Ein internationales Team aus Forschenden arbeitet an einer durchsichtigen Tafel wissenschaftlich zusammen.
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China-Kompetenz
"An einem Tag sind wir Partner, am Tag darauf Systemrivalen"

Dr. Hannes Gohli, Leiter des "China Kompetenzzentrum" der Universität Würzburg, plädiert im Interview für Differenzierung. China sei vielfältig.

Von Christine Vallbracht 06.05.2024

Forschung & Lehre: Herr Dr. Gohli, Ihr persönlicher Bezug zu China. Wie würden sie diesen beschreiben? 

Hannes Gohli: Als ich mir ein Studium aussuchen musste, war Wirtschaftswissenschaften für mich klar. Aber ich brauchte noch eine Nische. China war groß im Kommen. Ich war tatsächlich nie davor im Land gewesen, hatte keine chinesischen Freunde. Nachdem ich das erste Mal drüben war, war ich sehr angetan. Es ist ein Land voller Gegensätze und Spannungen. Das Essen schmeckt ausgezeichnet, die Landschaft ist wunderschön. Alles wirkt sauber und geregelt. Das gefällt mir sehr gut. Die Gastfreundschaft, die wir dort erleben, ist unfassbar. Es entwickelte sich in mir ein akademisches Interesse, die Gegensätze im Land zu erfassen. 
Umso mehr ich von China kennenlerne, umso weniger habe ich das Gefühl, dass ich es verstehe. Ich glaube, das wird eine lebenslange Faszination bleiben. Das kann ich sehr gut von der Geopolitik trennen, auch wenn die Anspannung in Europa und Amerika die Forschung deutlich schwieriger macht.

Ein Mann mit dunklen Haaren und Bart, gekleidet in einem grauen Anzug, lächelt in die Kamera.
Dr. Hannes Gohli, Leiter China Kompetenzzentrum Universität Würzburg, Post-doc Forscher am Lehrstuhl für China Business and Economics privat

F&L: Würden Sie sagen, man kann das wirtschaftliche Vorgehen Chinas verstehen, wenn man das Land und die Kultur nicht kennt? 

Hannes Gohli: Die wirtschaftlichen Modelle, die wir entwickelt haben für liberale Marktwirtschaften, lassen sich nicht eins zu eins auf China übertragen. Man merkt, da passt was nicht und man muss diese Modellen transformieren und neue Theorien entwickeln. China ist ein Kontinent in Regionen und kulturellen Unterschieden innerhalb des Landes. Für ein grundlegendes Verständnis sind persönliche Beziehungen und Netzwerke wichtig. Das System wandelt sich ständig. 
Deshalb brauchen wir Leute, die das verfolgen. Ich mag den Begriff Experte überhaupt nicht. Kann man ein Land vollends verstehen? Man kann in einem Bereich vielleicht Expertise entwickeln, aber auch das verhält sich dynamisch. Da ist man ein paar Monate nicht da, und schon hat sich alles wieder verändert. Neue Apps produzieren ganz neue Lebensweisen, Denkweisen und auch Möglichkeiten der Kommerzialisierung und des Güteraustausches. Wenn Möglichkeiten des Austausches zwischen Europa und China geringer werden, so dass wir uns immer weniger verstehen, dann sehe ich in allen Bereichen große Gefahren für die bilateralen Beziehungen.

F&L: Welche Rolle spielt das "China Kompetenzzentrum" bezüglich der China-Kompetenz an der Universität Würzburg? 

Hannes Gohli: Das "China Kompetenzzentrum" wurde ursprünglich geschaffen, damit wir an der Universität Würzburg eine Sammelstelle haben für die China-Kompetenz. Das Zentrum ist ein zentraler Knotenpunkt, um diese verschiedenen Kompetenzen abgreifen zu können. Wir haben einen Fachbereich Sinologie, aber damit können wir nicht alles abdecken. Fragen zum Rechtssystem zum Beispiel. Wir wissen jetzt, dass es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt, die zu China forschen in den Bereichen Recht, Medizin, Wirtschaftswissenschaften oder Politikwissenschaften. Das hilft enorm, wenn wir zum Beispiel Vorträge organisieren. Diese sind immer überregional und für alle Interessierten öffentlich.
Für mich ist die Leitung des Zentrums ebenfalls eine Bereicherung. Ich komme ins Gespräch mit dem Bundesforschungsministerium, mit anderen Universitäten, mit Universitäts-Allianzen. Ich durfte im Februar eine Konferenz mit internationalen Gästen organisieren. Das war ein sehr bereichernder Austausch zu Fragen der Forschungssicherheit, zur Dual-use-Problematik sowie den Möglichkeiten und Risiken der Kooperation mit chinesischen Partnern.

