Doppelseite aus "Kalila wa Dimna"-Manuskript mit dem arabischsprachigen Text. Abgebildet sind zwei Reiter und ihr Gefolge.
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Der Einfluss des Arabischen
Arabisch – ein Nexus globaler Literatur

Arabische Autoren des achten Jahrhunderts haben mit heutigen syrischen Schriftstellern viel gemeinsam. Sie bilden eine lange literarische Tradition.

Von Charlotte Pardey 18.12.2022

Die arabische Sprache hat eine weit über tausendjährige Tradition. Wären Latein und Englisch eine Sprache, dann würde diese in etwa den gleichen Zeithorizont abdecken wie Arabisch, so erklärt es die Arabistik-Professorin Beatrice Gründler von der Freien Universität Berlin. Die Verbreitung dieser Sprache würde dann genau wie Arabisch von der Vormoderne bis in die heutige Zeit reichen.

Mehr als 400 Millionen Menschen sprechen laut Angaben der UNESCO täglich Arabisch. Sie leben in einer Region, die von Nordafrika bis Ostasien reicht. Auch wenn nicht überall das gleiche Arabisch gesprochen werde, sondern zahlreiche Dialekte und Varianten, ist "die Sprache seit dem sechsten Jahrhundert in ihrer grammatikalischen Grundstruktur identisch geblieben", erklärt Gründler.

Wie die arabische Sprache entstanden ist

Das klassische Hocharabisch der Vormoderne wird heute nicht mehr gesprochen. Es sei aber sowieso nicht als "Muttersprache" zu verstehen, so Gründler, sondern als Dichtersprache, die durch die Kommunikation unterschiedlicher arabischer Stämme untereinander als gemeinsame Sprache entstanden sei. Man könne es am ehesten mit dem heute genutzten "Modern Standard Arabic" vergleichen, das man etwa in den überregionalen arabischen Medien wie "al-Jazeera" hört und in den Tageszeitungen liest.

"Über die arabische Übersetzung sind zentrale Texte der griechischen Antike erhalten geblieben." Beatrice Gründler

In der Vormoderne war Hocharabisch eine zentrale Wissenschaftssprache: Ab dem achten Jahrhundert wurden für etwa 300 Jahre die wichtigsten Werke der damaligen Wissenschaft ins Arabische übersetzt und wissenschaftlich weiterentwickelt, berichtet Gründler. Von dieser Übersetzungstätigkeit trug auch die arabische Sprache selbst Spuren: Das Vokabular wurde erweitert und durch neue Wörter ergänzt, um etwa philosophische Texte aus dem Griechischen ins Arabische übertragen zu können. Im europäischen Mittelalter sei arabische Weisheitsliteratur sehr populär gewesen und die Schriften seien beispielsweise ins Lateinische oder in das Kastilische übersetzt worden. "Über die arabische Übersetzung sind zentrale Texte der griechischen Antike erhalten geblieben", erläutert Gründler.

"Kalila wa-Dimna" – ein Stoff, viele Versionen

Die lange Geschichte der arabischen Sprache und ihre Bedeutung als "Nexus, also wichtiger Knotenpunkt, globaler Literatur" kann man Gründler zufolge ganz besonders an einem Werk erkennen: "Kalila wa-Dimna" ('Kalila und Dimna'), die arabische Fassung einer Sammlung von Fabeln und Weisheitstexten eigentlich sanskritischen Ursprungs. "Es eine arabische Fassung zu nennen, ist aber eigentlich nicht richtig", so Gründler, da verschiedene Versionen nebeneinander existierten.

Eine arabische Urübersetzung des aus dem heutigen Iran stammenden Übersetzers und Philosophen Ibn al-Muqaffa, die um das Jahr 750 verfasst wurde, ist verloren und existiert neben den späteren arabischen Versionen nur noch in Abschriften und Übersetzungen in viele andere Sprachen angefangen mit Hebräisch, Lateinisch und Griechisch.

Der arabische Text wurde beim Abschreiben von Kopisten immer wieder umgeschrieben. Nach Bedarf und Zeitgeist haben diese nicht nur Worte aktualisiert und dem jeweiligen Gebrauch angepasst, sondern auch eigene Elemente – etwa mystische, religiöse, epistemische oder dramatische Aspekte – in den Text eingebaut, erläutert Gründler.

Im Jahr 1570 wurde eine englischsprachige Variante gedruckt. Nach der europäischen Schleife trat die Sammlung ihren Rückweg nach Asien an und gelangte wieder in indische und ostasiatische Sprachen wie etwa Malaiisch.

