Eine alte Hand hält ein 2-Cent-Stück hoch
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Studie
Soziale Ungleichheit gefährdet Demokratie

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung weist auf die wachsende Gefahr sozialer Ungleichheit in Deutschland hin. Armutsforscher bestätigen das Risiko.

03.11.2023

Die Einkommensungleichheit in Deutschland trägt nach Einschätzung von Forschenden zu einer Entfremdung einzelner Gruppen vom demokratischen System bei. "Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie", schreibt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in seinem neuesten "Verteilungsbericht".

Die WSI-Experten haben in der Studie untersucht, wie sich die Einkommen in Deutschland verteilen und welche mutmaßlichen Auswirkungen dies hat. Grundlage der Untersuchung seien zwei große, repräsentative Befragungen, die alljährlich vorgenommen werden.

Die Forschenden teilten die Haushalte nach Einkommen ein. Neben einem großen Bereich mit mittleren Einkommen gebe es auch arme und reiche Haushalte. Als arm gelte demnach, wessen Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des Einkommensmittelwerts in Deutschland beträgt. Für einen Singlehaushalt liege die Grenze nach WSI-Angaben bei maximal 1200 Euro im Monat. Als einkommensreich gelte, wer über mehr als das Doppelte des Mittelwerts verfügt.

Geringeres Vertrauen in Rechtssystem und Polizei

Der Studie zufolge ist das Vertrauen in die demokratischen Institutionen stark von der Einkommenshöhe abhängig. So gebe es unter Reichen nur wenige, die der Polizei oder dem Rechtssystem nicht vertrauten. Unter den dauerhaft Armen hingegen vertrauten rund 22 Prozent der Polizei nicht, und mehr als ein Drittel misstraue dem Rechtssystems. 

Deutliche Unterschiede stellt die Studie auch beim Vertrauen gegenüber Parteien und Politikerinnen und Politikern fest: Während gut ein Drittel der Reichen ein geringes Vertrauen in Parteien und Politikerinnen und Politiker angab, waren es unter den dauerhaft Armen deutlich über die Hälfte aller Personen. Beinahe die Hälfte der dauerhaft Armen misstraue außerdem dem Bundestag (47 Prozent). Das schätzen die Forschenden laut der Studie als demokratiegefährdend ein.

Einschätzung eines Armutsforschers

Der Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge, der nicht an der Studie beteiligt war, bezeichnet den Bericht als "verdienstvoll". Es würde die Öffentlichkeit dafür sensibisiert, dass Armut und soziale Ungleichheit in Deutschland nicht bloß Auswirkungen auf das Gesellschaftsgefüge, sondern auch auf die Entwicklung unseres Gemeinwesens hätten, so Butterwegge gegenüber Forschung & Lehre. "Armut und soziale Ungleichheit sind Gift für die Demokratie, denn sie machen politische Gleichheit als deren Grundlage zu einer Illusion."

Butterwegge sieht die Demokratiegefährdung vor allen Dingen durch drei Faktoren begründet: "Erstens beteiligen sich Armutsbetroffene immer weniger an Wahlen, die für das parlamentarische Repräsentativsystem essenziell und sein niedrigschwelligstes politisches Partizipationsangebot sind", so Butterwegge. 

Zweitens verliere die Mittelschicht, wenn sie armutsbedroht sei oder besonders in Krisensituationen große Angst vor dem sozialen Abstieg beziehungsweise Absturz habe, das Vertrauen in das bestehende politische und Parteiensystem, was den Aufstieg eher ganz rechter, rechtspopulistischer oder rechtsextremer Organisationen begünstige, die lautstark nach einem Systemwechsel riefen.

"Die etablierten Parteien besitzen offenbar trotz Erhöhung des Mindestlohns und Einführung des Bürgergeldes kein tragfähiges Konzept, um die Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten." Professor Christoph Butterwegge

Drittens, so Butterwegge, konzentrierten sich das Kapital und der Medienbesitz immer stärker bei "wenigen Hochvermögenden". Deren Machtgewinn ermögliche es ihnen, politisches Handeln zu beeinflussen, während arme Menschen immer seltener politisch partizipierten und ihre Interessen deshalb noch weniger vertreten seien. 

Darauf führt der Armutsforscher den Erfolg rechtspopulistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) zurück. "Dass die AfD in Meinungsumfragen derzeit einen Höhenflug erlebt, obwohl ihre Radikalisierung unübersehbar ist und selbst der Verfassungsschutz sie in Teilen als rechtsextreme Partei einstuft, verwundert wenig: Die etablierten Parteien besitzen offenbar trotz Erhöhung des Mindestlohns und Einführung des Bürgergeldes kein tragfähiges Konzept, um die Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten."

dpa