F&L: Mit welchen Fragen zu China werden Sie im Kompetenzzentrum derzeit konfrontiert? 

Hannes Gohli: Es gibt viele Fragen, wenn zum Beispiel neue Promovierende kommen sollen im Rahmen des "China Scholarship Council". Können sie kommen oder eben nicht? Was sind die Regeln der Uni Würzburg? Uns ist wichtig, dass wir nie kontrollieren, sondern nur beraten. Wenn sich zum Beispiel ein Doktorand aus China an der Uni Würzburg bewirbt, können die Professoren mich um Unterstützung bitten. Ich prüfe den Lebenslauf, die Website der Institution in China, wo die Person herkommt. Da geht es vor allem darum einzuschätzen, wie nah eine Einrichtung zum Militär steht. Ich beherrsche die Sprache und kann mir die Original-Website auf Chinesisch anschauen. Die enthält meist komplettere Informationen als die englische.

"Uns ist wichtig, dass wir nie kontrollieren, sondern nur beraten."
Hannes Gohli, Leiter China-Kompetenzzentrum, Uni Würzburg

F&L: Haben Sie eine hochschulinterne Leitlinie in Bezug auf De-Risking für wissenschaftliche Kooperationen und Austausche? 

Hannes Gohli: Mittlerweile haben wir Leitfragen. Wir haben das so konzipiert, dass alle Fragen auf eine Seite passen. So ist es überschaubar und überfordert die Ratsuchenden nicht. Wir wollen keine systematischen Prüfprozesse. Wir sind der Meinung, dass die Verantwortung für eine Forschungskooperation beim einzelnen Wissenschaftler oder der einzelnen Wissenschaftlerin sein sollte. Die kennen sich in ihrem Fachgebiet am besten aus. Ich kann nicht beurteilen, ob in der Physik eine bestimmte Forschung besonders gefährlich ist oder nicht.
Was wir machen können, ist sensibilisieren, damit Forschende sich diese Fragen erstmal stellen. Das Sensibilisieren sollte frühzeitig passieren, also am Besten schon während des Bachelors, Masters oder spätestens in der Promotionsphase. Eine Sensibilisierung für Sicherheitsfragen sollte in der Wissenschaftsethik eine viel größere Rolle spielen. Umso weiter man voranschreitet in der wissenschaftlichen Karriere, umso weniger Zeit hat man für Weiterbildungen und umso weniger Energie und Wille sind noch da. Hat man frühzeitig schon mal davon gehört, kann man diese Überlegungen präventiv in die Projekt-Konzeption einfließen lassen.

F&L: Könnte es sinnvoll sein, sich auch überregional in Sachen De-Risking mehr auszutauschen? 

Hannes Gohli: Ja, durchaus. Jede Universität hat ihre eigene Herangehensweise mit Hinblick auf China. Wir sind im “Verbund der Chinazentren an deutschen Hochschulen”. Da sind wir ganz stark im Austausch. Lösungen anderer Universitäten werden weitergegeben oder Ressourcen gebündelt. Aktuell im Gespräch ist beispielsweise eine gemeinsam erworbene Lizenz für teure Risikoevaluationen.

F&L: Was macht aus Ihrer Sicht China als Wissenschaftspartner für Europa und speziell für Deutschland bedeutsam? 

Hannes Gohli: Es ist generell in unserem Interesse, dass wir kulturellen Austausch mit mehreren Ländern fördern. Die Wissenschaft profitiert immer davon, wenn man auf eine bestimmte Thematik mehrere Blickwinkel bekommt. Fakt ist, in ganz vielen Bereichen ist China uns voraus. Wenn wir in Zukunft mitreden wollen, zum Beispiel bei technischen Standards, dann müssen wir mit chinesischen Forschenden zusammenarbeiten. Es ist für Deutschland sehr wichtig, dass wir diesen Kontakt pflegen. Den Sicherheitsaspekt dürfen wir dabei nicht vernachlässigen, allerdings hört sich das oft so absolut an.
Wir haben es mit einem autoritären Land zu tun. Ganz so naiv, wie das manchmal dargestellt wird, sind Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht. Welche Forschungsbereiche wir offen halten, ist eine superschwierige Frage. Der einzelne Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin kennt sich aus und kann begründen, warum eine bestimmte Forschung, ein bestimmtes Forschungsprojekt in Ordnung ist. Ich würde es grauenhaft finden, wenn die Politik das von oben entscheiden würde; auch die damit zusammenhängende Bürokratisierung der Wissenschaft. Wenn man bestimmte Forschungsbereiche per se kompliziert macht, dann entscheiden sich Forschende irgendwann dagegen. Dann würde aus dem De-Risking in der Praxis ein Decoupling werden. Wichtig ist, dass wir weiterreden, dass wir diese Diskussion führen.

