Person vor Welt aus Büchern
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Neurowissenschaften
Mein Gehirn lernt, aber nicht ich

Die Hirnforschung soll neue Erkenntnisse zum Phänomen der "Bildung" liefern. Doch greift das zu kurz.

Von Andreas Dörpinghaus 16.07.2019

Der Bildung des Menschen wird stets große Beachtung geschenkt. Allenthalben findet der Begriff großen Anklang, wobei klar zu sein scheint, was er bedeutet. Ein stilles Einverständnis, das schont, was zu diskutieren sich lohnte. Die Unberührtheit des Begriffs dient als Projektionsfläche beliebiger Verwendung. So wird die Unbestimmtheit von Bildung bei gleichzeitiger nachdrücklicher Bekräftigung ihrer Wichtigkeit zu einem probaten Mittel, den Menschen zu formieren und normativ zuzurichten.

Er wird zu dem gemacht, was er aus freien Stücken sollen will. In vorderster Linie solcher Akte der Subjektivierung und Selbstoptimierung für beliebige Zwecke – denn die Zwecke bleiben selbst unberührt – finden sich gegenwärtig neurowissenschaftliche Bildungs- und Lernvorstellungen. Die Neurobiologie verspricht scheinbar, alle gesellschaftlichen Probleme auf Lernprozesse des Gehirns zurückführen und so erfreulicherweise zu lösen. Dazu gehören eben auch Bildung und Lernen. 

Ihre Ergebnisse sind nicht neu, zum größten Teil trivial, aber eingeschrieben in eine Grammatik humaner Effizienz. Das Gehirn wird zum Akteur, das Humanum tritt zurück, räumt das Feld für indifferente beliebige Zwecke. Aus dem Hut wird am Ende gezaubert, was vordem sorgfältig verborgen war. Die Zuschauer erstarren ehrfürchtig.

"Bildung steht für das nicht-effiziente Verhalten zur Welt, das im Zögern mehr ist als die leistungsorientierte Selbstoptimierung." Andreas Dörpinghaus

Reformen richten sich an gehirngerechtem Lernen aus. Unter diesem Deckmantel neurobiologischer Forschung breitet sich eine Ökonomie des Lernens aus, die selten willkommener war als gegenwärtig. Es mutet anachronistisch an, überhaupt danach zu fragen, was wir aufgeben, wenn wir die Begriffe Bildung und Lernen aus dem Feld der Humanwissenschaft exkommunizieren und sie einer neurowissenschaftlichen Zurichtung überlassen, die weder Inhalte reflektiert noch reflexive Selbstverhältnisse.

Bildung steht für das nicht-effiziente Verhalten zur Welt, das im Zögern mehr ist als die leistungsorientierte Selbstoptimierung, die den Weg zum kritisch Reflexiven nicht findet. Ist nicht Bildung das Fundament unseres Zusammenlebens, unserer Gesellschaften und Kulturen? Hat nicht Bildung etwas mit klugem Handeln und Urteilen zu tun, mit einem reflexiven Verhältnis zu sich, zu anderen Menschen und zur Welt?

Steht sie nicht für Mündigkeit und politische Kritik, für die Suche nach Erkenntnis, lässt gerade sie sich nicht leiten von Interesse und Neugierde? Es geht doch am Ende darum, nicht auf jeden Reiz und Impuls zu reagieren, sondern auf die Ansprüche der Welt zu antworten, zögern zu können und die Dinge in einem anderen Lichte zu sehen.

Zur Bildung gehört aber auch das kulturelle Gedächtnis und eine Sorge um sich, wie es die Antike nannte, das heißt, den Anspruch nicht aufzugeben, sein Leben mündig zu führen und nicht dermaßen regiert zu werden. Bildung ist ein sehr komplexer, vielschichtiger und durchaus traditionsreicher Begriff, der sich darin vom Begriff des reaktiven Lernens unterscheidet. Jedes pädagogisch ambitionierte Lernen muss sein Maß in Orientierung an der Vorstellung von Bildung suchen oder mitunter anzugeben wissen, wie es sich als eine pädagogische Kategorie zu legitimieren weiß.

