Friedensmahnmal am Gebäude der Vereinten Nationen in New York
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Interview mit Politologin Elvira Rosert
"Die Friedensidee ist immer wieder im Gespräch"

Frieden braucht die Sicherheit handlungsstarker internationaler Organisationen. Der Aufbau von Institutionen für den Frieden ist von entscheidender Bedeutung.

Von Friederike Invernizzi 05.01.2024

Forschung & Lehre: Das erneute Aufflammen des Nahostkonflikts hat uns wieder schmerzlich bewusst werden lassen, wie schwierig es ist, eine friedliche Lösung von Konflikten zu entwickeln. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um einer Friedenssicherung von Staaten und Völkern näher zu kommen?

Elvira Rosert: Friedenssicherung braucht zwei Dinge: Erstens die dauerhafte Suche nach Konfliktlösungen, die auch dann möglichst schnell wieder aufgenommen werden muss, wenn ein Versuch zum wiederholten Male gescheitert ist. Zweitens ist eine militärische Robustheit beziehungsweise Resilienz erforderlich, die Aggressionen idealerweise im Vorfeld abschreckt, weil die Angreifer sich keine Aussichten auf Erfolg ausrechnen, und die es Staaten möglich macht, sich und ihre Zivilbevölkerung gegen Aggressionen zu verteidigen, falls Friedensbemühungen und Abschreckung scheitern.

Bevor Russland die Ukraine in einer Großinvasion angegriffen hat, hätte ich vor allem auf die Bedeutung von Kooperation, insbesondere institutionalisierter Kooperation, in verschiedenen Bereichen verwiesen. Das hieße beispielsweise, wirtschaftliche Beziehungen zu intensivieren, aber auch zivilgesellschaftlichen, etwa wissenschaftlichen und kulturellen, Austausch zu fördern, um die Demokratisierung zu unterstützen, die Bindung zwischen den Bevölkerungen zu erhöhen und die Herausbildung einer gemeinsamen Wertebasis zu befördern.

Und natürlich soll die klassische Zusammenarbeit zwischen den Regierungen in multilateralen Foren Konflikte friedlich lösen und deren gewaltsamen Austrag verhindern. Beispielhaft seien die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Vereinten Nationen oder informellere Zusammenschlüsse wie die G7 oder die G20 genannt sowie kleinere, sogenannte Kontaktgruppen, die bei Konflikten häufig als Vermittler fungieren.

Porträt einer Frau mit kinnlangen blonden Haaren und einer Brille
Elvira Rosert ist Gastprofessorin für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin und Juniorprofessorin für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Beziehungen, an der WiSo-Fakultät und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Elvira Rosert

F&L: War der Angriffskrieg auf die Ukraine der Anlass, nicht mehr nur auf institutionalisierte Kooperation zu setzen?

Elvira Rosert: Ja, denn vielfältige Kooperationen haben im Falle Russlands nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Wir sehen daran vor allem eines: Selbst wenn diese Strategien in der Regel gut funktionieren, gibt es weiterhin Partner, bei denen sie an ihre Grenzen geraten, weil Institutionen allein diese Partner von ihren aggressiven Plänen nicht abhalten können. Deswegen müssen die kooperationsorientierten Strategien, wenn sie gegenüber solchen Partnern weiterhin verfolgt werden, durch Maßnahmen begleitet werden, die auch im Falle ihres Scheiterns für Sicherheit sorgen.

Und das wäre im Fall der Ukraine, so schwer mir als Friedensforscherin das Eingeständnis fällt, vor allem eine militärische Strategie gewesen, die die Ukraine für eine effektivere Verteidigung besser aufgestellt hätte und im Idealfall sogar so abschreckend auf Russland gewirkt hätte, dass es den Angriff unterlassen hätte. Denn dass Russland unter Präsident Putin die Demokratisierung und die Westorientierung der Ukraine aktiv zu verhindern sucht, war auch schon lange vor der Krim-Annexion bekannt. Besser, man hätte sich darauf eingestellt, statt darüber hinwegzusehen und das Beste zu hoffen.

