Tafel vor einem Lokal kündigt die 2G-Regel an
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Angespannte Corona-Lage
Was Wissenschaftler nun zur Pandemie raten

Die Corona-Zahlen steigen auf Rekordniveau, die Kliniken werden wieder voller. Was ist nun zu tun? Wissenschaftler haben Vorschläge.

10.11.2021

Nach mehr als eineinhalb Jahren Corona und weit verbreiteter Pandemie-Müdigkeit will solche Sätze wohl kaum jemand hören. Kurzfristig müsse man wieder Maßnahmen diskutieren, "die wir eigentlich hofften, hinter uns zu haben", sagte der Berliner Virologe Professor Christian Drosten im NDR-Podcast "Das Coronavirus-Update", der am Dienstagabend veröffentlicht wurde. "Wir müssen also jetzt die Infektionstätigkeit durch Kontaktmaßnahmen wahrscheinlich wieder kontrollieren – nicht wahrscheinlich, sondern sicher", sagte der Virologe. Er schränkte allerdings auch ein, dass es juristisch schwer sein könnte, breite allgemeine Kontaktbeschränkungen durchzusetzen.

Drosten erwartet einen sehr anstrengenden Winter "mit neuen, sagen wir ruhig: Shutdown-Maßnahmen". Maßnahmen wie 3G oder selbst 2G reichten vermutlich nicht aus, um angesichts der Delta-Variante die Zahl der Infektionen genug zu senken. Er sprach von einer "echten Notfallsituation" angesichts der Lage auf den Intensivstationen. "Wir müssen jetzt sofort etwas machen."

Auch andere Forscher haben Vorschläge, wie der aktuellen Corona-Welle beizukommen ist. "2G plus Test dürfte Standard werden über den Winter", erklärte Professor Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Das würde bedeuten, dass nur Geimpfte und Genesene Zutritt zu bestimmten Orten haben und zusätzlich getestet sein müssen. Denn auch Geimpfte und Genesene (2G) könnten sich infizieren. "Es ist dringend nötig, dass wir vom Entspannungsmodus in den Ernsthaftigkeitsmodus zurückkehren, leider auch alle Geimpften." Einige besonders stark betroffene Bundesländer haben in den vergangenen Tagen ihre Corona-Regeln schon verschärft.

Jedem und jeder müsse klar werden: "Die Impfung wirkt gut gegen schwere Verläufe, aber eben deutlich weniger und mit Abstand vom Impftermin abnehmend gegen Infektionen", meint Zeeb. Hier brauche es Untersuchungen. Regelmäßiges Testen besonders im beruflichen Umfeld und in Schulen müsse am besten wieder zur Pflicht werden.

Geimpfte bei Infektionsgeschehen nicht außen vor

Auch vollständig Geimpften müsse deutlicher als bislang vermittelt werden, dass sie sich noch anstecken und die Infektion weitergeben können und dass in Einzelfällen auch ein schwerer Verlauf möglich ist, erklärte Jan Fuhrmann, Experte für mathematische Epidemiologie an der Universität Heidelberg. "Das trifft insbesondere auf Situationen zu, in denen sie vielen Viren in der Atemluft ausgesetzt sind, vor allem bei langem Aufenthalt mit vielen Personen auf engem Raum bei schlechter Belüftung." Viele der Betroffenen würden angesichts dieser Information schon von sich aus mehr Vorsicht walten lassen, ohne dass man dafür Regeln verschärfen müsste, vermutete er.

Reine 2G-Regeln etwa beim Einlass in Restaurants sind auch aus Fuhrmanns Sicht nicht die Lösung, wenn es um die reine Eindämmung der Infektionsausbreitung geht – solange sie nicht durch eine zusätzliche Testpflicht auch für Geimpfte und Genesene begleitet werden. "Was 2G bewirkt, ist ein zusätzlicher Impfanreiz und die Verringerung des Risikos, dass jemand der Anwesenden einen schweren Verlauf erleidet, falls doch Infizierte anwesend sind und Ansteckungen stattfinden."

Zudem betonen die Forscher die Bedeutung der Impfungen, insbesondere sogenannter Booster- oder Auffrischungsimpfungen. Diese erhöhten den Schutz schon vor der reinen Ansteckung erheblich, sagte Fuhrmann. "Allerdings ist hier wieder nicht klar, wie lange dieser Effekt anhält." Insgesamt sei der Unterschied zwischen dem Risiko eines schweren Verlaufs zwischen vollständig Geimpften und Ungeimpften größer als der zwischen Personen mit und ohne Boosterimpfung.

Gerade mit Blick auf den Schutz besonders bedrohter Menschengruppen, führt aus Sicht von Zeeb kein Weg an einer Impfpflicht – samt Boosterpflicht – für Pflege- und medizinische Berufe vorbei. Auch die Impfgeschwindigkeit müsse dringend wieder deutlich angehoben werden, forderte er. "Ob es ohne Impfzentren geht, täglich ein Prozent der Bevölkerung zu impfen wie im Sommer 2021, da bin ich skeptisch." Fuhrmann sprach sich dafür aus, den Betroffenen zumindest zeitnah eine Auffrischungsimpfung anzubieten.

Auch für gefährdete Personengruppen selbst sei eine Auffrischung durchaus ratsam, sagte Fuhrmann. Die schon geimpften Menschen seien auch einfacher zu erreichen. "Bei den bislang noch Ungeimpften dürfte es zunehmend schwerer werden, diejenigen zu erreichen, die bislang noch kein Impfangebot wahrgenommen haben."