Bedeutung der Forschung verzerrt dargestellt

Neurobiologische Einsätze auf ihr letztlich in Geschichte und Systematik fremden Feldern können nur von einem rudimentär differenzierten Verständnis der Sachverhalte ausgehen. Diese Reduktion der Sinngehalte beziehungsweise das gänzliche Absehen von ihnen ist vorab notwendig, um technologisch zu erzeugen, was kein Wirklichkeitskorrelat besitzt.

Erst durch die wissenschaftstheoretisch bedenkliche kausale Übertragung von Hirnaktivität auf ein rudimentäres segmentiertes Verständnis von Lernen entstehen Ergebnisse, die nur trivial sein können, weil sie dem Alltagsverständnis der Probanden und Probandinnen und der Neurowissenschaftler und Neurowissenschaftlerinnen entspringen, nicht etwa einer fachwissenschaftlichen Explikation.

Das Problem der Neurowissenschaften ist nicht, dass sie zu den vergleichsweise noch jungen Wissenschaften zählen, von denen also mit der Zeit weiterhin größere Erkenntnisse auf den humanwissenschaftlichen Gebieten zu erwarten sind. Ihr Problem ist ein genuin begriffliches. Sie sind nämlich stets darauf angewiesen, dass bereits außer ihrer selbst geklärt sein muss, was zum Beispiel Bildung und Lernen überhaupt sind, wenn sie anfangen, diesen Gebrauchsweisen ein neuronales Korrelat zuzuweisen. Nur weil wir bereits Vorstellungen haben, was wir unter Lernen verstehen oder verstehen wollen, können sich Neurowissenschaftler auf die Suche nach einem neuronalen Korrelat machen. Dabei aber entsteht zwangsläufig eine semantische Differenz.

Auf den ersten Blick erscheint es so, als redeten sie von Gleichem, auf den zweiten Blick wird hingegen ersichtlich, dass es einer operationablen Zurichtung der Begriffe bedarf, damit die Transformation in das neuronale Sprachnetzwerk gelingt. Dies führt am Ende dazu, dass Ergebnisse präsentiert werden, die einer Übersetzung bedürfen, um verständlich zu machen, was nun tatsächlich ausgesagt werden kann und was vor allem nicht.

Damit einher geht ein weiterer kritischer Befund, der das Verfahren der Erkenntnisgewinnung betrifft. Sprachliche Einsätze suggerieren, man beobachte etwa das Gehirn quasi "live" bei seiner Tätigkeit und sehe nun endlich unmittelbar, was wir uns so denken. Verschwiegen wird das Zustandekommen dieser Bilder.

Die Formulierung von bildgebenden Verfahren macht hingegen bereits deutlich, dass diese Bilder, die oft Unmittelbarkeit und naiven Realismus nahelegen, nichts anderes als Konstruktionen sind. Sie sind determiniert durch artifizielle digitale Technologien und wissenschaftliche Paradigmen derer, die festlegen, was überhaupt sichtbar sein soll und was nicht.

"Das Gehirn muss zum Akteur werden, mit einer eigenen Welt, in der wir nicht leben." Andreas Dörpinghaus

Auch kann bei weitem nicht einmal alles erfasst werden. So werden, bezogen auf das Lernen, die Prozesse des Lernens nicht erfasst, auch nicht seine so wichtigen Anfänge, nicht seine rekursiv-reflexiven Phasen, Ausläufe oder gar die Folgen für das Selbst und seine Erfahrung. Ungeklärt ist ferner, wie aus Reizen überhaupt Sinn und Bedeutung entstehen. Und: Wir leben schließlich als reflexive Wesen in dieser Welt von Sinn und Bedeutung. Daher muss das Gehirn zum Akteur werden, mit einer eigenen Welt, in der wir nicht leben.

