Ein kleiner gelber Roboter beugt sich über einen Laptop
picture alliance / PHOTOPQR/JOURNAL DU CENTRE/MAXPP | Pierre DESTRADE

Digitalisierung
Künstliche Intelligenz und die Abschlussarbeit

ChatGPT hat längst Einzug gehalten ins Leben der Studierenden. Dadurch wird sich die Kompetenzüberprüfung ändern müssen.

Von André Marchand 08.08.2023

Die breite Verfügbarkeit textgenerierender künstlicher Intelligenz (KI), sogenannte "Large Language Models" (LLM) wie ChatGPT, ChatPDF, Elicit, Google Bard, Open Assistant, ResearchBuddy oder ResearchRabbit, verändert die Bedingungen der Hochschullehre und -prüfungen. Der Einsatz von LLM als Hilfsmittel bei schriftlichen Abschlussarbeiten (Seminar-, Bachelor- und Masterarbeiten) wird in absehbarer Zeit weit verbreitet sein, insbesondere wenn entsprechende Funktionalitäten, etwa in Office-Programme, integriert werden. Manche Abschlussarbeiten könnten teilweise oder sogar vollständig durch solche Tools verfasst werden. 

Mündliche Verteidigungen nach Abgabe einer Abschlussarbeit werden derzeit als eine mögliche Antwort auf die Verwendung von KI diskutiert. Diese haben insbesondere bei Studiengängen und -orten mit relativ wenigen Studierenden pro Lehrenden eine lange Tradition. Doch können sie einen möglichen Einsatz von KI belegen – und das bei Massenstudiengängen mit vielen Studierenden pro Lehrenden? Und sollte das überhaupt das Ziel sein? 

Vertrauen und Kontrolle bei Abschlussarbeiten

Schon bisher gab es keine Sicherheit darüber, welche Hilfen Studierende bei der Erstellung ihrer Abschlussarbeiten in Anspruch genommen haben: "friendly reviews" von anderen Studierenden, Ratschläge von Eltern oder Mentorinnen und Mentoren oder auch bezahlte Dienstleistungen von Lektorat über Schreibcoaching bis hin zu Ghostwriting. Prüflinge versichern eine eigenständige Leistung und die Hochschule vertraut darauf, dass dies der Wahrheit entspricht. Dieser Grundsatz sollte auch weiterhin gelten und nicht in einen Generalverdacht übergehen, nur weil Studierenden ein weiteres Hilfsmittel zur Verfügung steht. 

Hinzu kommt, dass LLM grundsätzlich auch Präsentationen erstellen können. Dadurch können sich Studierende schnell in ein Thema einarbeiten und im Zweifel auch kritische Diskussionsfragen beantworten. Eine überzeugende Verteidigung weist damit nicht nach, dass die Abschlussarbeit tatsächlich von den Studierenden selbst erdacht und verfasst worden ist.

Um zu erkennen, inwiefern Studierende sich ein fundiertes Wissen angeeignet haben und flexibel nutzen können, müssten Fragen gestellt werden, die für die Studierenden weitgehend unerwartet sind. Dafür müssten sich die Fragen nicht nur auf eine spezifische Arbeit beziehen, sondern auf das Studienfach insgesamt. Eine solche Auslegung einer "Verteidigung" als mündliche Prüfung zum gesamten Studienbereich, in dem die Abschlussarbeit geschrieben wurde, ginge in den Anforderungen jedoch deutlich über das hinaus, was eine Abschlussarbeit bisher typischerweise erfordert. 

KI fordert neue Lehrformate

Mündliche Verteidigungen würden für Lehrende und Studierende zusätzliche Ressourcen binden, die an anderer Stelle eingespart werden müssten. Lehrende müssten Zeit, die sie bisher einsetzen konnten, um den Kompetenzerwerb der Studierenden zu fördern, stattdessen nutzen, um zu kontrollieren, ob dieser (dadurch schlechter unterstützte) Kompetenzerwerb stattgefunden hat. Auch Studierende müssten kostbare Zeit, die sie bisher in die Erstellung ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeiten investieren konnten, zum Teil in die Vorbereitung auf die mündliche Verteidigung verlagern. Dadurch bliebe im Schnitt weniger Zeit, um die schriftliche Abschlussarbeit zu erstellen. Je umfangreicher die zu erwartende Befragung im Rahmen der Verteidigung wäre, desto mehr fiele diese Ressourcenverschiebung ins Gewicht. Je geringer aber die Varianz der Fragen wäre, desto geringer wäre die intendierte Wirkung, Eigenständigkeit abzusichern.

Diese Zeit sollte besser in die Lehre statt in Prüfungen fließen oder anders formuliert in die Qualitätssicherung vor statt nach der Abgabe einer Arbeit. Auch wenn der Einsatz von LLM derzeit datenschutzrechtlich kritisch überprüft wird, ist davon auszugehen, dass diese – gegebenenfalls unter Auflagen – im Hochschulalltag selbstverständlich werden. Daher sollten Lehrkräfte sowie Studierende lernen, sie aktiv einzusetzen. Eine wichtige, von Studierenden zu erwerbende Schlüsselkompetenz im Schreibprozess wird es sein, nach einer ersten Auseinandersetzung mit dem Thema die richtigen Fragen an die LLM zu stellen sowie Texte inhaltlich und formal kritisch zu beurteilen und entsprechend zu verbessern.

"Wissen schaffen", nicht "Wissen reproduzieren"

Lernen mit KI: Ansätze zur Kompetenzüberprüfung

Die neuen KI-Tools stellen die universitäre Lehre vor große Herausforderungen. Sie könnten die Qualität von Abschlussarbeiten aber gleichzeitig auch signifikant steigern. Mögliche Ansätze, die in meinem Fachbereich angewandt werden und die ich für hilfreich erachte, sind:

  • Themen stellen, die nicht gelöst werden können, ohne selbst nachzudenken und wissenschaftlich zu arbeiten: Das könnten zum Beispiel eigene empirische Studien oder eigene Ausarbeitungen zu wenig bekanntem Fallmaterial sein ("Wissen schaffen", nicht "Wissen reproduzieren")
  • Intensive Betreuung, die Diskussionen oder Zwischenpräsentationen der Ergebnisse der eigenen Arbeit vorsieht
  • Transparenz über die Erwartungen zum Einsatz von KI und kritisches Hinterfragen der Ergebnisse, gegebenenfalls Protokollieren und Dokumentieren verwendeter "Prompts" (Aufforderungen) an die KI sowie deren Textausgaben oder Einreichen einer Versionshistorie der Abschlussarbeit.
  • Einsatz von erweiterter Plagiatssoftware und auf LLM spezialisierter Tools (z.B. GPTZero und NoGPT), die Täuschungswahrscheinlichkeiten (jedoch keine Beweise) kalkulieren

Viele Dozierende – mich eingeschlossen – begleitet jedoch das Gefühl, dass es noch weitere Ansätze braucht. Empirische Studien, die zeigen, wo genau KI welche Ergebnisse liefert und wo welche täuschungsprophylaktischen Methoden wie wirken, könnten hilfreiche Ansatzpunkte liefern. Ich bin gespannt auf den weiteren Austausch und die daraus resultierenden Erkenntnisse.