erhard "Wohlstand für alle" war und ist daran gekoppelt, dass eine wachsende Wirtschaft Verteilungsspielräume eröffnet. Diese Spielräume schwinden sichtlich. Eine Postwachstumsökonomie aber steht in der Gefahr, unversöhnliche Verteilungskämpfe zu forcieren. Die Gelbwestenproteste, die die geplante höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe in Frankreich auslöste, sind ein mahnendes Beispiel.
Sozialverträglicher Regelwandel
Vielversprechender als auf einen Lebenswandel zu setzen ist es, einen behutsamen, sozialverträglichen Regelwandel anzugehen. Ausgangspunkt ist die Logik ökonomischer Steuerungsinstrumente wie die einer CO2-Steuer, aber auch eines Emissionshandels. Die Grundlogik ist bei beiden die gleiche: Es geht um einen Preis für CO2, der einen Anreiz setzt, Emissionen zu reduzieren. Anfänge hierzu sind in Deutschland und vor allem durch das Europäische Emissionshandelssystem gemacht. Wenn Preissignale stark genug sind, wird dies auch zu grundlegenden Änderungen bei der Infrastruktur und beim Konsumverhalten führen. Aber: Es obliegt der freien Entscheidung von Bürgerinnen und Bürgern, wie genau sie sich im Einklang mit ihren eigenen Wünschen und Zielen mit den neuen Preissignalen arrangieren.
Wir haben in unserem neuesten Buch ein an das sogenannte "Schweizer Modell" angelehntes System vorgeschlagen, das vor allem das untere Drittel der Einkommensbezieher entlastet und nach oben hin abgeschmolzen wird, verbunden mit dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs vor allem im ländlichen Raum und der Förderung der Wohngebäudedämmung. Bei einem CO2-Preis in Höhe von 180 Euro pro Tonne, wie er vom Umweltbundesamt ins Gespräch gebracht wurde, erhalten in unserem Modell die ärmsten zehn Prozent 40 Euro pro Monat an Nettoerstattung. Die reichsten zehn Prozent bezahlen knapp 240 Euro pro Monat mehr. Der Medianhaushalt muss gut 25 Euro mehr jeden Monat entrichten. Anreize zu setzen und Verteilungswirkungen im Vorfeld zu berücksichtigen, statt sie dem sozialstaatlichen Reparaturmechanismus zu überlassen, wird dem klimafreundlichen Umbau der Gesellschaft eher und vor allem schneller dienlich sein als auf einen globalen Gesinnungswandel zu hoffen. Der oft gehörte Kehrvers, dass global eine Regelsetzung kaum gelingen kann, ist wenig überzeugend. Hier gibt es zahlreiche erfolgversprechende Ideen wie beispielsweise der Gedanke eines internationalen Klima-Clubs, wie ihn der Ökonom und Nobelpreisträger William Nordhaus vorgeschlagen hat.
"Ziel ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die einem gelingenden Leben dienlich ist."
Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft, der vor 75 Jahren erstmals in dem Buch "Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" des Wirtschaftswissenschaftlers und Kultursoziologen Alfred Müller-Armack gedruckt vorlag, mag in die Jahre gekommen sein, die Botschaft ist aber weiterhin aktuell: Das Ziel ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die einem gelingenden Leben dienlich ist. Markt und Wettbewerb sind ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Es geht nicht um mehr oder weniger Wachstum, sondern um effiziente, nachhaltige und gesellschaftlich akzeptable Regeln für das Wirtschaften. Schon Ende der 1950er Jahre forderte Müller-Armack entsprechend eine "zweite Phase" der Sozialen Marktwirtschaft: "Nicht die materielle Güterversorgung als vielmehr die sinnvolle und lebensgemäße Gestaltung der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt, die noch nicht ihren neuen Stil erhalten hat, dürfte dabei im Vordergrunde stehen." Schöner kann man das Ansinnen einer sozial-ökologischen und die Gesellschaft befriedenden Marktwirtschaft wohl nicht umschreiben.
Zum Weiterlesen
Goldschmidt, N. & Wolf, S. Gekippt. Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten. Herder: Freiburg, 2021.
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