Dieser Akteur ist modern, flexibel, effizient, nach dem Modell eines Unternehmens gegliedert, unterstützt durch eine zeitgemäße technologische Netz- und Datenmetaphorik. Das ist auch nicht neu. Zu allen Zeiten versuchten Menschen, sich selbst in Analogie zu ihren Maschinen zu deuten. Im Zentrum dieses "lernenden" Akteurs steht seine mechanische Anpassungsleistung an seine Umwelt. Das Gehirn wird evolutionsbiologisches Surrogat des lernenden Subjekts und Akteur.

Aus dem Tierreich wissen wir, dass Anpassungsleistungen überlebenswichtig sind und in der Regel von der Natur gelenkt werden. In menschlichen Welten hingegen müssen wir solche Neujustierungen oft aufmerksam selbst vornehmen.

Wir können dieses Anpassungslernen auch als ein reaktives (Reiz-Reaktions-)Lernen beschreiben. Es reagiert auf die Anforderungen und Problemkonstellationen lediglich, antwortet nicht auf sie. In pädagogischen Kontexten sind Lernprozesse am Ende Bildungsprozesse. Sie sind Antworten auf komplexe Erfahrungen, die wir als Menschen machen, und die vor allem Folgen für uns haben. Bildungsprozesse sind im Grundverständnis keine Anpassungsleistungen.

Bücher fliegen durch die Luft
Zur Bildung gehört die Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Nicht-Gewussten, sagt Professor Andreas Dörpinghaus. mauritius images /Ikon Images/Alice Mollon

Bildung: Wechselwirkung von Ich und Welt

Einer der Hauptakteure für das Verständnis von Bildung war und ist Wilhelm von Humboldt. Er beschreibt den Bildungsprozess bezeichnenderweise als eine Wechselwirkung von Ich und Welt. Das nunmehr Interessante im Vergleich zum reaktiven neuronalen Lernen ist nun, dass in der Metapher der Wechselwirkung angelegt ist, dass Bildungsprozesse nicht nur das Ich verändern, sondern Wirklichkeiten gestalten, sich also keineswegs der Umwelt nur anpassen. Wir sehen die Dinge in Bildungsprozessen mit anderen Augen, haben eine andere Sicht auf unsere Verhältnisse. Der Mensch empfängt, indem er gestaltet.

Diese Wechselwirkung braucht allerdings die Auseinandersetzung mit der Welt, mit dem Fremden, dem Nicht-Gewussten, dem Anderen und den Inhalten der Kultur. Die Ausrichtung von Lernprozessen an neurobiologische Reduktionen schafft nur noch Filterblasen, die am Ende nur die eigenen Bedürfnisse und Hinsichten perpetuieren. Es wird nichts gelernt, was nicht in die bestehende Ordnung integriert würde.

Die Ausrichtung des neuronalen Lernens verrät ihre Herkunft und Absicht. Es orientiert sich u.a. nur an den Bedürfnissen der Schüler und Schülerinnen, an ihrem Fleiß, ihrer Intelligenz (was immer das auch dann ist) und ihrem Leistungswillen. Dieses Lernen geht davon aus, dass es nichts gibt, was Menschen täten, wenn es nicht ihrem grundlegenden egomanen Bedürfnis entspringt oder mindestens eine Belohnung zu erwarten ist.

Eine Vorstellung, wie zum Beispiel Platon und viele andere sie noch kannten, dass Bildung einer Sache Zeit schenkt, in ihr aufgeht, ja, dass man das Leid des Nachdenkens auf sich nimmt, und zwar ohne, dass der Nutzen und Gebrauchswert des Lernens im Vordergrund steht, bleibt einer neuronalen Auffassung notwendig fremd.

