Drei Spielfiguren in ärztlicher Kleidung stehen vor einem unscharfen Globus
picture alliance / Zoonar | Sirichai Puangsuwan

Lehre
Warum "Global Health" ins Medizinstudium gehört

Gesundheit in Deutschland wird zunehmend von globalen Aspekten beeinflusst. Warum ist davon im Medizinstudium bisher noch keine Rede? Ein Gespräch.

Von Vera Müller 04.09.2023

Forschung & Lehre: Warum braucht es Global Health im Medizinstudium?

Matthias Havemann: Ärztinnen und Ärzte wenden nicht nur medizinisches Wissen an, sie stehen immer in der Interaktion mit Patientinnen und Patienten – auch an den entscheidenden Schnittstellen unserer Gesellschaft. Wenn wir Gesundheit und Krankheit verstehen wollen, dann braucht es ein Verständnis für den gesellschaftlichen Kontext. Da unsere Gesellschaft zunehmend von globalen Aspekten beeinflusst wird, gehört dazu auch ein Grundverständnis für den Einfluss von Globalisierung auf Gesundheit. Insbesondere die sozio-ökonomischen Aspekte als ein Teil der Determinanten von Gesundheit – im Zusammenhang mit der Globalisierung dann vor allem die supraterritorialen Determinanten von Gesundheit – spielen hier eine Rolle. Davon brauchen wir im Medizinstudium immer mehr. 

Porträtfoto von Dr. med. Matthias Havemann
Dr. med. Matthias Havemann ist Arzt am UKGM Marburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Ethik in der Medizin an der Universität Marburg. privat

F&L: Was ist mit sozio-ökonomischen Aspekten genau gemeint?

Matthias Havemann: Die Verbindungen zwischen Menschen über typische territoriale Grenzen hinaus haben deutlich zugenommen. Meine Gesundheit in Marburg hat erheblich mehr mit der Gesundheit zum Beispiel von Menschen in Aserbaidschan zu tun, als mir vielleicht bewusst ist. Diese Einflüsse haben über die letzten 100 Jahre deutlich zugenommen, verstärkt gilt das für die letzten 20 bis 30 Jahre. Über diese Zusammenhänge nachzudenken ist der Kernaspekt von globaler Gesundheit. Konkret für Medizinstudierende geht es dabei um Themen wie die Versorgung von Migrantinnen und Migranten, Intellectual Property Rights für neue Therapeutika, Lieferengpässe durch Produktionsverlagerungen und Einschränkungen in globalen Logistikketten, erhöhter Reiseverkehr oder Zunahme von klimabedingten Infektionserkrankungen, aber auch die Migration von Gesundheitsfachkräften, sei es der Brain Drain von Deutschland zum Beispiel nach Skandinavien oder von Fachkräften anderer Länder nach Deutschland. Über diese zentralen Aspekte sollten Medizinstudierende und zukünftige Ärztinnen und Ärzte Bescheid wissen. 

F&L: Wie lassen sich diese Themen sinnvoll in das Medizinstudium integrieren?

Matthias Havemann: Es braucht kein eigenes Fach, sinnvoll wäre aber, als Fakultät darauf zu achten, dass sich dieses Thema quasi wie ein Querschnittsthema durch das Curriculum zieht. Bestimmte Aspekte sollte jeder Medizinstudierende in Deutschland lernen, weil sie essenziell für die spätere ärztliche Tätigkeit sind. Dazu gehören für mich supraterritoriale Determinanten wie Chancengerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung (Health Equity), aber auch Interkulturalität. Manche werden in Form von Wahlfächern, Schwerpunktcurricula oder Summer Schools umgesetzt. Eine weitere Gruppe von Studierenden hat vielleicht ein gewisses Interesse an dem Thema und möchte gerne im Ausland arbeiten. Hier geht es darum, deren Horizont zu erweitern und weitere Perspektiven hineinzunehmen. Schließlich strebt ein kleiner Teil der Studierenden gezielt eine Karriere in Forschung und Praxis im internationalen Setting an. Deren Bedürfnisse kann und muss das Medizinstudium wahrscheinlich gar nicht abdecken, auch wenn die Möglichkeiten, sich entsprechend weiterzuentwickeln, für diese Gruppe bislang im deutschen Kontext extrem begrenzt sind.

F&L: Inhaltlich klingt das sehr komplex und weit gespannt. Besteht nicht die Gefahr, das Medizinstudium zu überfrachten?

