Ein Mann der Fußspuren hinterlässt
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Wissenschaftsfreiheit
Forscher auf der Flucht

Immer mehr Wissenschaftler fliehen nach Deutschland, um hier frei arbeiten zu können. Ohne Kontakte nach Deutschland haben sie es allerdings schwer.

Von Katrin Schmermund Ausgabe 6/17

Als er vor drei Jahren unerwartet seinen Rentenbescheid erhielt, wusste der Energie- und Grundwasserforscher Hussain Al-Towaie, dass er im Jemen nicht länger erwünscht war. Denn normalerweise gingen Wissenschaftler in seinem Heimatland nicht in Rente. "Der Bescheid war ein Warnschuss", sagt der heute 61-jährige Professor. Er hatte vor der drohenden Wasserknappheit im Jemen gewarnt und "Defizite im System" benannt, wie er sagt. Dazu gehöre, dass knapp die Hälfte des Grundwassers für die Bewässerung der Pflanze und Alltagsdroge 'Qat' und nicht für die Kultivierung von Nahrungsmitteln genutzt werde. Seine Studien habe kein nationaler Verlag mehr veröffentlichen wollen.

Die meisten Forscher fühlen sich in Lebensgefahr

Wie Hussain Al-Towaie geht es Wissenschaftlern weltweit. Sie werden nicht nur durch Konflikte in ihren Heimatländern in ihrer wissenschaftlichen Arbeit eingeschränkt, sondern stehen oftmals im Zentrum der Konflikte. Extremisten und das Militär griffen Forscher an, weil sie die "freie, offene Hochschule" als eine Gefahr für ihr Machtstreben ansehen, schreibt die Organisation Scholars at Risk (SAR) in ihrem Report "Free to Think".

Massenangriffe auf Universitäten in Pakistan und Afghanistan, Überfälle auf einzelne Wissenschaftler in Bangladesch, Indien, Syrien und dem Irak, Entlassungen und Verhaftungen in der Türkei: "Auch wenn sich die Zwischenfälle hinsichtlich der Zielperson, der Art des Angriffs, des Orts und des Ausmaßes unterscheiden, sind sie doch alle Teil des globalen Phänomens eines zunehmenden Angriffs auf die akademische Bildung, eine Krise geprägt von weit verbreiteter Gewalt und dem Zwang, Recherche und Diskurse zu unterlassen", heißt es im Bericht. Die meisten von SAR betreuten Forscher fühlen sich in Lebensgefahr und kamen im Erhebungszeitraum 2016 aus Syrien, dem Iran, dem Irak, der Türkei und Äthiopien. Dabei ist die Zahl der Wissenschaftler aus der Türkei stark gestiegen.

108 Forscher konnte das Netzwerk zuletzt an internationale Forschungseinrichtungen vermitteln. Insgesamt 560 haben SAR um Hilfe gebeten, so viele wie noch nie. Für dieses Jahr rechnet die Organisation mit noch mehr Anfragen – und längst nicht alle Forscher wenden sich an das Netzwerk.

Deutschland ist mit knappem Abstand zu den Niederlanden zum häufigsten Fluchtziel von Wissenschaftlern geworden, die über SAR betreut wurden. Dabei spiegeln die Zahlen nicht nur das Interesse der Forscher wider, sondern auch die Bereitschaft und Möglichkeiten der Zielländer, Forscher aufzunehmen.

Hussain Al-Towaie arbeitet seit diesem Jahr an der TU Darmstadt. Finanziert wird dies über die Philipp Schwartz-Initiative (PSI) der Alexander von Humboldt-Stiftung. Die Initiative ist nach dem jüdischen Arzt Philipp Schwartz benannt, der 1933 selbst vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste und die "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland" gründete. Das Programm bietet gefährdeten Forschern ein zweijähriges Stipendium von insgesamt 84.000 Euro. "Es dient in erster Linie einer Fortsetzung der Forschungstätigkeit", sagt Dr. Barbara Sheldon, Leiterin des Referats Strategische Planung an der AvH. "Darüber hinaus können die Geförderten in kleinerem Umfang natürlich auch in die Lehre oder andere Projekte eingebunden werden." Das könne ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten für die Zeit nach dem Stipendium eröffnen.