"Die Menschen werden erzogen zu leistungshungrigen Subjekten." Andreas Dörpinghaus

Eine solche Orientierung ähnelt in der Metaphorik einer neuronalen Apparatur, wie auch das "Hirn-Lernen" selbst mechanisch erscheint. Dieses Lernen erscheint verfügbar und herstellbar wie ein Produkt. Dies ist die alte Sehnsucht der Didaktik als eine Magie seit Wolfgang Ratke. Der Prozess selbst unterliegt der bildungspolitischen Qualitätskontrolle, nichts darf den kürzesten Lernweg stören. Die "Gehirne" sollen optimal und effizient ausgenutzt werden. Es geht eben um das Nützliche und Brauchbare.

Die Menschen werden erzogen zu leistungshungrigen Subjekten, die ihren Gewinn am Lernen daraus ziehen, besser zu sein als andere. So wird das Fundament einer Leistungsgesellschaft gestützt, an deren Effekten derzeit so viele Menschen Leid erfahren. Immer schneller, besser, Pausen dienen nur der Effizienz. Solche Beschleunigungen sind in Bildungsinstitutionen kontraproduktiv. Neurobiologisch wird ein Lernen forciert, das Probleme nicht verstehen will, sondern nur effektiv lösen. Das heißt notwendigerweise auch eine Reduktion von Komplexität um jeden Preis.

Nachdenklichkeit und Irrtum als Teile des bildenden Lernens

Unter dem Aspekt der Bildung gehört zum bildenden Lernen die Nachdenklichkeit, gerade das Verzögern, auch der Irrtum, das Nicht-Wissen und die verstehende Applikation des Gelernten. Bildung braucht Zeit. Das Gehirn kann nicht Zögern. Theodor W. Adorno jedenfalls nannte eine solche rasche Bildung "Halbbildung".

Zudem ist geboten, die Ordnung, in der sich ein Denkstil und wissenschaftliche Ausrichtung bewegt, selbst zu befragen. Es gehört historisch betrachtet zu den einschneidenden Momenten der Moderne, holistische, kosmologische Vorstellungen in einzelwissenschaftliche Fragestellungen zu zergliedern. So entstanden neue Disziplinen, wie z.B. die Anthropologie und Ästhetik, aber eben auch, nicht uninspiriert durch Arthur Schopenhauer, die Physiologie.

Es waren vor allem die Experimente von Helmholtz, die der Physiologie Impulse gaben und sie letztlich in neue Vorstellungen vom Menschen münden ließen. Das Wesen dieser neuen physiologischen Ausrichtung war in weiten Teilen gefasst durch die Partikularisierung seiner Sinne und kognitiven Leistungen, die Zerlegung des Menschen in Einzelteile.

Zugleich entsteht in dieser Ausrichtung die Psychotechnik, die auf die Leistungsoptimierung des Subjektes aus war. Ihre Akteure nannte Robert Musil seinerzeit Leistungsingenieure. Es entstand ein neues Machtgefüge, um Menschen zu führen und zu regieren, das Michel Foucault als Biopolitik bezeichnet. Ihr Objekt ist das nackte biologische Leben.

Physiologische Prozesse werden in dem Machtgefüge als unmittelbare natürliche wahrhafte Prozesse verstanden, die geführt werden können und Eingriffe zur Optimierung benötigen. Diese Eingriffe betreffen das biologische Leben der Bevölkerung genauso wie die Beeinflussung des Individualkörpers. Es entsteht zunehmend so etwas wie eine Normalisierungsgesellschaft, die den Einzelnen, aber auch Bevölkerungsgruppen an einer Norm ausrichtet. Biopolitik ist die Erzählung einer Wahrheit über den Körper, ein Wahrheitsspiel, das sichtbar macht und verbirgt.

Es gehört zur Geschichte der Pädagogik ab dem 19. Jahrhundert, dass pädagogische Denkfiguren zunehmend eine Umschrift in biologische bzw. physiologische normative Kategorien erfahren. Die neurowissenschaftliche Umschrift von Bildung und Lernen steht in dieser Tradition des Leistungsingenieurwesens. Bildung kann in dieser Hinsicht – komplementär zum Lernen – nur noch als eine Form der Therapie begriffen werden. Greift diese Therapie nicht, stehen probat auch Medikamente zur Verfügung.

