Eine Gruppe von Forschenden sitzt und steht teils in weißen Kitteln zusammen und diskuiert über Experimentbeobachtungen.
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Interview mit Professor für Bio-Informatik
"Wissenschaft funktioniert grundsätzlich nicht ohne Kreativität"

Innovative Forschung braucht kreative Prozesse. Doch Kreativität bekommt kaum Raum in der Ausbildung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Von Vera Müller 16.01.2024

Forschung & Lehre: Herr Professor Lercher, Sie beschäftigen sich mit der Kreativität in der Forschung und plädieren dafür, die Bedeutung kreativer Prozesse bereits in der Doktorandenausbildung zu vermitteln. Was ist der Hintergrund? 

Martin Lercher: Wissenschaft funktioniert grundsätzlich nicht ohne Kreativität: Will man das gewichten, dann macht die Idee wahrscheinlich 50 Prozent aus und das Testen der Hypothese die anderen 50 Prozent. Aber für die Organisationen, die Wissenschaft finanzieren, spielt das Generieren von Hypothesen eine untergeordnete Rolle. Als Forscherin oder Forscher können Sie eine Idee oder Hypothese nicht im Rahmen der Förderung entwickeln – Sie müssen diese schon haben, bevor Sie sich um das Geld bewerben. 

"Will man das gewichten, dann macht die Idee wahrscheinlich 50 Prozent aus und das Testen der Hypothese die anderen 50 Prozent."
Professor Martin Lercher

Diese starke Betonung von existierenden Hypothesen bei der Beantragung von Forschungsgeldern ist eine relativ junge Entwicklung. Damit wissenschaftliche Arbeiten beachtet und zitiert werden, müssen sie etwas Neues enthalten. Insbesondere dem selbstständig arbeitenden wissenschaftlichen Nachwuchs werden aber keine Mittel zur Verfügung gestellt, um neue Ideen zu entwickeln. 

Obwohl Kreativität eine entscheidende Rolle spielt, wird ihr kaum Raum in der Ausbildung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegeben. Genauso, wie Forschende ihre Experimente möglichst effizient durchführen sollten, sollten sie auch den kreativen Prozess möglichst effizient gestalten. Daher ist es wichtig, Werkzeuge für das Generieren von Ideen zu kennen und zu lernen, wie man sie sinnvoll einsetzt.

Ein Mann mittleren Alters in dunkelblaumem Hemd, mit Brille und Glatze steht in lässiger Pose vor einer bunten Blätterwand und lächelt.
Martin Lercher ist Professor für Bio-Informatik an der Universität Düsseldorf. Universität Düsseldorf

Forschung & Lehre: Sprechen Sie da auch aus eigener Erfahrung? 

Martin Lercher: Ich habe selbst sehr lange gebraucht, bis ich gelernt habe, meine eigene Kreativität wissenschaftlich zu nutzen. Ich war sehr lange der Überzeugung, abhängig zu sein von den Ideen der Kooperationspartner, die Experten auf dem Gebiet waren, auf dem ich arbeiten wollte. Erst spät habe ich angefangen, eigene Forschungsfragen zu generieren, was die eigene Arbeit sehr viel befriedigender und – so hoffe ich zumindest – auch besser gemacht hat. Diese Fähigkeit müssen sich Forschende aber nebenher aneignen, es wird so gut wie nie explizit darüber geredet.

Forschung & Lehre: Warum wird Kreativität in der Forschung kaum thematisiert? 

Martin Lercher: Warum das Thema Kreativität bisher kaum wahrgenommen wurde, hat meines Erachtens mehrere Gründe. 

Ein Grund ist kultureller Natur: In der Wissenschaft fokussieren wir uns, insbesondere auch gefördert durch die Arbeiten von Sir Karl Popper, sehr stark auf das, was Wissenschaftsphilosophen den “Context of Justification", den Rechtfertigungszusammenhang, nennen. Es geht weniger um die Herkunft der Hypothesen, sondern vielmehr darum, ihre Richtigkeit zu überprüfen. Außerdem ist es äußerst schwierig, wissenschaftlich zu belegen, was uns als Forschende kreativer macht. 

Forschung & Lehre: Was ist Ihr Ansatz, um kreative Prozesse in der wissenschaftlichen Ausbildung zu unterstützen? 

