Zwei Männer unterhalten sich, ein dritter hört mit etwas Abstand und verschränkten Armen zu
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Wettbewerb
Kooperation und Konkurrenz in den Wissenschaften

Wettbewerb ist eine treibende Kraft in der Wissenschaft. Gleichzeitig ist sie auf die Zusammenarbeit der Akteure angewiesen. Wie passt das zusammen?

Von Kärin Nickelsen 29.09.2022

Wenn man vor lauter Exzellenz nicht mehr zum Nachdenken kommt und vor lauter Konkurrenz nicht mehr zur Kooperation, dann machen wir etwas falsch", hielt DFG-Präsidentin Katja Becker bei ihrem Amtsantritt 2020 fest und attestierte dem deutschen Wissenschaftssystem "Überhitzung und Überlastung". Damit setzt sich Becker ab von einem langwährenden Konsens: Seit den 1980er Jahren gilt Konkurrenz als treibende Kraft in Wissenschaft und Forschung. Erfolg in der Einwerbung von Drittmitteln wurde zum Leistungsausweis, und für Universitäten verschärfte sich der Wettbewerb um Reputation, Geld und Köpfe. Die Exzellenzstrategie des BMBF markiert einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung, deren ambivalente Folgen sich allmählich abzeichnen.  

Allerdings sind Universitäten kollektive Akteure, die nur dann konkurrenzfähig sind, wenn ihre Mitglieder kooperieren. Grundsätzlich ist Wissenschaft auf Zusammenarbeit angewiesen: Komplexe Probleme lassen sich nur arbeitsteilig lösen, im Verbund oder im informellen Austausch von Daten und Hypothesen. Dies gilt auch dann, wenn die Beteiligten auf anderen Ebenen konkurrieren. Kooperation und Konkurrenz schließen sich in Wissenschaft und Forschung nicht aus, sondern zeigen sich verschränkt und aufeinander bezogen. In unserer DFG-Forschungsgruppe* an der LMU München untersuchen wir diese Wechselwirkung an Beispielen aus dem späten 20. Jahrhundert.

"Akteure in Wissenschaft und Forschung zeigen sich sehr findig darin, verschärfte Konkurrenz­lagen und Kooperationszwänge zu umgehen."

Der Befund verflochtener Handlungsmodi ist nicht neu. Bereits 1942 sprach Robert K. Merton von "competitive cooperation" in der Wissenschaft und bezeichnete die Akteure als "compeers" (competitive peers). Merton sah die Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz über ein System von Normen stabilisiert, deren Einhaltung durch soziale Kontrolle gesichert wird. Wissen sollte als kollektives Eigentum gelten, um Kooperation zu befördern, forderte Merton; Konkurrenz verstand er als sportlichen Wettstreit um intellektuelle Priorität. Mertons Fokus allein auf die Interaktion der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurde bald kritisiert. Weitet man die Perspektive, werden zusätzliche Faktoren sichtbar. So ist die Herstellung bestimmter Verhältnisse von Konkurrenz und Kooperation ein wesentliches Ziel der Wissenschaftspolitik, die ihrerseits auf Entwicklungen anderen Ortes reagiert. Doch lässt sich die Dynamik nicht vollständig steuern, so zeigen unsere Beispiele; denn Akteure in Wissenschaft und Forschung zeigen sich sehr findig darin, verschärfte Konkurrenzlagen wie auch Kooperationszwänge zu umgehen.  