Es geht nur noch um eine normative Konfiguration der Psyche, die an die gewünschte Leistungsnorm herangeführt werden soll. Die moderne Selbstentzifferung geschieht nun nicht mehr vor dem Hintergrund des göttlichen Gebots und Verbots, sondern in Orientierung an dem Dispositiv der Bedürfnisse, der Effizienz und der Leistung. Diese "gesollte Psyche" ist nicht nur im Gehirn verankert, sondern auch hirnanatomisch aufgebaut. Selbst Armut und Bildungsferne sind hirnanatomisch referiert.

So ist am Ende der Schritt klein zu behaupten, dass Menschen bildungsferner Herkunft und aus sozial schwächerem Milieu, auch hirnphysiologisch einen Makel tragen. Dieser Makel kann zugleich zur Erklärung ihrer Leistungsschwäche oder mangelnden Intelligenz dienen, ja diese Explikationen sind die Makel. Das zarte korrelative Band zwischen Hirnphysiologie und Lernprozess wird zum Drahtseil, auf dem zu Balancieren dem Menschen nicht zukommt.

Bildung und Lernen setzen mitnichten eine Psyche als normatives Persönlichkeitskonzept voraus, sondern Persönlichkeit wird man, auch ungeachtet der Herkunft. In der Antike galt jemand als Persönlichkeit, wenn er klug handelte, in der Gemeinschaft eine orientierende Rolle einnehmen konnte und zudem glaubwürdig in seiner Rede war.

Bildung kann nicht von Persönlichkeit getrennt werden

Auch verbinden wir mit Persönlichkeit eine ethische Dimension. Erwarten wir nicht auch eine bestimmte Qualität des Denkens und Handelns? Persönlichkeit wäre so betrachtet die Folge von Bildung und nicht die hirnphysiologische Voraussetzung. Von einer Persönlichkeit verlangen wir, dass sie aus Überzeugung und mit Argumenten handelt und sich nicht anpasst oder Probleme besonders schnell löst.

Wir verbinden mit dem Begriff der Persönlichkeit keine psychischen, individuellen Dispositionen, sondern die Fähigkeit des Menschen, eine Welt der Bedeutung und des Sinns mitzugestalten und sich "auf-sich" zu verstehen. Es ist die Persönlichkeit, folgen wir Immanuel Kant für einen Augenblick, die unsere Freiheit verbürgt, Schicksalhaftes in Willensakte zu transformieren und in der Lage ist, Nein-Sagen zu können, auch gegenüber dem Druck der Verhältnisse und den Erwartungen des Affirmativen. Persönlichkeit wird man und ist es nicht. Das Gehirn ist keine Persönlichkeit.

Das Lernen kann nicht von der Bildung der Persönlichkeit getrennt werden. Wir lernen eben nicht nur etwas, sondern wir lernen immer auch etwas über uns als Lernende. Das heißt, das Lernen ist immer reflexiv auf die Persönlichkeit gewendet. Ich lerne eben immer auch etwas über mich, meine Grenzen und Möglichkeiten. Und: Persönlichkeit kann man nur in sozialen Gefügen sein, nicht für sich, nur für andere.

Bildung war und ist stets an die Vorstellung einer sozialen Gemeinschaft gebunden. Für Platon war die Polis Sinn und Maß der Bildung, es ging nicht um den Einzelnen. Stets suchte der Bildungsgedanke den Menschen in einem größeren Sinnhorizont zu denken, der die partikularen Interessen übersteigt. Die Allgemeinbildung, die stets zum Bildungsgedanken gehörte, verdankt sich der Erkenntnis, dass der Andere, soziale Strukturen, Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur immer schon Teil meines Selbst sind.

