Drei Spielkarten: Ein Joker mit Narrenkappe und zwei Asse
mauritius images / Hans-Peter Merten

Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Der gelehrte Narr

Am absolutistischen Hof hatten Narren noch die Lizenz zur Wahrheit. Heute sind Querdenker Sand im geschmeidigen Getriebe angeblicher Exzellenz.

Von Alexander Košenina 13.07.2019

Walter Benjamins Appell, sich dem stürmischen Strom der Zeit mit Blick in die Vergangenheit entgegenzustellen, um vermeintliche Fortschritte als künftige Katastrophen zu durchschauen, ist im Bildungsbereich aktueller denn je. Benjamin entwickelte seine berühmte These über den Historiker als rückwärts gekehrten Propheten anhand von Paul Klees "Angelus Novus". Gershom Scholem, dem er das Blatt später schenkte, hätte kaum widersprochen. Denn auch er verstand Gegenwart aus der Geschichte. In Scholems Handbibliothek in Jerusalem fand ich vor langer Zeit ein Buch mit dem Titel "Der gelehrte Narr" aus dem Jahre 1729. Das schöne Frontispiz zeigt einen eitlen "Ignoranten" und "Pedanten" mit Allongeperücke, vor dem spiegelbildliche Äffchen Missbrauch mit Büchern treiben.

Auch wir blicken auf dieses Bild wie in einen Beichtspiegel. Es stammt aus einer Zeit, als Narren am absolutistischen Hofe noch die Lizenz zur Wahrheit hatten. Die nachahmenden Äffchen auf dem Kupfer – Travestien von Kopfmenschen seit der Antike – repräsentieren dieses Umkehrprinzip noch stärker als der Professor auf seinem Lehrstuhl. Der wieder­holt bestenfalls traditionelles Schulwissen, statt jenen neuen Mut der Aufklärung aufzubringen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wenig später treten Genies und Freidenker auf den Plan, und Schiller wird den philosophischen Kopf gegen den Brotgelehrten ausspielen.

"Individualforschung ist bei der DFG längst ins Abseits geraten."

Inzwischen droht das Ende dieser Selbstbefreiung. "Intellektueller" scheint sich als neues Schimpfwort zu etablieren, Querdenker und Fraktionslose gelten als Sand im geschmeidigen Getriebe angeblicher Exzellenz. Individualforschung ist bei der DFG längst gegenüber großen Netzwerkanträgen, Graduiertenschulen und Sonderforschungsbereichen ins Abseits geraten. Kritik möchten Präsidien keinesfalls hören, die "Ausbildung im Schatten der Wissenschaft" an die Stelle von "Bildung durch Wissenschaft" (Jürgen Mittelstraß) rücken und im Falle minderer Drittmittelaussichten rabiat in Berufungsverfahren eingreifen. Und Seminare im ursprünglichen Sinne von Pflanzschulen zur behutsamen Kultivierung von Fruchtbarem und Neuem sind vorgefertigten Modulen in standardisierten Lernfabriken gewichen, in denen man lieber reproduzierbares und maschinenlesbares Wissen abfragt als geistige Kombinatorik und Kreativität zu fördern.

Wie konnte es zu einer solchen Vertreibung des gelehrten Narren von den akademischen Bühnen Europas als ein essenzielles Korrektiv kommen? Vor allem scheinen die Bologna-Reform und der besonders in Großbritannien grassierende Evaluierungswahn – vom external examining der kleinsten Seminararbeit bis zur nationalen Bewertung aller Leistungen im Research Excellence Framework – dafür verantwortlich. Eine Furcht, dass so jeder Mut zur Eigenständigkeit, Abweichung, geistigen Experimentierfreude oder schlicht zur Kritik gedämpft werden könnte, kommt aber nicht auf. Um solche Triebkräfte jeder Innovation scheint man kaum besorgt zu sein.

Kant, der die Kritik zur Zentralkategorie seiner drei Haupt­werke erhebt, erklärt in der Aufklärungsschrift von 1784, es sei ja "so bequem, unmündig zu sein", denn man brauche sich dann "nicht selbst zu bemühen". Wenn wir uns dem DFG-gängigen Antragsjargon beugen, jeden neuen Turn mitmachen und von den Cheerleadern in den Präsidien zur Marktläufigkeit, Preiswürdigkeit und internationalen Sichtbarkeit anfeuern lassen, werden wir am Ende genauso bequem wie jene Doktoranden, die in Graduiertenschulen dem Sinn und Sound ihrer Meister aufs Haar entsprechen.

Vielleicht lohnt es sich, den Blick in die Vergangenheit gelehrter Narren zu nutzen, um unsere Gegenwart aus einer angenommenen zukünftigen Perspektive (der des "Angelus Novus") mit Zweifeln zu betrachten. Ist das, "was wir den Fortschritt nennen" (Benjamin), wirklich Fortschritt? Wer glaubt noch an die Verheißungen von 'Controllern', dass nur durch mehr Effizienz, Drittmittel, Forschungsverbünde, Akkreditierungen, schlanke Curricula, forciertes Studientempo so etwas wie geistige Exzellenz in Forschung und Lehre entstehen kann?