Digitale Mittel für jahrhundertealte Manuskripte

Seit über fünf Jahren erforscht Gründler "Kalila wa-Dimna", finanziert mit einem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Werk in seiner Vielschichtigkeit zu editieren und eine Multitextedition zu erstellen, die die unterschiedlichen Fassungen abbildet. Dies sei erst durch die Möglichkeiten der digitalen Edition umsetzbar geworden. Die Software, die sie dazu verwendet, habe für das Projekt maßgeschneidert werden müssen. Digitale Mittel sind nicht alle mit der Arabischen Sprache und Schrift kompatibel: Geschrieben wird Arabisch von rechts nach links mit Buchstaben, die je nach Position im Wort unterschiedlich aussehen. Nicht alle Programme können mit diesem Schriftsystem umgehen.

Bis Mitte 2023 werde die erste Fassung der Multitextedition online zugänglich sein, sechs Kapitel sind bereits jetzt einsehbar als Preview Edition des AnonymClassic Projekts, programmiert und konzipiert von Marwa M. Ahmed. Grundlage der Edition sind diverse Fassungen von der arabischen Klassik bis zum europäischen Mittelalter. Dabei berücksichtigt werde auch die erste deutsche Fassung von 1482, die die früheste Version in einer modernen Sprache darstellt, wie Gründler erklärt.

Ein klassisch-arabischer Text kommt in Europa an

Auch in Europa hinterließ "Kalila wa-Dimna" Spuren: Im 17. Jahrhundert tauchte in den Fabeln von Jean de la Fontaine Material aus der Sammlung auf, das dieser einem Autor namens "Pilpay (Baydaba)" zuschrieb – einer Figur aus "Kalila wa-Dimna", so Gründler.

Allgemein sei beim Wechsel zwischen den Sprachen und Kontexten bemerkenswert, dass sich auch die Sprachregister änderten: Im Arabischen ein Alltagswerk, das seit dem 17. Jahrhundert in den meisten Haushalten vorhanden war und das im 19. Jahrhundert gekürzt, editiert sowie von ungeeigneten Inhalten befreit als Kinderbuch diente, wurde es mit der Übersetzung ins Kastilische zu Literatur für den König.

Das "Kalila wa-Dimna"-Projekt bietet auch Studierenden Gelegenheit, sich aktiv an der Forschung zu beteiligen. Gründler beauftrage sie etwa damit, Textstellen aus dem arabischen Manuskript zu transkribieren. Auch verwende sie die Texte im Arabischunterricht: "In den Fabeln geht es um Ehrlichkeit, Freundschaft, Loyalität aber auch um Schläue und Listigkeit." In ihrer Botschaft seien die Erzählungen sehr inkonsistent: Mal soll man nach Reichtum streben, mal nicht, mal gewinnt die Verschlagenheit, mal nicht. "Ein Lehrstück für das menschliche Miteinander", findet Gründler, das von den Studierenden gerne gelesen werde.

Heute ist der Einfluss von "Kalila wa-Dimna" eher indirekt: Die klassische Weisheitsliteratur hat ihren Einfluss verloren und wirkt eher über länger zurückliegende Beeinflussung nach, wie etwa über Jean de la Fontaine, der Erzählungen in sein Werk aufnahm. "Ein anderes Beispiel ist seine Fabel 'Rat der Ratten'", so Gründler. In der Geschichte beschließen Ratten, sich vor den bedrohlichen Katzen zu schützen, indem sie ihnen Glocken umhängen. Die Geschichte finde sich allerdings nicht bei Äsop, sondern in der syrisch-aramäischen Version von "Kalila wa-Dimna" aus dem sechsten Jahrhundert. Außerdem sei sie idiomatisch in den englischen Sprachgebrauch eingegangen: "Belling the cat" bedeutet laut dem Cambridge Dictionary, mutig genug zu sein, etwas zu tun, das einerseits gefährlich, aber andererseits gut für die Gruppe ist, zu der man gehört. "Und das ist kein Einzelfall", erklärt Gründler: Das Erzählmaterial sei durch die Jahrhunderte und Sprachgrenzen gewandert: Klassische Motive aus dem Nahen Osten hätten die westliche Vorstellungswelt beeinflusst.