Meine Wahrnehmung der Welt teile ich stets mit anderen. Die Allgemeinbildung verdankt sich bis heute einem kulturellen Gedächtnis, das sich vor allem in der Form der septem artes liberales über Jahrhunderte tradierte, der Vorstellung eines sensus communis, der den Gemeinsinn zum konstitutiven Teil des Denkens ausweist, und nicht zuletzt einer Konzeption von reflexiver Mündigkeit, die sich nur im gemeinsam Politischen erfüllt.

"Neurophysiologische Beschreibungen erfassen nicht das Lernen, sondern physiologische Effekte." Andreas Dörpinghaus

Stets war Bildung mit Sozialität, wenigstens mit Identität verbunden. Das Gehirnsubjekt hingegen erschafft sich ein quasi sozialabstinentes Dasein. Es ist aber keineswegs die primordiale Struktur unserer Subjektivität, vielmehr sind dies unsere Sozialbezüge und am Ende die Sprache. In unserer Wahrnehmung sind die Anderen allein über unsere Sprache immer schon Teil unserer Verhältnisse. Das, was wir sind, entsteht nicht in einer intimen Privatheit meiner selbst mit meinem Gehirn, sondern in der sprachlich vermittelten Auseinandersetzung mit anderen Menschen und Kulturen. Und auch mit Inhalten, die die neurowissenschaftliche Indifferenz nicht mehr kennt.

Kurzum: Der Mensch wird nicht ausgebildet, sondern er bildet sich, und zwar in der reflexiven Auseinandersetzung mit der Welt und ihren Gegenständen, mit anderen Menschen und Kulturen und mit sich und seiner Lebensführung. Wir behandeln uns weder in der Schule, an Hochschulen noch in anderen Kontexten als Gehirne, sondern als leiblich-sprachliche Wesen, die Gründe haben für ihr Handeln, sich um ihre Verhältnisse sorgen und sich nicht dermaßen regieren lassen wollen.

Neurophysiologische Beschreibungen erfassen nicht das Lernen, sondern physiologische Effekte. Wir lernen stets durch Erfahrungen, die wir machen, in denen jedes Lernen als Prozess des Verstehens seinen Ausgang nimmt. Am Ende ist ein reflexives Lernen Bestandteil einer Persönlichkeit, die ihre Freiheit in der Gestaltung der Wirklichkeit findet.

Das Lernen selbst ist in dieser Anbindung nicht beobachtbar, es bleibt Gegenstand der reflexiven Forschung als ein Geschehen, das Sinn und Bedeutung generiert, das Horizonte gestaltet, Möglichkeiten schafft. Bildung hat kein neuronales Korrelat! Das ist die Pointe.

Wir müssen in der Wissenschaft wieder begreifen, dass es Dinge gibt, die derart komplex sind, dass man ihnen nur durch Nachdenken beikommen kann. Bildung und Lernen gehören dazu. Schulen und Hochschulen brauchen keine Bildung zur Anpassung und zum affirmativen Ja-Sagen, sie benötigen keine neurowissenschaftlichen Leistungsingenieure, die das menschliche Lernen mit der Kumulation von Lern-Wissen verwechseln und das Verstehen als Kulturluxus begreifen.

Vielmehr sollten sie – selbst in der Verwertungslogik – Persönlichkeiten fördern, die lernen, Nein-sagen zu können, selbstständig Sachverhalte oder Problemstellungen zu durchdenken, sich in Nachdenklichkeit zu verlieren, um sich in einem Sich-auf-sich- und –etwas-zu-verstehen zu finden. Wir dürfen denen, die das Neue in unsere alte Welt mitbringen, nicht das Neue aus der Hand schlagen. Das wäre das Ende. Große, aber auch kleine Ideen, werden nicht von Ja-Sagern erfunden. Das Gehirn lernt, aber nicht ich. Denn dazu bedarf es mehr Wissenschaften, die Bildung und Lernen untersuchen.

