Frau mit Brille hinter einem Buch.
mauritius images / Fabio and Simona

Informationsverständnis
Rhythmen gelesener und gesprochener Sprache

Beim Lesen bewegt sich der Blick in einem bestimmten Muster über den Text. Diese Blickbewegung ähnelt der Rhythmik gesprochener Sprache.

09.12.2021

Die Bewegungen der Augen folgen beim Lesen einer charakteristischen zeitlichen Rhythmik. Ein internationales Team von Forscherinnen und Forschern in Frankfurt, Salzburg und New York hat herausgefunden, dass diese zeitliche Struktur des Lesens nahezu identisch ist mit dem Rhythmus der gesprochenen Sprache, also mit den Intervallen, die die Produktion und Verarbeitung der linguistischen Informationsstücke (Silben oder Wörter) benötigt. Daraus lasse sich schließen, dass sich die Verarbeitung von geschriebener und gesprochener Sprache in einem größeren Maße ähneln als bisher angenommen. Die Studienergebnisse wurden in der Fachzeitschrift "Nature Human Behavior" veröffentlicht.

"Die gesprochene Sprache beeinflusst auch das Lesen. Bis jetzt ist aber wenig über die gemeinsamen zugrundeliegenden Mechanismen von Lesen und gesprochener Sprache bekannt", erklärt Erstautor Dr. Benjamin Gagl. Die Studie des Forschungsteams liefert nun neue Erkenntnisse zu dieser Schnittstelle von geschriebener und gesprochener Sprache.

Das Forschungsteam um Professor Christian Fiebach von der Goethe-Universität Frankfurt nutzte Methoden der Frequenzanalyse, um die Augenbewegungen zu untersuchen. Diese Methode findet in der Untersuchung des lautlichen Sprachsignals bereits Verwendung. Diese Vorgehensweise wurde in zwei Studien in Frankfurt und in einer Studie an der Universität Salzburg angewandt, an denen insgesamt 185 deutsche Muttersprachler teilnahmen. Neben einer vergleichbaren Rhythmik von Lesen und Sprechen zeigte sich bei weniger leseerfahrenen Personen eine direkte zeitliche Kopplung der Lese- und Sprachprozesse. Geübtere Leserinnen und Leser lasen schneller und konnten zwischen zwei Augenbewegungen mehr Information aus dem Text entnehmen. Auf Basis einer Metastudie, die alle in Fachzeitschriften erschienenen Blickbewegungsstudien des Lesens aus den Jahren 2006 bis 2016 berücksichtigte, schätzten die Forschenden die zeitliche Rhythmik des Lesens für 14 Sprachen und mehrere Schriftsysteme. Dabei zeige sich, dass der Leserhythmus bei zeichenbasierten Schriftsystemen (wie etwa dem Chinesischen) langsamer sei, durch die schwierigere visuelle Analyse der komplexen Schriftzeichen.

Fiebach interpretiert die Studienergebnisse: Die Sprachverarbeitungssysteme im menschlichen Gehirn hätten sich evolutionär auf die zeitlichen Abläufe der gesprochenen Sprache spezialisiert. Er stellt die noch weiter zu überprüfende Hypothese auf, "dass diese Sprachsysteme beim Lesen als eine Art 'Taktgeber' für die Augen dienen, damit diese die gelesenen Informationen in einem optimalen zeitlichen Rhythmus an das Gehirn senden". Dies könnte die weitere Analyse im Gehirn erleichtern.

cpy