Auch die moderne arabische Literatur überquert Grenzen

Mit Fragen des kulturellen Einflusses beschäftigt sich auch Arabistik-Professorin Friederike Pannewick von der Philipps-Universität Marburg. Die moderne arabische Literatur, mit der sie sich hauptsächlich auseinandersetzt, wandere allerdings in anderer Art als das klassische Material. Syrische Literaten, die aufgrund des Kriegs in ihrem Land nach Deutschland fliehen mussten, schreiben beispielsweise in Berlin. Manche verwenden die arabische Sprache, andere schreiben auf Deutsch. "Veröffentlicht werden sie allerdings nur selten auf Arabisch", so Pannewick. Kulturförderer konzentrierten sich auf Autoren aus bestimmten Regionen und ausgewählte Themen, Veröffentlichungen erschienen daher meist auf Deutsch. "Ist das nun deutsche oder arabische Literatur?" fragt Pannewick.

Durch die Autorinnen und Autoren seien die arabische Literatur und Sprache kulturell mobil. Transnationale Strukturen, wie etwa arabischsprachige überregionale Medien oder Preise, unterstützten dies zusätzlich. So sorgt der International Prize for Arabic Fiction (IPAF), der jährlich von der Booker Prize Foundation in London verliehen wird dafür, dass preisgekrönte Werke über die Grenzen ihres Herkunftslandes hinaus in Europa bekannt werden, da die Gewinnertitel unter anderem einen Übersetzungsvertrag erhalten. Finanziert wird der Preis von der Behörde für Kultur und Tourismus Abu Dhabi.

Übersetzungen aus dem und in das Arabische

Die moderne arabische Literatur existiert nicht in einem Vakuum, sondern lässt sich von den Literaturen der Welt inspirieren. Ihr eigener Einfluss ist aber überschaubar. "Die moderne arabischsprachige Literatur ist eher marginalisiert", erklärt Pannewick. "Allgemein wird unfassbar wenig aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt." Auch täusche der Eindruck, dass seit dem sogenannten Arabischen Frühling von 2011 vermehrt Übersetzungen erschienen. Eine Studie der Übersetzerin und Literaturagentin Sarah Hetzl zeigt, dass die Anzahl der Übersetzungen nicht zahlenmäßig zugenommen haben, sondern stattdessen in größeren Verlagen erscheinen, die eine höhere Strahlkraft haben.

"Allgemein wird unfassbar wenig aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt." Friederike Pannewick

Im modernen Europa ist Arabisch keine vordergründige Wissenschaftssprache. An den arabistischen Instituten in Deutschland, England und Frankreich mündet die Forschung häufig in Publikationen und Abschlussarbeiten in der jeweiligen Landessprache. Forschende in der arabischen Welt schreiben ihre Artikel und Monografien je nach Fachgebiet entweder ebenfalls in den globalen Wissenschaftssprachen Englisch oder Französisch, oder, und dies ist besonders in den Sozial-, Literatur- und Sprachwissenschaftlichen Disziplinen der Fall, auf Arabisch. Daher existiert auch innerhalb der europäischen Auseinandersetzung mit der arabischen Sprache, Literatur und Kultur mehr und mehr ein Bemühen um Austausch mit arabischen Forschenden auf Augenhöhe und auf Arabisch.

Dies ist eine im Vergleich zur Dauer der Forschungstradition relativ neue Entwicklung, da die Arabistik noch vor wenigen Jahrzehnten als eine rein schriftliche Auseinandersetzung mit dem Material betrieben wurde. Heute berichtet Pannewick, dass an ihrem Fachgebiet Studierende dazu angeleitet werden, Arabisch nicht nur als Schriftsprache zu beherrschen, sondern auch aktiv Lehr- und Forschungsinhalte auf Arabisch zu diskutieren. Gründler teilt Erkenntnisse aus ihrer Arbeit mit "Kalila wa-Dimna" als anonymes Manuskript mit interessierten Forschenden in Marokko, die mit ähnlichen Texten arbeiten. Arabisch bleibt so weiterhin ein Nexus des Austauschs.

Tag der arabischen Sprache

Zum zehnten Mal wird dieses Jahr am 18. Dezember der UNESCO-Welttag der arabischen Sprache gefeiert. Er steht 2022 unter dem Fokus "Beitrag der Arabischen Sprache zur menschlichen Zivilisation und Kultur".

Ausgewählt wurde der 18. Dezember, weil an diesem Tag im Jahr 1973 die arabische Sprache von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als sechste offizielle Sprache der Organisation anerkannt wurde, neben Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch.