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75 Jahre Grundgesetz
"Eine Errungenschaft für freie Wissenschaft"

Am 23. Mai jährt sich das Grundgesetz zum 75. Mal. Politikwissenschaftler Michael Zürn über die Bedeutung der Verfassung für die Wissenschaft.

Von Katrin Schmermund 17.05.2024

Forschung & Lehre: Herr Professor Zürn, Sie erforschen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Rolle der Wissenschaft in liberalen Gesellschaften. Wie würden Sie diese Rolle beschreiben? 

Michael Zürn: Die Wissenschaften fungieren in der liberalen Gesellschaft als eine Instanz, der man "von Amt wegen" zutraut, näher an die Wahrheit gekommen zu sein, als es den Einzelnen selbst möglich ist. Damit üben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler epistemische Autorität aus. Man glaubt ihnen primär, weil sie es sagen, nicht weil man die Argumentation vollständig nachprüft. Ich jedenfalls habe die Klimamodelle noch nie nachgerechnet. Trotzdem bin ich von der These der durch den Menschen gemachten Erwärmung des Klimas überzeugt. Die verantwortungsvolle Ausübung einer solchen epistemischen Autorität bringt die gesellschaftliche Auseinandersetzung da- rüber voran, was als richtig anzusehen ist.

Michael Zürn ist Professor für Internationale Politik und Recht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

F&L: Worin liegt die epistemische Autorität der Wissenschaft begründet? 

Michael Zürn: Drei Gründe gibt es dafür, der Wissenschaft epistemische Autorität zuzusprechen. Zum einen sind es die theoretischen Konzepte, die jenseits der Erfahrungen und Beobachtungen liegen, durch die aber Beobachtungen und Erfahrungen erst an Bedeutung gewinnen. Dieser begrifflich-theoretische Apparat ist der Wissenschaft eigen und in den meisten Fällen für Außenstehende nur schwer zugänglich. Dieser Apparat erlaubt Einsichten und "Wahrheiten", die der bloßen Beobachtung verschlossen bleiben – man denke etwa an die Quantentheorie. 

Zum zweiten besitzt Wissenschaft die Ressourcen und Instrumente, um Beobachtungen zu machen, die durch die einfachen Sinne nicht verarbeitet werden können. Dazu gehören spezielle Messinstrumente, Großforschungsgeräte und Datenerhebungen, die wegen ihrer schieren Menge im Alltag durch Einzelne gar nicht erhoben werden können wie zum Beispiel Wahlanalysen, aber auch historische Dokumente und Erfahrungen aus anderen Ländern. 

Drittens verbindet sich wissenschaftliche Autorität mit dem Begriff der Integrität. Es gilt dabei die Annahme der politischen Neutralität.

F&L: Die Wissenschaftsfreiheit ist für die von Ihnen beschriebene Rolle der Wissenschaft eine wichtige Voraussetzung. Wie steht es Ihrer Meinung nach in Deutschland um sie?

Michael Zürn: Wenn man Wissenschaftsfreiheit als die Abwesenheit staatlicher Einmischung in den Wissenschaftsprozess definiert, dann steht Deutschland sehr gut da. Dies ist ein Bereich, in dem wir in internationalen Rankings weit oben stehen und in dem keine signifikanten Probleme zu beobachten sind. Im Sinne der politischen Nichteinmischung sind wir bei der Wissenschaftsfreiheit vorbildlich. Wenn wir miteinbeziehen, wie anerkannt die epistemische Autorität der Wissenschaft in der Gesellschaft ist und in welchem Ausmaß ihre Ergebnisse bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden, befinden wir uns im oberen Mittelfeld. 

"Wenn man Wissenschaftsfreiheit als die Abwesenheit staatlicher Einmischung in den Wissenschaftsprozess definiert, dann steht Deutschland sehr gut da."
 Michael Zürn, Professor für Internationale Politik und Recht am WZB

F&L: Welchen Beitrag kann Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes zur Wissenschaftsfreiheit und der gesellschaftlichen Akzeptanz von Wissenschaft leisten? 

Michael Zürn: Die Festschreibung der Wissenschaftsfreiheit in der Verfassung ist die Grundlage dafür, dass sie gesellschaftlich gelebt werden kann. Die freie Wissenschaft als autonomes und unabhängiges System hat sich im Zuge der Moderne entwickelt und ausdifferenziert, besonders seit der Trennung von religiösen Einflüssen. Im 20. Jahrhundert haben selbst totalitäre Regime die Wissenschaftsfreiheit in Teilen zugelassen – etwa im Bereich der Militärtechnik. 

Die Errungenschaft des Grundgesetzes ist, dass Wissenschaft in allen Bereichen autonom handeln kann, selbst wenn dies für die Regierenden unbequem ist. Auch die Sozialwissenschaften sind durch den Artikel geschützt – anders als in autoritären Systemen. Das Ganze spielt sich innerhalb weiterer im Grundgesetz festgelegter Grundwerte unserer Gesellschaft ab, was etwa dazu führt, dass einem Mediziner oder einer Genforscherin Vorgaben gemacht werden können, welche Versuche an Tieren oder am menschlichen Genom durchgeführt werden dürfen. 

F&L: Populistische und antidemokratische Parteien erhalten immer mehr Zuspruch. Worauf kommt es jetzt an, damit die Wissenschaftsfreiheit im Rahmen demokratischer Werte auch künftig sichergestellt ist? 