Die Bewerbungsunterlagen inklusive eines Konzepts über die geplante Gestaltung der Zusammenarbeit soll die Universität in Absprache mit den Forschern erstellen. Sie erhält für die Durchführung an der Hochschule 12.000 Euro. Das Geld kommt vom Auswärtigen Amt und verschiedenen Stiftungen. Aktuell werden 68 Wissenschaftler aus zehn Ländern über die PSI unterstützt. Die meisten kommen aus Syrien (46 Prozent) und der Türkei (41 Prozent).

Internationale Förderangebote sind nicht überall bekannt

Chancen auf eine Förderung haben vor allem Wissenschaftler, die schon Kontakte nach Deutschland haben. Bei Hussain Al-Towaie war es die Leiterin des Welcome Centers der TU Darmstadt, die ihn auf die Philipp Schwartz-Initiative aufmerksam machte. Mit Professor Wilhelm Urban aus dem Fachgebiet Wasserversorgung und Grundwasserschutz stand Hussain Al-Towaie seit Jahren im wissenschaftlichen Austausch.

Aussichtslos ist die Chance auf ein Stipendium aber auch sonst nicht, denn einige deutsche Hochschulen, die Mitglied im SAR-Netzwerk sind, lassen sich in regelmäßigen Abständen eine Liste gefährdeter Forscher schicken und werden dadurch auf Wissenschaftler aufmerksam. Weltweit hat das Netzwerk aktuell 450 Mitgliedsorganisationen in 35 Ländern.

Viele gefährdete Wissenschaftler kennen Netzwerke wie SAR aber gar nicht oder können sich nicht an sie wenden, beklagt Stipendiat Hussain Al-Towaie. Dabei denkt er auch an seine Landsleute aus dem Jemen. "Viele Menschen haben keine oder nur eine sehr schlechte Internetverbindung. Sie sind im Schnitt weniger gebildet als zum Beispiel im Krisenland Syrien." Darüber hinaus sei der Austausch zwischen Deutschland und Syrien intensiver und die Chancen auf eine Förderung daher besser. Der geschäftsführende Direktor von SAR, Robert Quinn, bestätigt die Wahrnehmung. "Wir müssen unsere Angebote in Ländern wie dem Jemen auf jeden Fall noch besser bekanntmachen", sagt er. "Aber wir brauchen auch mehr Einrichtungen, die unserem Netzwerk beitreten, damit wir Wissenschaftler an diese vermitteln können."

SAR setzt sich außerdem dafür ein, dass Forscher erst gar nicht aus ihren Heimatländern fliehen müssen. Gemeinsam mit anderen Organisationen haben sie unter anderem einen Leitfaden veröffentlicht, wie sich Länder noch besser für den Schutz der Wissenschaftsfreiheit einsetzen können.

Mehr Offenheit für neue ­Themen gefragt

In Deutschland wünscht sich die Professorin Dilek Dizdar, selbst Betreuerin einer PSI-Stipendiatin an der Universität Mainz, mehr Offenheit von Professoren: "Viele erklären sich nur bereit, einen Forscher aufzunehmen, wenn dieser perfekt in ihr eigenes Forschungsprofil passt. Dabei können andere Themenbereiche die Wissenschaft in Deutschland bereichern", sagt sie. Barbara Sheldon gibt jedoch zu bedenken, dass das Konzept der PSI auf einer "Win-win-Situation" aufbaue: "Damit die Zusammenarbeit und Integration an der Hochschule gut funktioniert, muss die Gasteinrichtung ein hohes fachliches Interesse an der Arbeit der gefährdeten Forschenden haben."

An der TU Darmstadt könne Hussain Al-Towaie zum Beispiel "neue interessante Einblicke in die Wasser- und Energieversorgung in den Regionen im Nahen Osten und in Nordafrika geben", sagt Wilhelm Urban. "Er hat viel Erfahrung darin, welche Konzepte und Strategien dort nicht nur technisch möglich, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert sind und deshalb leichter umgesetzt werden können."

Eine PSI-Stipendiatin beklagt im Gespräch dagegen, dass das Forschungsprojekt ohne eine Absprache mit ihr festgestanden habe und sie sich am Lehrstuhl isoliert fühle. Untergebracht sei sie in einem anderen Fachbereich. Alle Mitarbeiter unterhielten sich auf Deutsch, was sie noch nicht so gut könne, und hätten oftmals nicht mal ein "Hallo" für sie übrig. Den PSI-Organisatoren sind solche Fälle nicht bekannt.

Betreuung auf verschiedene Ansprechpartner verteilen

Hussain Al-Towaie spricht fast fließend Deutsch und fühlt sich wohl an der TU Darmstadt. Trotz der Belastungen aus seiner letzten Zeit im Jemen und der Reise mit zweien seiner Kinder nach Deutschland hat er einen Weg gefunden, um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Das gilt nicht für alle geflüchteten Forscher. Betreuer von PSI-Stipendiaten berichten, dass die ersten Wochen in der neuen Umgebung den Forschern zwar in der Regel Halt gäben, viele sich dann aber wieder schlechter fühlten.

Robert Quinn von SAR rät betreuenden Professoren, sich nicht mit den Belastungen gemeinzumachen, sondern sich als Vermittler zu sehen und die Wissenschaftler an Psychologen zu verweisen – falls möglich, auch von der eigenen psychologischen Fakultät. "Generell sollte es drei Ansprechpersonen pro Forscher geben: eine für fachgebundene, eine für organisatorische und eine für persönliche Fragen." Der betreuende Professor sollte für fachgebundene Fragen zur Verfügung stehen, für Organisatorisches sei es meist ein Mitarbeiter aus dem International Office oder dem Welcome Center. Bei dem Angebot einer psychologischen Betreuung ist Sensibilität gefragt: Bei muslimischen Männern gelte sie zum Beispiel als "unmännlich und weich", berichten Hochschullehrer.

Wunsch nach Normalität

Die meisten Anfragen erhielt SAR im vergangenen Jahr von Sozialwissenschaftlern. Zu ihnen gehört auch die PSI-Stipendiatin Dr. Nil Mutluer. Noch vor gut einem Jahr lehrte sie an der privaten Nisantasi Universität in Istanbul. Dann unterschrieb die Soziologin Anfang 2016 wie mittlerweile mehr als  2.000 andere Oppositionelle einen Friedensappell an die türkische Regierung, mit dem sie unter anderem die Gewalt und die Repressionen gegenüber Kurden kritisierten. Kurz darauf wurde Nil Mutluer von ihrer Universität auf Druck der Regierung entlassen.

Jetzt forscht sie im Lehrbereich "Diversity and Social Conflict" an der HU Berlin. Sie sei dankbar für die Unterstützung in Deutschland, sagt Nil Mutluer, aber sie ärgere sich auch über "politische Deals" von Deutschland mit der Türkei. Mit Blick auf das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen sagt sie: "Deutschland macht es sich damit bequem und hält sich das Kriegselend vom Hals. Das finde ich nicht fair." Wie viele andere engagiert sie sich weiterhin politisch und schreibt zum Beispiel eine Kolumne auf der regierungskritischen türkischen Online-Plattform "Arti Gerçek".

Einen Asylantrag haben Nil Mutluer  und Hussain Al-Towaie nicht gestellt. Dies sei typisch, sagt Barbara Sheldon. "Viele Wissenschaftler ziehen es vor, mit einem regulären Aufenthaltstitel in Deutschland zu sein – der Wunsch nach Normalität ist sehr groß." Für das Philipp Schwartz-Stipendium können sie ihre Gefährdung auch über eine Bescheinigung von SAR oder einer anderen darauf spezialisierten Organisation wie dem Scholar Rescue Fund oder dem Council for At-Risk Academics (CARA) nachweisen.

Die PSI ist darauf ausgelegt, dass die Forscher bleiben können. Die Perspektive für eine berufliche Karriere in Deutschland ist eines der Aufnahmekriterien. Viele wollen allerdings  trotz aller Dankbarkeit für die Unterstützung meist in ihr Heimatland zurückkehren und es mitgestalten, wenn es einen "Neuanfang" geben sollte.

An eine Rückkehr glaubt Hussain Al-Towaie "unter den gegebenen Umständen in absehbarer Zeit" nicht, sagt er. Stattdessen hofft er, dass seine im Jemen verbliebenen Familienmitglieder so bald wie möglich nach Deutschland reisen dürfen.