Zu Kugeln zerknüllte Papierblätter und eine leuchtende Glühbirne
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Kreativität
"Das Heureka-Erlebnis wird überschätzt"

Wie entsteht eigentlich Kreativität? Ein Kreativitätsforscher führt in die Grundlagen und praktischen Konsequenzen ein.

Von Rainer M. Holm-Hadulla 26.12.2019

Kreativität, als die Erschaffung neuer und brauchbarer Formen, ist eine wesentliche Eigenschaft alles Lebendigen. Sie kann gezielt gefördert werden, allerdings nur, wenn man ihre Grundlagen kennt. Dazu ist die Verbindung von natur- und sozial- mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven notwendig. Im interdisziplinären Austausch lassen sich Kreativitätskonzepte entdecken, die vor allem auf der Dialektik von Ordnung und Chaos, Konstruktion und Dekonstruktion, Struktur und Dynamik beruhen. Schon in den frühesten Schöpfungsmythen finden wir diese vorgezeichnet. 

Die psychologische Kreativitätsforschung unterscheidet darüber hinaus fünf Grundlagen der Kreativität: Begabungen oder Talente, Wissen und Können, Motivation und Kompetenz, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften sowie fördernde und fordernde Umgebungsbedingungen. Diese Dimensionen sind dialektisch miteinander verbunden. Begabungen werden beispielsweise nur fruchtbar, wenn sie sich in einer geeigneten Umgebung realisieren lassen. Intelligenz wiederum steht in Wechselwirkung mit besonderen Denkstilen, die auf einem fein abgestimmten Zusammenspiel von konvergentem und divergentem Denken beruhen. Dazu sind in den unterschiedlichen Phasen des kreativen Prozesses entsprechende Arbeitsstrukturen notwendig.

Ohne Wissen und Können werden grundsätzlich keine neuen Werke erschaffen. Allerdings hängt deren Bedeutung von den kreativen Domänen ab. Mathematische Höchstleistungen sind beispielsweise schon in der Jugend möglich, komplexe kulturelle Werke benötigen dagegen viel Wissen und werden häufig erst im mittleren oder höheren Lebensalter erschaffen. Als weitere psychologische Grundlage der Kreativität wird zumeist Motivation benannt. Der Begriff "intrinsisches Interesse" scheint mir spezifischer, weil er beleuchtet, dass eine diffuse Motivation für kreatives Tun nicht ausreicht, sondern ein kompetentes Einlassen auf die Aufgabe um ihrer selbst willen notwendig ist. Insofern finden wir auch hier eine Dialektik von gefühlsbetontem Tagträumen und disziplinierter Arbeit. In diesem Punkt unterscheiden sich die kreativen Domänen auf fundamentale Weise. In der Dichtung zum Beispiel dominiert emotional-subjektives Erleben im kreativen Tun, während in der Wissenschaft kognitiv-objektivierende Konzentration bei weitem überwiegt.

Anerkennung ist die treibende Kraft zur Entfaltung von Talenten

In biografischen Analysen von kreativen Persönlichkeiten – etwa von Goethe oder Einstein – fällt immer wieder ein Wechselspiel von Empfindsamkeit und Reizoffenheit mit Eigensinn und Widerstandsfähigkeit auf. Eine günstige Umgebung erlaubt die Entfaltung von Talenten, indem sie Strukturen zur Verfügung stellt, in denen Wissen und Fertigkeiten erworben werden können, und gleichzeitig Freiräume bietet, in denen das Gelernte neu kombiniert werden kann. Dabei helfen anerkennende Begleiter. Das aus der frühen Kindheit entstammende und bis ins hohe Alter anhaltende Streben nach Anerkennung ist elementar. Damit ist nicht die Suche nach oberflächlicher Belobigung gemeint, sondern der existentielle Wunsch nach emotionaler Bindung und intellektueller Resonanz. Bildungseinrichtungen suchen daher immer wieder neue Wege, ein produktives Gleichgewicht von Kognition und Emotion, diszipliniertem Lernen und freiem Spielen herzustellen.

"Künstler können sich meist früher kreativ ausdrücken als Wissenschaftler."