Martin Lercher: Mein Kollege Itai Yanai von der New York University und ich konzentrieren uns auf die Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften und suchen hier nach Möglichkeiten, Kreativität zu fördern. Die von uns entwickelten Werkzeuge (siehe Infobox unten) basieren zunächst auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Über diese Beobachtungen diskutieren wir dann und schauen, ob diese mit denen von Kolleginnen und Kollegen übereinstimmen und ob wir eine Verbindung finden zur Forschung in der Psychologie, zu Phänomenen, die in ähnlichen Kontexten auftreten. 

Forschung & Lehre: Wo entwickeln sich kreative wissenschaftliche Prozesse besser: in kleineren oder größeren Forschungsgruppen bzw. -einheiten? 

Martin Lercher: Dazu gibt es eine spannende Arbeit aus dem Jahr 2019 in der Zeitschrift "Nature". Die Forschenden haben sich für die Studie Muster von Zitierungen in Abhängigkeit von der Anzahl der beteiligten Forschenden angeschaut. Je mehr Autorinnen und Autoren ein Paper hatte, umso mehr Zitierungen hatte es im Durchschnitt. 

Ein Artikel mit einem, zwei oder maximal drei Autoren war aber im Durchschnitt deutlich disruptiver und präsentierte deutlich neuere Ideen als Artikel mit mehr Autorinnen und Autoren. Demnach sind große Gruppen und Konsortien wichtig, um ein Feld in eine vorgegebene Richtung voranzutreiben. Aber um bahnbrechende neue Ideen zu entwickeln, scheinen sehr kleine Gruppen besser zu sein. Wir meinen sogar, dass die kleinste Gruppe mit zwei Personen ideal ist. 

“Um bahnbrechende neue Ideen zu entwickeln, scheinen sehr kleine Gruppen besser zu sein."
Professor Martin Lercher  

Ein freies, exploratives Gespräch funktioniert zwischen zwei Personen viel besser als in einer größeren Gruppe. Das wichtigste Werkzeug für Kreativität ist daher aus unserer Sicht das 1-zu-1-Gespräch mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Aber um Ideen zu entwickeln, braucht es eine bestimmte Art des Gesprächs. Wir müssen eine sehr freie, positive, unterstützende Form finden, in der ich die Idee meines Gegenübers nicht direkt vernichte, sondern versuche, dem Gegenüber zu helfen, das Potenzial im Gesagten herauszuarbeiten.

Forschung & Lehre: Wie wichtig ist die interdisziplinäre Forschungszusammenarbeit für den kreativen Prozess? 

Martin Lercher: Interdisziplinarität ist ein ganz wichtiges Thema für die wissenschaftliche Kreativität, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Im Zentrum eines Arbeitsfeldes haben bereits sehr viele talentierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gearbeitet, während sich mit den Randbereichen noch nicht so viele Forschende beschäftigt haben. 

Die Forschenden wurden in der einen oder anderen Disziplin ausgebildet, aber typischerweise nicht in dem Zwischenbereich, wo Wissen aus beiden Bereichen benötigt wird. Daher gibt es insbesondere an den Schnittstellen zwischen Disziplinen noch viele interessante Dinge zu entdecken.

Forschung & Lehre: Das klingt plausibel, aber wahrscheinlich heißt es nicht automatisch: mehr Interdisziplinarität, mehr Kreativität? 

Martin Lercher: Interdisziplinarität wird oft so verstanden, dass ein Experte aus dem Arbeitsfeld A und eine Expertin aus dem Arbeitsfeld B zusammenarbeiten.

Entscheidend für Kreativität an der Schnittstelle zwischen Disziplinen aber ist, dass die Forschenden miteinander kommunizieren können und sich verstehen. Wenn wir über Kreativität an der Schnittstelle zwischen Disziplinen nachdenken, braucht es Forschende, die genug von beiden Bereichen verstehen und die damit in der Lage sind, neue Verbindungen zu schaffen. Nur dann wird der kreative Prozess gefördert. Es reicht nicht, zwei Experten für isolierte Themen zusammenzubringen und auf innovative Ideen zu hoffen. 