Delta-Variante wahrscheinlich nicht durch Impfung ausrottbar

Eine Zielvorgabe für Impfquoten ist nach Angaben des Mathematikers praktisch nicht mehr anzugeben, wenn es darum geht Infektionen zu vermeiden. "Die Delta-Variante ist so ansteckend, dass auch eine nahezu vollständige Durchimpfung nicht zu einer Ausrottung der Krankheit führen würde, zumal die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die reine Infektion innerhalb weniger Monate nachlässt." Der Schutz vor schwerer Erkrankung halte hingegen deutlich länger an, auch wenn er nicht perfekt sei. "Es wird immer einen kleinen Teil der Geimpften geben, die trotz Impfung schwer erkranken können", fasste er zusammen. "Bei vielen Millionen Geimpften macht eben auch dieser kleine Teil Zehn- oder gar Hunderttausende Menschen aus."

Aus Sicht von Epidemiologe Zeeb sollte auch die Maskenpflicht in engen Innenräumen beibehalten beziehungsweise wieder ausgeweitet werden, egal ob 2G oder 3G. "Und es muss konsequent an die globale Zukunft gedacht werden: Wenn wir nicht dauernd wieder auf neu eingetragene Corona-Infektionen reagieren wollen, dann bleibt die Unterstützung der globalen Impfkampagne unverzichtbar und muss genauso viel Schub haben wie die Pandemiebekämpfung hier."

Dr. Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation ist es wichtig, dass Politiker und Politikerinnen vor allem das Ziel ihrer Strategie klar kommunizieren. Dann könne man die Maßnahmen darauf einstellen. "Ist das Ziel nicht definiert, dann verpuffen einige der Maßnahmen", sagte die Forscherin. Bei der Strategie stelle sich die Frage, ob wir über viele Wochen am Limit der Intensivstationen bleiben sollen oder die Belastung dort verringert werden soll mit entsprechend stärkeren Maßnahmen.

"Beides sind realistische Szenarien, denn das Impfen und Boostern wird einige Zeit dauern, bis es seine Wirkung entfaltet", betonte Priesemann. Bei der aktuellen Impfgeschwindigkeit von 0,2 Prozent der Bevölkerung pro Tag dauere es zudem Monate, um wie in Israel die Hälfte der Menschen mit Boostern zu erreichen. "Ein wirklich zügiges, niedrigschwelliges Impfen und Boostern würde hier – genauso wie in Israel – mit großer Sicherheit die aktuelle Welle brechen."

Leopoldina und Ethikrat für berufsbezogene Impfpflicht

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina fordert eine Impfpflicht in bestimmten Berufen sowie eine Offenlegung des Impfstatus von Arbeitnehmern, heißt es im Vorwort des Präsidenten Gerald Haug in einer Stellungnahme der Leopoldina vom Mittwoch. Bislang ist es den meisten Arbeitgebern aus Gründen des Datenschutzes nicht erlaubt, ihre Bediensteten nach dem Impfstatus zu fragen. Die Arbeitsschutzverordnung müsse eine "angemessene Relegung" dazu enthalten, fordert Haug. Auch die 2G-Regel soll laut Akademie "eine größere Geltungsreichweite" erhalten. Gleichzeitig wollen die Wissenschaftler "Impfpflichten für Multiplikatoren". Darunter versteht die Leopoldina Berufsgruppen mit engem Kontakt zu besonders gefährdeten Menschen, etwa in der Gesundheitsversorgung und der Altenpflege, erläuterte eine Sprecherin gegenüber "Forschung & Lehre". Mit Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern habe sich die Leopoldina bisher nicht explizit befasst. Generell notwendig seien außerdem mehr Neu- und Auffrischungsimpfungen in der Bevölkerung, mehr Tests sowie weiterhin Maskentragen in Innenräumen.

Neben diesem aktuellen Vorwort bezieht sich die Stellungnahme der Leopoldina hauptsächlich auf die Forderung, antivirale Medikamente zur Behandlung einer bereits ausgebrochene Covid-19-Erkrankung intensiver zu erforschen. Die wenigen vorhandenen Medikamente gegen Sars-CoV-2 seien nicht ausreichend. Es sei zu erwarten, dass das Coronavirus dauerhaft als endemisches Virus zirkulieren werde und sich auch nach den großen Wellen langfristig weiterhin einige Menschen infizieren und schwer erkranken würden. Auch zum Schutz vor künftigen Pandemien brauche es breit wirksame antivirale Medikamente. Eine weitere Empfehlung der Leopoldina ist, zirkulierende Virusstämme und ihr pandemisches Potenzial durch Sequenzierungen besser epidemiologisch zu überwachen.

Auch der Deutsche Ethikrat teilte am Donnerstag angesichts der gegenwärtigen pandemischen Situation mit, er plädiere mit großer Mehrheit für eine "rasche Prüfung einer berufsbezogenen Impfpflicht in Bereichen, in denen besonders vulnerable Menschen versorgt werden" seitens der Bundesregierung. Dies betreffe Beschäftigte, die schwer oder chronisch kranke sowie hochbetagte Menschen beruflich versorgten, weil sie eine besondere Verantwortung für diese Personen trügen. Abgesehen von diesen Berufsgruppen solle die Impfung freiwillig bleiben, jedoch sollten die Anstrengungen, möglichst alle Menschen von der Notwendigkeit der Impfung zu überzeugen, verstärkt werden.

zuletzt aktualisiert am 11.11.2021 um 09:44 Uhr, zuerst veröffentlicht am 10.11.2021 um 10.10 Uhr

dpa/ckr