Michael Zürn: Wir müssen möglichst viele Menschen vom Wert einer freien Wissenschaft überzeugen. Das sehe ich als große Herausforderung, denn schon in der Corona-Zeit haben wir gesehen, wie viele Menschen den Erkenntnissen der Wissenschaft misstrauen und der politischen Strategie von Parteien folgen, die für ihre autoritären Pläne eine antiwissenschaftliche Stimmung in der Gesellschaft verbreiten. Viele Menschen sind dafür empfänglich, weil sie sich nicht ausreichend gehört fühlen und die Wissenschaft als Teil einer "bösen Elite" ansehen. 

Zudem ist die Schnelligkeit neu, mit der sich soziale Medien als solche und die über sie verbreiteten Falschnachrichten verbreiten, und das hat die Neigung zur "Post-Truth" verstärkt. Das Potenzial von mit Künstlicher Intelligenz generierten Inhalten ist dabei noch kaum abzuschätzen. Es ist unverzichtbar, dass wir die nötigen Vorkehrungen treffen, um Falschnachrichten in sozialen Netzwerken schneller entgegentreten zu können und gleichzeitig die politische Bildung in der Bevölkerung stärken. Es geht darum, die sozialen Medien mit einer editorischen Kompetenz zu versehen. Allerdings muss man sich bewusst machen, dass nicht alle von demokratischen Werten und der Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht überzeugt werden können. Das wäre illusorisch. Hier kommt es auf die demokratischen Parteien an, ihre Werte entschlossen durchzusetzen.

F&L: Welchen Beitrag können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst leisten, um ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken? 

Michael Zürn: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten sich bewusst machen, dass sie für eine unbeschränkte Handlungsfreiheit im Sinne freier Forschung und Lehre bei vollständiger Finanzierung durch die Gesellschaft soziale Verantwortung übernehmen und anerkennen müssen. Nur so kann Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes seine volle Stärke entfalten. 

F&L: Was gehört für Sie zur sozialen Verantwortung dazu? 

Michael Zürn: Soziale Verantwortung bedeutet für mich zum einen, ethischen Grundsätzen zu folgen, wie etwa bei Tierversuchen oder Genom-Editierung. Zum anderen heißt es, entschieden für die Werte eines demokratischen Rechtsstaats (auf dem die Wissenschaftsfreiheit aufbaut) einzustehen, sich aber nicht mit eigenen Meinungen, die nicht auf der eigenen Forschung basieren, in politisch tagesaktuelle Debatten mit dem Anspruch epistemischer Autorität einzubringen, sondern eine einordnend sachliche Position hinsichtlich der zugrundeliegenden Sachfragen einzunehmen.

F&L: Der Großteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzt die eigene Freiheit, um gute Forschung und Lehre in einem wohlwollenden Umfeld zu gestalten. Andere missbrauchen diese Freiheit – wo sehen Sie die richtigen Ansatzpunkte, um dies zu vermeiden? 

Michael Zürn: Für mich gehört zur sozialen Verantwortung gerade wegen der gewährten Freiheiten auf deren Missbrauch zu verzichten. Zum Machtmissbrauch an Hochschulen gehört die Ausgrenzung unliebsamer Positionen, die intellektuelle Ausnutzung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, auch mit Blick auf bekannt gewordene Fälle von sexualisierter Gewalt an Hochschulen und vieles anderes mehr. 

"Für mich gehört zur sozialen Verantwortung gerade wegen der gewährten Freiheiten auf deren Missbrauch zu verzichten."
Michael Zürn, Professor für Internationale Politik und Recht am WZB

Bei allem sehe ich die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Verantwortung, sich im Sinne guter wissenschaftlicher Arbeit zu verhalten und die Bedeutung der wissenschaftlichen Standards zu betonen. Das fällt angesichts von systeminhärenten Faktoren wie ein zunehmender Publikationsdruck oder die ansteigende Drittmittelfinanzierung nicht immer leicht. Diese Faktoren können aber nicht als Entschuldigung für den Missbrauch der Wissenschaftsfreiheit herhalten. 

F&L: Was bedeutet das? 

Michael Zürn: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen sich das Vertrauen in ihre Arbeit permanent erarbeiten. Dazu gehört, dass sie im Sinne der sozialen Verantwortung kommunizieren, mit welcher Sicherheit sie bestimmte Aussagen treffen und welche Daten und Methoden dem zugrunde liegen – und auch, was sie nicht oder noch nicht beantworten können. Gleichzeitig müssen sie überzeugend rüberbringen, dass man grundsätzlich in ihre Arbeit vertrauen kann, da diese auf einer Erkenntnissuche im besten Wissen und Gewissen entstehen.

Wie das Grundgesetz entstand 

Im September 1948 begann im Parlamentarischen Rat die Arbeit am Grundgesetz. Das verfassungsgebende Gremium setzte den Katalog der 19 Grundrechte an den Anfang. Grundrechte lassen sich in Freiheits-, Gleichheits- und Justizgrundrechte einteilen. Mit der Ausnahme Bayerns wurde das Grundgesetz in allen Ländern genehmigt und am 23. Mai 1949 feierlich verkündet. 

Kunst- und Wissenschaftsfreiheit 

Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes besagt, "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei". Bei diesen Grundrechten handelt es sich um klassische Abwehrrechte gegen staatliche Einflussnahmen. Unerlaubte Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit können Verbote, Sanktionen sowie Lehrziel- und Lehrstoffvorgaben sein. Die garantierte Freiheit gilt nicht uneingeschränkt, sondern findet ihre Schranke nicht nur in der "Treuklausel", sondern auch in kollidierendem Verfassungsrecht. 

Objektiv-rechtliche Gewährleistung 

Aus den Rechten folgt gleichzeitig eine objektiv-rechtliche Gewährleistung. In Bezug auf die Wissenschaft bedeutet dies, dass der Staat zur Einrichtung und Unterhaltung einer wissenschaftsadäquaten Hochschulorganisation verpflichtet ist.