Illustration des molekularen Aufbaus des neuen Werkstoffes Graphen
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Van-der-Waals-Materialien
Schwache Bindung, starke Eigenschaften

Am 8. März jährt sich der Todestag des Physikers Johannes Diderik van der Waals zum 100. Mal. Welche Rolle spielt seine Entdeckung heute?

Von Christoph Stampfer 08.03.2023

Die Van-der-Waals-Kraft wurde erstmals im späten 19. Jahrhundert von dem niederländischen Physiker Johannes Diderik van der Waals (1837-1923) beschrieben. Heute bezeichnet man damit eine Bindungskraft, die zwischen Atomen oder Molekülen auftritt, wenn sie sich in der Nähe zueinander befinden und kein Austausch von elektrischer Ladung erfolgt. Obwohl die Van-der-Waals-Kräfte im Vergleich zu anderen chemischen Bindungen relativ schwach sind, spielen sie eine wichtige Rolle in der Natur und in den Materialwissenschaften.

Der mikroskopische Ursprung der Van-der-Waals-Kraft hängt mit der Bewegung der elektrisch negativ geladenen Elektronen um den positiv geladenen Kern zusammen, durch die sich die örtliche Ladungsverteilung ständig verändert. Durch diese Ladungsbewegung entstehen zeitlich fluktuierende elektrische Dipole (entlang einer Richtung örtlich voneinander getrennte positive und negative Ladungen). Da das elektrische Feld eines Dipols eines Atoms in einem benachbarten Atom ein elektrisches Dipolmoment induzieren kann, kommt es zu einer anziehenden Wechselwirkung zwischen diesen Dipolen. Diese Anziehungskraft bezeichnen wir als Van-der-Waals-Kraft. Insgesamt ist dies eine sehr schwache Kraft, die mit dem Abstand der Atome äußerst schnell abfällt. Trotz ihrer Schwäche tragen die Van-der-Waals-Kräfte aber zur Stabilität vieler Materialien bei. So begegnen uns diese Kräfte beispielsweise bei Edelgas- und Molekularkristallen sowie insbesondere bei nach ihnen benannten Van-der-Waals-Festkörpern.

In Edelgaskristallen, die in der Natur sehr selten vorkommen und meist sehr spröde sind, hält die schwache Van-der-Waals-Kraft die ungeladenen Edelgasatome (zum Beispiel Argon oder Xenon) zusammen. In Molekülkristallen, wie zum Beispiel Zucker oder organischen Halbleitern, ist die Van-der-Waals-Kraft, neben anderen zwischenmolekularen Kräften (insbesondere der Wasserstoffbrückenbindungen), für die Stabilität des Materials von großer Bedeutung.

Was sind Van-der-Waals-Materialien?

Eine unbestritten wichtige Rolle spielen die Van-der-Waals-Kräfte bei den nach ihnen benannten Van-der-Waals-Materialien. Sie zeichnen sich durch eine besondere atomare Kristallstruktur aus, bei der sich Schichten aus Atomen in der Ebene parallel zueinander anordnen. In einer einzelnen Schicht sind die Atome lateral durch die sehr starke kovalente Bindung miteinander verbunden (bildlich gesprochen geben sich die Atome die Hand, indem sie miteinander Elektronen austauschen) und formen einen (nahezu) zweidimensionalen (2D) Kristall. Die einzelnen Schichten sind zudem vertikal durch schwache Van-der-Waals-Kräfte miteinander verbunden, wodurch insgesamt eine stabile Struktur entsteht. Zu den bekanntesten natürlichen Van-der-Waals-Materialien gehören Graphit und Molybdändisulfid. Graphit ist allen als Bestandteil von Bleistiftminen vertraut, es dient aber insbesondere auch als Schmiermittel und Wärmeleitmaterial. Es besteht aus Schichten von Kohlenstoffatomen, die in der Ebene eine hexagonale (Honigwaben ähnliche) Kristallstallstruktur bilden (sogenanntes Graphen) und parallel zueinander angeordnet sind. Die schwachen Van-der-Waals-Kräfte zwischen den Schichten machen Graphit zu einem weichen Material, das sich leicht abreiben lässt. Zeichnet man zum Beispiel mit einem Bleistift, der aus Graphit und Ton als Bindemittel besteht, einen Strich auf ein Blatt Papier, bricht man laufend Van-der-Waals-Bindungen auf und hinterlässt dünne Graphitblättchen auf dem Papier.

"Zu den bekanntesten natürlichen Van-der-Waals-Materialien gehören Graphit und Molybdändisulfid."

Molybdändisulfid ist als Festschmierstoff und als Katalysator, unter anderem in der Petrochemie, von Bedeutung. Es besteht aus Schichten von Molybdän- und Schwefelatomen, die ebenfalls in der Ebene parallel zueinander angeordnet sind. Durch die schwachen Van-der-Waals-Kräfte zwischen den Schichten kann das Material auch in sehr dünnen Schichten hergestellt werden, was es für mögliche Halbleiteranwendungen und Solarzellen interessant macht.