Matthias Havemann: Die Gefahr besteht. Konkrete Herausforderungen im Patientenkontakt, in der Pathophysiologie oder auch die Bewältigung der anstehenden Reformen erscheinen da viel drängender als zunächst einmal abstrakt wirkende Global-Health-Themen. Meines Erachtens braucht es im Medizinstudium eine Refokussierung auf das, was der ärztlichen Tätigkeit später wirklich dient. Dazu gehört Global Health, da es eine Grundperspektive in das Studium einbringt, die langfristig der medizinischen Ausbildung insgesamt dient. Eine Studie aus Kanada zeigt, dass Studierende, die sich mit Global Health beschäftigen, mit höherer Wahrscheinlichkeit später allgemeinmedizinisch tätig werden. Das Verständnis für supraterritoriale Determinanten ist ihnen deutlich bewusster, gleichzeitig motiviert es sie, sich auch mit dem Individuum auseinanderzusetzen. Schließlich dient gut unterrichtete globale Gesundheit dazu, unbewusste Biases (normative und kulturelle Grundannahmen) aufzudecken. Ein besseres Verständnis für die globalen Zusammenhänge und auch für die eigene Rolle in der globalen Welt ist definitiv Teil von Global Health.

F&L: Wie wichtig ist die ethische Dimension beim Thema Global Health? 

Matthias Havemann: Die Frage ist, wo lernt ein Medizinstudierender ethisches Verhalten? Natürlich gibt es Fächer wie Ethik im Curriculum. M.E. reicht das aber nicht aus, um wirklich ethisch handelnde Ärzte und Ärztinnen auszubilden. Gerade für Dilemmata im medizinischen Alltag, die Ärztinnen und Ärzte vielleicht nicht einmal bewusst wahrnehmen, ist ein Blick nach außen extrem aufschlussreich. Ob es um den Einfluss von Patentstreitigkeiten in Nigeria oder die Verfügbarkeit von HIV-Medikamenten vor Ort geht: Ich denke darüber nach, wie sieht das eigentlich hier aus? Der Blick nach außen hilft, den Blick nach innen zu schärfen.

F&L: Welche Defizite sehen Sie aktuell noch im Medizinstudium?

Matthias Havemann: Der Großteil der Medizinstudierenden sowie der angehenden Ärztinnen und Ärzte unterschätzt, wie stark die soziale Dimension im Klinikalltag sein wird und an wie vielen Stellen Ärztinnen und Ärzte nicht primär mit einem medizinischen, sondern mit einem sozialen Problem konfrontiert sind. Darauf sind wir extrem schlecht vorbereitet. 

"Der Großteil der Medizinstudierenden kommt aus einem relativ privilegierten Familienhintergrund. Die Konfrontation mit sozial prekären Situationen findet nicht im Alltag der Studierenden, sondern zum ersten Mal in der Klinik statt, wenn sie einem entsprechenden Patienten gegenübersitzen."

F&L: Wie zeigt sich das im Klinikalltag und wie kann Global Health dem entgegenwirken?

Matthias Havemann: Es birgt ein ziemlich hohes Konfliktpotenzial im Umgang mit Patienten und Angehörigen und führt zu Therapien, bei denen Ärztinnen und Ärzte über die mangelnde Therapieadhärenz frustriert sind und Patientinnen und Patienten über das vermeintlich falsche Therapie-Ziel. Es führt zu zahlreichen Konflikten innerhalb der Klinik, weil ein Bewusstsein für die zugrundeliegenden Einflüsse von Gesundheitsentscheidungen nicht vorhanden ist und die eigene Perspektive als die normative angenommen wird. Der Großteil der Medizinstudierenden kommt aus einem relativ privilegierten Familienhintergrund. Die Konfrontation mit sozial prekären Situationen findet nicht im Alltag der Studierenden, sondern zum ersten Mal in der Klinik statt, wenn sie einem entsprechenden Patienten gegenübersitzen. Global Health im Medizinstudium kann darauf vorbereiten, dass es verschiedene Perspektiven gibt und soziale sowie ökonomische Faktoren in einem fast immer unterschätzten Ausmaß Gesundheitsentscheidungen, Präventionsmöglichkeiten und den Zugang zur Gesundheitsversorgung prägen. 

Die Fragen stellte Vera Müller.

In Forschung & Lehre 9/23 widmet sich die Redaktion im Schwerpunkt dem Thema "Global Health". Dabei geht es um gesundheitliche Chancengleichheit weltweit. Mit den Herausforderungen und Zielen von "Global Health" befassen sich in der Printausgabe

  • Professor Dr. Eva Refuess
  • Professor Dr. Jonas Schreyögg
  • Professor Dr. Johanna Hanefeld
  • Dr. Sophie Müller
  • Professor Dr. Walter Karlen
  • Dr. Matthias Havemann

 

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