Frau betrachtet historische Wahlplakate aus Bundestags- und Landtagswahlen
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Bundestagswahl 2021
Wahlprogramme unverständlich wie nie

Wahlprogramme sind schwere Lektüre. Bei der Wortwahl der Parteien gebe es vor allem Masse und kaum Klasse, kritisiert eine Studie.

30.08.2021

Wer sich mit den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl auseinandersetzen will, scheitert oft schon an der sprachlichen Hürde. In diesem Jahr sind die Texte einer Studie zufolge zwar so umfangreich wie nie zuvor – sie lassen sich aber auch so schwer verstehen wie kaum andere in der bundesdeutschen Geschichte. In den Programmen zur anstehenden Wahl fanden sich den Studienautoren zufolge oft Wortungetüme und Bandwurmsätze, teilte die Universität Hohenheim mit.

"Nur 1994 waren die Programme im Schnitt noch unverständlicher", fasst der Kommunikationswissenschaftler Professor Frank Brettschneider die Ergebnisse der Studie zusammen. Die Analyse ist Teil eines Langzeitprojektes, bei dem seit der Bundestagswahl 1949 alle 83 Wahlprogramme der im Deutschen Bundestag oder in drei Landtagen vertretenen Parteien untersucht werden. Dafür benutzt Brettschneiders Team eine Software für komplizierte Wörter oder verschachtelte Sätze.

Ein weiteres Ergebnis der Langzeitstudie: Wahlprogramme werden immer länger. Im Schnitt enthalte ein Programm heute 43.541 Wörter, acht Mal so viele wie bei der ersten Bundestagswahl 1949, als die Partein noch durchschnittlich 5.498 Wörter verwendeten. Die traditionellen Spitzenreiter beim längsten Wahlprogramm, die Grünen, würden in diesem Jahr knapp von der Links-Partei überholt. Die kürzesten Programme hätten 2021 die AfD und die SPD mit jeweils knapp 23.500 Wörtern vorgelegt.

Fremdwörter und Anglizismen machen Wahlprogramme unverständlich

Dafür weist das Programm der AfD mit 79 Wörtern den längsten Bandwurmsatz auf. Wortungetüme wie "Quellentelekommunikationsüberwachung" (FDP, Linke) und Fachbegriffe wie "Cell-Broadcasting-Technologie" (CDU/CSU), "Cybergrooming" (Grüne) oder "Life-Chain" (SPD) finden sich hingegen breit gestreut über die Parteigrenzen hinweg. Am formal verständlichsten ist dem "Hohenheimer Verständlichkeitsindex" zufolge das Wahlprogramm der Partei Die Linke, den letzten Platz belegen die Grünen. "Es handelt sich um das formal unverständlichste Wahlprogramm der Partei seit 1983", kritisiert Brettschneider.

Claudia Thoms, Hohenheimer Verständlichkeits-Forscherin, bemängelt unter anderem Fremd- und Fachwörter sowie zusammengesetzte Wörter und Anglizismen. Da sei bei den Grünen von einer "Fact-Finding-Mission" die Rede, wenn sie sich vor Ort ein Bild machen wollten. Die CDU/CSU wirbt für einen "Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds", die AfD formuliert die "supranationale Remigrationsagenda" und die Partei Die Linke kennt einen "Antiziganismus". Unverständlich seien auch das "Edge-Computing" (SPD) und der "Carbon Leakage-Schutz" (FDP). "Darüber hinaus erhöhen lange, zusammengesetzte Wörter nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme", mahnt Thoms.

Populismus und negative Formulierungen sind der Studie zufolge im Vergleich zu früheren Wahlen in den aktuellen Wahlprogrammen eher weniger ausgeprägt. Am populistischsten schreibe 2021 die AfD, negative Begriffe verwendeten am häufigsten die AfD und die Linke.

Parteien sind sich des Jargons oft nicht bewusst

Die Ergebnisse zur Verständlichkeit seien noch schlechter als bei der Bundestagswahl 2017. "Das ist enttäuschend", sagt Brettschneider. "Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben." Mit ihren "teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen" schlössen sie aber einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus.

Gelungene Passagen in den Einleitungen und verständliche Schlussteile der Programme zeigten, dass Parteien durchaus verständlicher formulieren könnten, sagt der Sprachwissenschaftler. "Die Themenkapitel sind aber das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den 'Fluch des Wissens'", sagt er.

Wichtiger als die Sprache sei natürlich stets der Inhalt, meint Brettschneider. "Unfug wird nicht dadurch richtig, dass er formal verständlich formuliert ist." Formale Unverständlichkeit stelle aber eine Hürde da, wenn Inhalte verstanden werden sollten. "Parteien verschenken hier eine Kommunikationschance."

Neben ihren normalen Wahlprogrammen bieten aber alle Parteien zur Bundestagswahl 2021 auch mindestens eine (meist kürzere und einfachere) alternative Version an. Alle Parteien haben demnach eine klassische Kurzfassung und digitale Versionen mit Navigation vorgelegt. Bis auf die AfD böten alle Parteien zudem Versionen in leichter Sprache sowie mehrsprachige Versionen ihrer Kurzwahlprogramme an. Einige Parteien hätten außerdem Audio- oder Videoformate erstellt.

ckr/dpa