"Wenn wir in Zukunft mitreden wollen, zum Beispiel bei technischen Standards, dann müssen wir mit chinesischen Forschenden zusammenarbeiten."
Hannes Gohli, Leiter China-Kompetenzzentrum, Uni Würzburg

Verdachtsfälle der chinesischen Forschungsspionage

Ende Apil war in Dresden ein Mitarbeiter des AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah festgenommen worden. Er soll für einen chinesischen Geheimdienst tätig sein. Kurz zuvor wurden drei mutmaßliche Spione in Düsseldorf und Bad Homburg verhaftet. Die beiden Männer und eine Frau sollen in Deutschland Informationen über Militärtechnik beschafft haben, um sie an den chinesischen Geheimdienst weiterzugeben. (Stand 6.5.2024)

F&L: Die China-Strategie des BMBF setzt darauf, dass ein reger wissenschaftlicher sowie zivilgesellschaftlicher Austausch eine positive Wirkung hat. Teilen Sie diese Einschätzung auf Basis Ihrer Erfahrungen?

Hannes Gohli: Ja, auf jeden Fall. Auch außeruniversitäre, schulische Austauschprogramme für Jugendliche sind sehr förderlich. Das erweitert das Weltbild und den Horizont. Da tut sich in Deutschland auch langsam was, beispielsweise mit der "China-Schulakademie", bei der Inhalte viel mehr in den Lehrplan eingebracht werden. Wir machen hier in der Sinologie öffentliche Vorträge. Das tut auch den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sehr gut, dass sie diese hochkomplexen Inhalte runterbrechen müssen.
Letzte Woche war ich in einer Schule, um mit Vierzehnjährigen über China, das chinesische Schulsystem und die Energiewende zu reden. Ich meine mich zu erinnern, dass Frankreich dreimal soviel China-spezifische Lehrveranstaltungen in den weiterführenden Schulen aufweisen kann wie Deutschland. Wir haben den Schritt, China-Kompetenz an Schulen aufzubauen, verschlafen, obwohl wir wissen, dass China immer wichtiger für uns wird. Ich glaube, dieses Narrativ, das im Moment durch die Medien geht, mit China als Gefahr, ist nicht förderlich, um 17 bis 18-Jährige davon zu überzeugen, sich ein Uniprogramm mit China-Schwerpunkt auszusuchen. Die Studierendenzahlen in der Sinologie sind die letzten zwei, drei Jahre deprimierend zurückgegangen.

F&L: Wie passt das mit der wachsenden Bedeutung des Landes zusammen? 

Hannes Gohli: Es gibt eine große Nachfrage nach China-Expertise. Die Politik betont ja regelmäßig die Notwendigkeit von China-Kompetenz. Wir brauchen mehr individuelle, unabhängige China-Kompetenz; auch in Unternehmen. Diese brauchen Leute, die Chinesisch können, die Kultur verstehen und die Wirtschaft. Die Darstellung in manchen öffentlichen Äußerungen, dass China unausweichlich die Weltherrschaft an sich reißen wird, ist falsch. 
Die chinesische Bevölkerung hat ebenso wirtschaftliche und politische Herausforderungen wie wir. Beispiel Jugendarbeitslosigkeit: Wir wissen gar nicht, wie hoch sie inzwischen ist, weil die chinesischen Behörden keine Statistiken mehr dazu rausgeben. Sie haben bei über 20 Prozent aufgehört. Hinzu kommt eine alternde Bevölkerung, so dass die Renten in den nächsten Jahren ein großes Problem werden für die kommunistische Partei. Deshalb ist auch nicht gegeben, dass China in allen Bereichen alles übernehmen wird. Jedes Wirtschaftssystem hat Vorteile und wir müssen uns wieder auf unsere Stärken konzentrieren: Kreativität, Pluralismus und Innovation.

"Die Darstellung in manchen öffentlichen Äußerungen, dass China unausweichlich die Weltherrschaft an sich reißen wird, ist falsch."
Hannes Gohli, Leiter China-Kompetenzzentrum, Uni Würzburg

F&L: Im Moment beobachten wir eine gewisse Vorsicht gegenüber China. Die Bundesregierung bezeichnet die Volksrepublik als „Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen“. Wie sehen Sie das?