Eigenschaften von Graphit und Graphen

Eine einzelne Schicht eines Van-der-Waals-Materials bezeichnet man als 2D-Material (prominentestes Beispiel ist das oben erwähnte Graphen). Besonders interessant ist, dass sich die physikalischen Eigenschaften der einzelnen Schicht teils sehr stark von jenen des dickeren Ausgangsmaterials unterscheiden. So leitet zum Beispiel Graphen elektrischen Strom wesentlich besser als Graphit. Ähnlich verhält es sich mit einlagigen Molybdändisulfid und anderen 2D-Halbleitern, welche Licht mit bestimmten Wellenlängen wesentlich besser absorbieren können als das Van-der-Waals-Ausgangsmaterial. Diese besonderen Eigenschaften in Kombination mit der hohen mechanischen Flexibilität von 2D-Kristallen (sehr starke Bindung in der Ebene und extrem dünn) machen diese Materialien äußerst interessant für flexible opto-elektronische und hochfrequente elektronische Anwendungen (zum Beispiel Solarzellen und breitbandige Photodetektoren sowie 6G Mobilfunk), aber auch für die Grundlagenforschung.

Derzeit sind mehr als 2.000 geschichtete Van-der-Waals-Materialien gefunden, an denen man – zumindest in der Theorie – einzelne Schichten isolieren und die man in 2D-Materialien zerlegen kann. Diese 2D-Materialien zeichnen sich durch unterschiedlichste Eigenschaften aus und verhalten sich wie zum Beispiel Metalle, Halbleiter, Isolatoren, Supraleiter oder 2D-Magnete.

Neue Funktions-Materialien

Dank der schwachen Van-der-Waals-Bindung ist den Van-der-Waals-Materialien noch ein ganz besonderer und zukunftsweisender Aspekt gemein: Da man verschiedene "natürliche" Van-der-Waals-Materialien (stellen Sie sich beispielsweise einen Stapel mit gelbem Papier und einen mit blauem Papier vor) in einzelne Schichten zerlegen kann, kann man die einzelnen Schichten beziehungsweise die unterschiedlichen 2D-Materialien in beliebiger Schichtreihenfolge auch wieder neu zusammensetzen. Die Eigenschaften des künstlich zusammengesetzten Materials hängen nicht nur von den Eigenschaften der einzelnen Lagen, sondern auch von der genauen Stapelfolge ab. Bildlich gesprochen: Nimmt man zum Beispiel zwei Lagen gelbes Papier und eine Lage blaues Papier und wiederholt dies mehrere Male, erhält man einen künstlich erzeugten bunten Papierstapel, der so in der "Natur" nicht vorkommt. Mit diesem Ansatz lassen sich völlig neuartige funktionale Van-der-Waals-Materialen herstellen. Beispielsweise wurde bereits gezeigt, dass sich so Leuchtdioden ("Lampen") in einem Van-der-Waals-Material aus Graphen, isolierendem hexagonalen Bornitrid und verschiedenen halbleitenden Monoschichten aus Übergangsmetall-Dichalcogeniden mit einer Gesamtdicke von zehn Nanometer (0,000001 Millimeter) integrieren lassen.

"Mit diesem Ansatz lassen sich völlig neuartige funktionale Van-der-Waals-Materialen herstellen."

Die schwache Van-der-Waals-Kraft zwischen den Schichten erlaubt es zudem, die einzelnen Schichten gegeneinander zu verdrehen. Das ist eine Einzigartigkeit, die man bis dato nur von Van-der-Waals-Materialien kennt und die erst seit kurzer Zeit eingehend erforscht wird. So wurde 2018 gezeigt, dass man Supraleitung (dabei fällt der elektrische Widerstand auf null) findet, wenn man zwei Lagen Graphen (jede für sich verhält sich wie ein Halbmetall) um 1,1 Grad zueinander verdreht. Dieses durchaus überraschende und noch nicht vollständig erklärte Verhalten zeigt eindrücklich das Potenzial "moderner" Van-der-Waals-Materialien.

Die Tatsache, dass sich nicht nur die Schichtabfolge kontrollieren, sondern auch der Verdrehungswinkel einstellen lässt und beides großen Einfluss auf die Materialeigenschaften ausübt, erlaubt die direkte Integration von Funktionalität in das neuartige Material. All dies macht Van-der-Waals-Materialien 100 Jahre nach dem Wirken von Johannes Diderik van der Waals zu einem der spannendsten und aktivsten Forschungsfelder im Bereich der Festkörperphysik und der Materialwissenschaften.

historisches Portraitfoto von Johannes Diderik van der Waals
Johannes Diderik van der Waals (1837-1923) war ein niederländischer Physiker. mauritius images / History and Art Collection / Alamy / Alamy Stock Photos

Johannes Diderik van der Waals (1837-1923)

Johannes Diderik van der Waals war ein niederländischer Physiker, der den Zustand von Materie erforschte. Die Ursache der Anziehungskräfte zwischen Atomen beziehungsweise unpolaren Molekülen – die später nach ihm benannten Van-der-Waals-Kräfte – entdeckte er bereits 1869.

Während seiner Promotion entwickelte van der Waals 1873 zudem ein Modell über die Kontinuität von gasförmigen und flüssigen Zuständen von Materie und stellte daraus eine Zustandsgleichung auf – die nach ihm benannte Van-der-Waals-Gleichung, für die er 1910 den Nobelpreis für Physik erhielt.

Van der Waals starb am 8. März 1923 in Amsterdam. Sein Todestag jährt sich am Mittwoch zum 100. Mal.