Der kreative Prozess selbst lässt sich in fünf Phasen unterteilen: Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Realisierung und Verifikation. Die Vorbereitungsphase beinhaltet den Erwerb des für eine kreative Erneuerung notwendigen Wissens und Könnens. Sie unterscheidet sich in den verschiedenen kreativen Domänen erheblich. Ein Gedicht oder einen Pop-Song kann man schon mit 18 Jahren schreiben – das sprachliche und musikalische Vermögen ist in diesem Alter häufig ausreichend, um seinen Emotionen kreativen Ausdruck zu verleihen. Um einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erarbeiten, muss man dagegen lange studieren und zum Beispiel in einem geeigneten Forschungslabor jahrelang geduldig arbeiten. Künstler können sich meist früher kreativ ausdrücken als Wissenschaftler, sie laufen allerdings auch eher Gefahr, sich im Feuer spontaner Kreativität zu verbrennen.

In der Inkubationsphase wird das Gelernte einer unbewussten Bearbeitung überlassen. Dieser Prozess ist häufig mit Spannungen verbunden und es ist verführerisch, sich von quälenden Suchbewegungen durch sinnlosen Medienkonsum ablenken zu lassen. Da die kreative Inkubationsphase von einem ungestörten neuronalen Ruhemodus abhängig ist, sind Medienkompetenz, Abstinenz und Resilienz hier besonders wichtig. Die dritte Phase, die kreative Illumination, verbindet man gerne mit dem "Heureka-Erlebnis". Sie wird häufig überschätzt, denn es kommt nicht nur auf die ständige Produktion neuer Ideen an, sondern auf die Auswahl der besten und den Verzicht auf die weniger brauchbaren.

Kreative Menschen sind außergewöhnlich fleißig und diszipliniert

Die Ausarbeitung der Einfälle geschieht in der vierten und zumeist schwierigsten Phase – der Realisierungsphase. Wir wissen, dass es erhebliche Resilienz benötigt, um in einen Zustand des Arbeits-Flow zu geraten. Auch in dieser Spannung ist es verführerisch, sich medial ablenken zu lassen. Studien zeigen, dass die Abnahme von kreativen Leistungen in den letzten zwanzig Jahren mit dysfunktionalem Mediengebrauch korreliert. Außergewöhnlich Kreative sind – oft diskrepant zum öffentlichen Nimbus – zumeist fleißig und diszipliniert. Die fünfte Phase des kreativen Prozesses, die Verifikation, bezeichnet die Bewertung und Veröffentlichung des Produkts. Auch sie kann krisenhaft sein, wenn wir nicht die Resonanz und Anerkennung finden, die wir benötigen.

Aus neurobiologischer Sicht weiß man heute, dass Embryonen und Säuglinge beständig Eindrücke aus ihrer Innen- und Außenweltwelt empfangen. Diese Reize werden nicht nur passiv gespeichert, sondern die werdende Persönlichkeit entwickelt sich schon auf der organismischen Ebene in einer dynamischen Interaktion mit der Umwelt. Auch für die Entwicklung des Gehirns ist das Angeschaut- und körperliche Beantwortet-Werden wichtig. Diese frühen Anerkennungsprozesse sind immer nur mehr oder weniger zufriedenstellend. Daraus resultierende Frustrationen können, wenn sie nicht zu stark ausgeprägt sind, auch zu kreativen Aktivitäten führen.  

"Im kreativen Prozess werden neuronale Strukturen neu kombiniert."

Ohne neuronale Kohärenz und Konnektivität ist das Überleben nicht möglich. Doch unterliegen auch die neuronalen Netzwerke dynamischen Auf- und Abbauprozessen. Im kreativen Prozess werden neuronale Strukturen labilisiert und mit anderen neu kombiniert. Die Dialektik von Konstruktion, Dekonstruktion und Neu-Formation findet sich also auch auf der neuronalen Ebene.

Die Kreativitätsforschung zeigt, dass wahre Kreativität einerseits zur Selbst-Verwirklichung dient und andererseits auf Hingabe und Anerkennung des Anderen beruht. Sie kann damit zur Überwindung von Selbstbezüglichkeit, Hass und Gewalt beitragen und hat daher auch eine soziale und politische Bedeutung.