Europäische Wissenschafts­politik

Betrachten wir etwa die europäische Wissenschaftspolitik. In den 1970/80er Jahren sah Westeuropa sich im Rückstand gegenüber Japan und Nordamerika. Die Lösung suchte man in Zusammenarbeit und erfand einen innereuropäischen Wettbewerb, in dem sich Teams um Fördermittel bewerben konnten. Die Hoffnung war, damit zu innovativer Forschungskooperation anzuregen. Der Erfolg war anfangs mäßig, vor allem in der Bundesrepublik. Die mächtige Allianz der Wissenschaftsorganisationen befürchtete ein Verlustgeschäft und entschied sich dafür, den neuen Wettbewerb kollektiv zu verweigern. Damit wollte man eine Verlagerung von Mitteln auf die europäische Ebene verhindern und sich weiterhin den exklusiven Zugriff auf deutsche Fördermittel sichern. Der steile Aufwuchs europäischer Gelder in den 1990er Jahren änderte die Situation: Nun gab es in der EU mehr zu gewinnen als im nationalen Rahmen zu verlieren, und die Mitglieder der Allianz reagierten. Die MPG etwa erklärte sich flugs zu einer unverzichtbaren Säule des europäischen Forschungsraums und kündigte an, diesen künftig aktiv mitzugestalten (und somit den Wettbewerb zu eigenen Gunsten zu verschieben).

Das Beispiel zeigt erstens, wie Konkurrenz auf einer Ebene die Kooperationsbereitschaft wissenschaftlicher Akteure auf einer anderen erhöht. Unter verschärftem Druck konnten sich die Wissenschaftsorganisationen trotz struktureller Konkurrenz auf einen Konsens einigen. Zweitens wird deutlich, dass sich weder Kooperation noch Konkurrenz ohne Weiteres von oben verordnen lässt. Wissenschaftliche Akteure müssen nicht in politisch gewollten Wettbewerb eintreten, sondern können diesen zum eigenen Vorteil ignorieren. Man sieht aber drittens, dass der Konsens darüber brüchig wurde, als Prämien und Gewinnchancen stiegen.

Kooperation und Konkurrenz beim Apollo-Soyuz-Testprojekt

Nicht nur der Markt, auch die Systemkonkurrenz des Kalten Krieges prägte die Wissenschaft im späten 20. Jahrhundert. Neben Förderung der eigenen Forschung und Abgrenzung von den anderen entwickelten sich auch blockübergreifende Formate: Man wollte einerseits durch Kooperation in der Wissenschaft die politische Entspannung vorantreiben, andererseits Wissen der Gegenseite abschöpfen. Diese Initiativen waren keine Abkehr von der Konkurrenz um die Gunst der globalen Öffentlichkeit. Das sieht man etwa am Apollo-Soyuz-Testprojekt von 1975, eine amerikanisch-sowjetische Verschränkung von Kooperation und Konkurrenz in der Raumfahrtforschung. Im Zeitgeist der Tauwetter-Periode versuchten USA und Sowjetunion im Systemwettbewerb nun durch Kooperation zu punkten. Beide Parteien waren aber auch aus anderen Gründen daran interessiert, im Space Race zu pausieren: Den USA ging das Geld aus, und die Sowjetunion suchte den eigenen technologischen Rückstand zu kaschieren. Selbst in dieser ideologisch aufgeladenen Konkurrenzlage bot Kartellbildung eine attraktive Option, zumal wenn sie positive Schlagzeilen erzeugte.

Zusammenarbeit beim Human Genome Project

Was aber passiert, wenn wissenschaftliche Akteure nicht nur um Erkenntnis und Reputation konkurrieren, sondern auch um monetären Profit? Nehmen wir das Human Genome Project (HGP; 1990-2003), ein Netzwerk zur Kartierung und Sequenzierung des menschlichen Genoms. Es gilt als paradigmatisches Beispiel für schädlichen Wettbewerb und als Wendepunkt in den Biowissenschaften, vom freien Austausch zu einer Privatisierung des Wissens. Am Anfang stand jedoch die Entscheidung zur Kooperation. Die DNA-Sequenz zu ermitteln, war eine so gigantische Aufgabe, das Geld so knapp und die Methoden so langsam, dass die relevanten Arbeitsgruppen sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigten, obwohl sie eigentlich auf diesem Feld konkurrierten. Zudem verständigten  sie sich auf ein Regelwerk. So mussten alle Mitglieder ihre Primärdaten in eine gemeinsame Datenbank einpflegen, und zwar alle 24 Stunden. Diese Regeln lösten ein soziales Dilemma: Sie minimierten zwar kurzfristig den individuellen Vorteil, verhinderten aber mittelfristig eine Situation, in der alle verlieren würden: wenn nämlich Daten breitflächig monopolisiert und der weiteren Forschung und Entwicklung entzogen würden. Auch andere Beispiele zeigen, dass wissenschaftliche Kooperationen, die fragil sind und durch Einzelinteressen gefährdet, durch Regelung auf praktischer Ebene stabilisiert werden können, zum Beispiel durch gemeinsame Infrastruktur oder Routinen im Handlungsablauf.