Forschung & Lehre: Wieviel Spielraum besteht für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, einer Forschungsidee zu folgen, die nicht unmittelbar mit dem Ziel des Forschungsprojekts zusammenhängt beziehungsweise sich in eine andere Richtung bewegt? 

Martin Lercher: Das hängt sehr stark ab von der Arbeitskultur in der Forschungsgruppe. Gute Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern entstehen in der Regel dann, wenn diese sich für das Thema begeistern. Häufig handelt es sich um Themen, die sie selbst einbringen – natürlich innerhalb des Rahmens dessen, was im jeweiligen Labor möglich ist. Grundsätzlich kann es nicht darum gehen, alle möglichen wissenschaftlichen Ideen zu verfolgen. 

Die meisten Ideen, die wir Forschenden haben, sind nicht besonders gut, aber ab und an ist eine gute Idee dabei. Sehr wichtig ist hier der Austausch mit der Leitung der Arbeitsgruppe. Deren Aufgabe ist es, dabei zu helfen, vielversprechende oder möglicherweise bahnbrechende Ideen von weniger vielversprechenden zu unterscheiden. Hier hilft eine gewisse Erfahrung. Grundsätzlich ist es sehr wichtig, die kreativen Beiträge von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern mit einzubeziehen. 

"Grundsätzlich ist es sehr wichtig, die kreativen Beiträge von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern mit einzubeziehen."
Professor Martin Lercher 

Forschung & Lehre: Wie kann künstliche Intelligenz den kreativen wissenschaftlichen Prozess sinnvoll unterstützen? 

Martin Lercher: In meinen eigenen Versuchen zumindest konnte mir künstliche Intelligenz bislang noch keine bahnbrechenden Ideen liefern. Sie kann Forschende aber als Kommunikationspartnerin dabei unterstützen, in neue Richtungen zu denken, in die man sonst vielleicht nicht gedacht hätte. 

Ein großer Vorteil der künstlichen Intelligenz gegenüber der natürlichen Intelligenz ist ihre enorme Kapazität, Wissen aus ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern zu speichern. So kann sie auch sehr leicht Verbindungen herstellen zwischen unterschiedlichen Arbeitsgebieten. Ich vermute, dass weiterentwickelte künstliche Intelligenz auch vielversprechende wissenschaftliche Ideen generieren wird. Vielleicht wird sie das in nicht allzu ferner Zukunft besser können als wir als menschliche Forschende.

Werkzeuge für die wissenschafltiche Kreativität – 
"Night Science" 

1. Improvisationswissenschaft 

Ideen können sich am besten in 1-zu-1 Gesprächen entwickeln, in denen wir die positive “Yes, and…"-Haltung des Improvisationstheaters annehmen. 

2. Was ist die Frage? 

Neue Fragen zu entdecken ist eine Hauptaufgabe der Wissenschaft, nach ihnen müssen wir aktiv suchen. 

3. Die zwei Sprachen der Wissenschaft

Analogien, insbesondere Anthropomorphismen und der “Intentional Stance", ermöglichen es uns, zusätzliche intuitive Kapazitäten unseres Gehirns freizusetzen. 

4. Der Import/Export

Die Grenzen zwischen wissenschaftlichen (Teil-)Disziplinen sind willkürlich und historisch gewachsen – Neues entsteht oft durch die Übertragung und Verbindung von Konzepten. 

5. Der Dialog zwischen Daten und Hypothesen

Daten werden erhoben, um Hypothesen zu überprüfen, aber aus ihrer explorativen und unvoreingenommenen Analyse entstehen auch neue Hypothesen. 

6. Widersprüche und Beharrlichkeit 

Widersprüchliche Ergebnisse sind lästig, führen aber oft zu Entdeckungen – wenn man ihnen nachgeht. 

7. Wissenschaft als Meta-Rätsel 

Wenn wir ein Rätsel der Natur lösen wollen, können wir uns nie sicher sein, in welcher Art von Rätsel wir uns befinden – ein Perspektivenwechsel kann den entscheidenden Schritt ermöglichen. 

Auf der Website biomedcentral.com und im dazugehörigen "Podcast Night Science" geben Prof. Martin Lercher und Prof. Itai Yanai weitere Anregungen zum kreativen Denken.