Hannes Gohli: Diese Dreifaltigkeit aus der China-Strategie macht es der chinesischen Seite schwer, unsere Politik zu verstehen. Aus chinesischer Sicht sind wir an einem Tag Partner, am nächsten Tag Wettbewerber und am Tag darauf Systemrivale. Und der Fokus ist im letzten Jahr eindeutig Richtung Systemrivalität gerutscht. Klar, China hat sich verändert: Es ist autoritärer geworden. Darauf müssen wir auf jeden Fall reagieren. Aber ich finde immer noch, dass wir versuchen sollten, in so vielen Bereichen wie möglich diese Partnerschaft aufrechtzuerhalten.
Man muss bedenken, dass wir chinesische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Deutschland haben wollen und Deutschland als Wissenschaftsstandort attraktiv machen wollen. Wenn wir den Eindruck vermitteln: "Wir vertrauen euch nicht", wird das nicht funktionieren. An der Universität Würzburg mussten wir unseren chinesischen Kollegen und Kolleginnen erklären, dass wir natürlich nicht glauben, dass sie alle zum Spionieren hier sind.

F&L: Zuletzt sind an mehreren Hochschulen Fälle von Spionage bekannt geworden. Was braucht es Ihrer Meinung nach für das Fortbestehen von konstruktivem wissenschaftlichem Austausch mit China? 

Hannes Gohli: Es geht in Richtung Implementierung von Handlungsempfehlungen. Es geht darum, Instrumente zu entwickeln, die Forschende ohne zu viel Aufwand nutzen können. Manche nutzen das Risikoanalyse-Tool OPERATE. Der Computer wirft aber keine Antwort aus à la Forschung ja/nein. Das Tool stellt Fragen, woraus eine Matrix gebildet wird. Die Idee dabei ist, dass alle Beteiligte eines Forschungsprojekts diese Fragen beantworten. Dann sieht man, in welchen Bereichen man sich einig ist bei der Risikobewertung und wo es Gesprächsbedarf gibt. 
Ich finde das einen guten Ansatz, um sich für oder gegen eine Zusammenarbeit zu entscheiden. Wenn man eine Partnerschaft eingeht, dann sollte man sich vertrauen. Wenn man sich dafür entscheidet, finde ich wichtig, dass sich die Forschenden hier wohlfühlen und ihre Forschung machen können. Nicht jeder oder jede muss ein Bericht an die chinesische Regierung schreiben. Das hängt stark davon ab, wie sie finanziert werden – ob aus privaten Mitteln oder zum Beispiel über das "China Scholarship Council". Wir müssen da differenziert kommunizieren und auf unsere Sprache achten. Für Deutschland wäre es positiv, weltweit als offenes Wissenschaftssystem wahrgenommen zu werden. 

"Nicht jeder oder jede muss ein Bericht an die chinesische Regierung schreiben."
Hannes Gohli, Leiter China-Kompetenzzentrum, Uni Würzburg

F&L: Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit mit China, um weltweite Probleme wie den Klimawandel in den Griff zu bekommen? 

Hannes Gohli: De-Risking im Sinne von Diversifizierung ist ein sinnvoller Ansatz. Alles auf eine Karte zu setzen, war noch nie gut. Energie-Zulieferung fast nur aus Russland war eine sehr schlechte Idee. Aber wir haben einige Entwicklungen und Innovationen verschlafen. Da können wir von China lernen. Es schadet zumindest nicht, dass man sich mit dem Ansatz eines solchen Landes mal befasst. China verfolgt bei der Energiewende beispielsweise eine zentralisierte Strategie. Es werden riesige Flächen mit Solarzellen bebaut und die Elektrizität wird über Tausende Kilometer in den Osten geliefert. Wir fahren eher eine dezentrale Strategie, bei der jeder seine eigenen Solarzellen auf dem Dach hat. Beide Strategien haben Vor- und Nachteile. Es ist eine gute Sache, dass wir diese Option zumindest kennen. 

F&L: Wenn sie einen Wunsch frei hätten für die Zukunft der wissenschaftlichen Kooperation – was wäre das? 

Hannes Gohli: Ich wünsche mir, dass die Sicherheit von Forschenden in China weiter gegeben ist, dass wir unsere Fragen stellen können und nicht die Befürchtung haben müssen, dass wir in geopolitische Machtspiele verwickelt werden. Gut wären europäische Schutzmechanismen, wie beispielsweise eine zentrale Kontaktstelle, die man im Notfall kontaktieren kann. Ich habe mich noch nie bedroht gefühlt in China. Aber so ein Szenario kann sehr spontan entstehen und von der geopolitischen Situation abhängen. Der Austausch, davon lebt die Wissenschaft. Ich hoffe sehr, dass das so weitergehen kann. Das wäre meine große Hoffnung für die Zukunft.