"Das Human Genome Project gilt als paradigmatisches Beispiel für schädlichen Wettbewerb."

Bekannt ist das HGP aber vor allem für den Regelverstoß von Craig Venter, der in der Endphase den Verbund verließ und mit einem Konkurrenzprojekt die DNA-Sequenz zu kommerzialisieren drohte. Das erbitterte Wettrennen wurde durch den Eingriff von Bill Clinton und Tony Blair abgebrochen und endete im Patt. Im Nachhinein zeigte sich, dass Venter vor allem deswegen so schnell war, weil er in hohem Maße die Datenbank des HGP als Trittbrettfahrer nutzte. Die erfolgreichsten Sequenzierer waren vielmehr zwei Arbeitsgruppen, die nachdrücklich für Gemeinfreiheit aller Primärdaten eintraten und sich in enger Kooperation arbeitsteilig zusammengeschlossen hatten. Allerdings blieben sie damit eine Ausnahme. Die meisten anderen Mitglieder des HGP vermieden sowohl Konkurrenz als auch Kooperation, sondern versuchten, ihre Ziele so zu koordinieren, dass sie sich nicht in die Quere kamen.

Wettbewerbsstrategien

Dieses Vorgehen ist unserer Beobachtung nach eher die Regel als die Ausnahme. Konkurrenz ist ein wesentliches Element in Wissenschaft und Forschung; sie kann den Fortgang von Projekten beschleunigen und zum Erfolg anspornen. Kooperation ist sogar noch wichtiger; sie ist essentiell für Erkenntnisgewinn und wissenschaftlichen Fortschritt. Unsere Befunde deuten aber darauf hin, dass weder verschärfter Konkurrenzdruck, noch Kooperationszwang diese Prozesse unterstützen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass wissenschaftliche Akteure solchem Druck tendenziell ausweichen. Einige Strategien haben wir in den Beispielen gesehen. So kann man Konkurrenz vermeiden, indem man sich für Teambildung und Kooperation entscheidet. Das erfordert jedoch eine Einigung auf gemeinsame Normen, Ziele und Methoden, die nicht leicht herzustellen ist, und schon gar nicht zu erzwingen. Einfacher zu erreichen – und häufiger anzutreffen – ist die Auflösung von Konkurrenz durch wechselseitige Koordination der Forschung: Indem man eigene Ziele so definiert, dass sie sich nicht mehr mit den Zielen anderer Parteien überschneiden. Im Zweifelsfall können dann alle gewinnen. Eine dritte Strategie schließlich, die man gerne vergisst, ist die Einigung auf kollektive Wettbewerbsverweigerung. Unter bestimmten Umständen kann dies nicht nur Ressourcen schonen, sondern auch die eigene Position stärken.

Auf systematischer wie praktischer Ebene sind diese Einsichten relevant. Unter anderem erinnern sie uns an die eigene Wirkmächtigkeit im System. Kooperations- und Konkurrenzverhältnisse in Wissenschaft und Forschung sind einer Gestaltung zugänglich; und wir sollten uns der Konsequenz unserer Entscheidungen in diesem Prozess bewusst werden.

* Mitglieder der DFG-Forschungsgruppe:

Sprecherin: Kärin Nickelsen; weitere PI in alphabetischer Reihenfolge: Christina Brandt, Christoffer Leber, Kiran Patel, Martin Schulze Wessel, Elke Seefried, Margit Szöllösi-Janze, Helmuth Trischler, Darina Volf, Andreas Wirsching.