1 Kommentar

  • Hans-Günther Döbereiner Man kann den Groll gegen Teile der Neuro- und Kognitionswissenschaften verstehen. Auf der Ebene der Elemente eines neuronalen Netzes lässt sich keine Philosophie des Geistes betreiben. Es lassen sich biologische Mechanismen von Lernprozessen verstehen, nicht jedoch die Semantik der gelernten neuronalen Korrelate. Einige Kollegen würden dies anders sehen. Daraus folgt aber nicht, dass es keine neuronalen Korrelate gibt, die Gedanken und deren Entwicklung repräsentieren. Ich darf feststellen, die Pointe ihres Beitrages in F&L existiert nicht.

    Ihre ironische These “Wir müssen in der Wissenschaft wieder begreifen, dass es Dinge gibt, die derart komplex sind, dass man ihnen nur durch Nachdenken beikommen kann.” erscheint mir wenig hilfreich um die hohen Mauern zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften abzutragen. Genau dies tun wir seit Jahren mit unserer Bremer Ringvorlesung Universelle Eigenschaften des Entscheidens, siehe http://decisions.uni-bremen.de/ringvorlesung/ Wir laden ein zum Dialog! Miteinander diskutieren halte ich für deutlich besser als de facto zu proklamieren nur Geisteswissenschaftler würden denken ;-). Messen und Rechnen sind ebenfalls komplexe kognitive Prozesse! Sie dürfen überrascht sein. Es muss sich auch die Erkenntnis durchsetzen, dass Nicht-linearitäten einfach nicht durch reines Denken erfassbar sind, zumindest nicht von den meisten Menschen.

    Entscheiden, sowie weitergehend Intelligenz und noch weiter gefasst Bewusstsein, lassen sich naturwissenschaftlich beschreiben, wenn wir auch noch weit davon entfernt sind Gefühle (Qualia) und das “Ich” wirklich zu erklären. Ich vermute es wird einmal eine Physik des Geistes geben. Max Tegmark wirft in seinem Buch Life 3.0 in Kapitel 8 einen Lichtschein auf das ferne Ziel. Meiner Einschätzung nach wird eine Physik des Geistes eine stochastische Physik der Information und ihrer Muster sein.

    Die Erfolge der Künstlichen Intelligenz kann Naturwissenschaftlern das immense Wissen der Geistes- und Sozialwissenschaften zugänglich machen und tut dies bereits. Dies kann jedoch in der gebotenen Gesamtheit nur gelingen wenn die Disziplinen voneinander lernen. Man muss wie ein Biologe denken um biologische Mechanismen ultimativ effektiv physikalisch zu beschreiben. Dies gilt in einem erweiterten Sinne auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften.

    Komplexe Strukturen bzw komplexe Sinngehalte bedürfen ihrer eigenen Sprache. Diese Erkenntnis ergibt sich aus der Theorie der Kausalen Emergenz, siehe den sehr lesenswerten Artikel https://medium.com/@erikphoel/a-primer-on-causal-emergence-87e6e6944ebc Eine Physik des Geistes und eine Philosophie des Geistes ergänzen und komplimentieren sich in ihren Aussagen.

    Es lässt sich ein Trend zur Quantifizierung weiter Teile der Geisteswissenschaften beobachten. Big Data und technologische Gimmicks wie Googls Glass sind erst der Anfang. Naturwissenschaftler müssen jedoch ihre Arroganz überwinden. Worte können so scharfsinnig sein wie Mathematik oder Physik, wenn sie wohldefiniert und exzellent gesetzt sind.
    Man muss komplexe Strukturen auf der optimalen Ebene konzeptionell durchdringen, bevor eine effektive quantitative Beschreibung gelingen kann.
    Gemeinsam stehen die Wissenschaften dann vielleicht schon am Ende dieses Jahrhunderts bei einem modernen Universalgelehrten wie im Altertum und der Kreis schließt sich.

    Im übrigen stimmen ich ihnen weitgehend zu in ihrer geisteswissenschaftlichen Argumentation zu den Grundwerten von Bildung zurückzukehren.

    HGD