F&L: Sie betonen, dass beides wichtig ist, Konfliktlösung durch übergeordnete Institutionen und militärischer Schutz…

Elvira Rosert: In Israel sehen wir das katastrophale Ergebnis, wenn beides unterbleibt, sprich, sowohl die institutionalisierte Konfliktlösung als auch die militärische Herstellung der Sicherheit. Nachdem international koordinierte Anläufe, den Nahostkonflikt dauerhaft durch die Errichtung eines palästinensischen Staates zu lösen, immer wieder gescheitert sind, haben sich die internationale Gemeinschaft und Israel mit der ungelösten Situation arrangiert. Konkrete Maßnahmen, die beide beziehungsweise alle drei Seiten (die PLO und die Hamas sind ja zwei Akteure) zu ernsthaften Friedensverhandlungen motiviert hätten, fehlen seit zwei Jahrzehnten.

"In Israel sehen wir das katastrophale Ergebnis, wenn beides unterbleibt, sprich, sowohl die institutionalisierte Konfliktlösung als auch die militärische Herstellung der Sicherheit."
Elvira Rosert

Israel hat sich offenbar in der Illusion gewähnt, die Situation im Gaza-Streifen soweit im Blick und unter Kontrolle zu haben, dass es diese sehenden Auges fortbestehen ließ und sogar noch den militärischen Schutz seiner Bevölkerung im Grenzgebiet zu Gaza zurückbaute. Stattdessen konzentrierte die israelische Regierung die Militärpräsenz auf das Westjordanland, wo auf diese Weise der Siedlungsbau abgesichert wurde. Um das zu verhindern, was seit dem 7. Oktober Realität ist, hätte es jedoch mindestens einer und realistischerweise beider Komponenten bedurft: Der unermüdlichen Arbeit an einer Konfliktlösung, die von den Palästinensern und den Israelis akzeptiert wird, zumindest aber eines militärischen Schutzschildes, das den Angriff der Hamas abgewehrt und vielleicht sogar im Vorfeld abgeschreckt hätte.

Israel-Palästina-Konflikt: Anschlag vom 7. Oktober

Vor drei Monaten wurde Israel von der islamistischen Terror-Organisation Hamas überfallen. Diese beging massive Verbrechen an Zivilisten. Israel hat mit Luftangriffen und Bodenangriffe gegen die Hamas in Gaza reagiert. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage im abgeriegelten Küstengebiet Gazastreifen und Tausender ziviler Opfer geriet Israel international immer mehr in die Kritik. Am 11. und 12. Januar muss sich Israel laut aktueller Meldungen dem Internationalen Gerichtshof (IGH) im niederländischen Den Haag den Völkermordvorwürfen stellen.

F&L: Welche Grundbedingungen einer globalen Ordnung müssen erfüllt sein, damit Staaten friedlich koexistieren können?

Elvira Rosert: Am sichersten ist ein Frieden, der auf vielen Pfeilern ruht, so wie wir es in der EU sehen: Die Befriedung durch das Gemeinschaftsgefühl ist nach vielen Jahrzehnten der Kooperation, der Interdependenz, des gegenseitigen Vertrauens und der friedlichen Konfliktlösung so tief, dass ein gewaltsamer Konfliktaustrag zwischen EU-Mitgliedern geradezu absurd erscheint.

Wir sehen ähnliche Hoffnungsprojekte auch in anderen Regionen, zum Beispiel die Mercosur in Lateinamerika, die als Wirtschaftsorganisation begonnen hat, aber auf eine vertiefte Integration abzielt. Wo solche Kooperationen noch nicht möglich sind, etwa weil das Vertrauen nach Konflikten erst wachsen muss, können zwischenstaatliche Verträge und das Völkerrecht einen Handlungsrahmen bieten.

Aber hier gilt das, was ich soeben bereits erläutert habe: Man muss einschätzen können, ob einige Staaten beziehungsweise Parteien weiterhin bereit sind, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Wenn das der Fall ist, braucht es robuste Reaktionen im Rahmen des Völkerrechts (wie Sanktionen der EU oder im Idealfall umfassende Zwangsmaßnahmen mit UN-Mandat) und militärische Resilienz.

"Man muss einschätzen können, ob einige Staaten beziehungsweise Parteien weiterhin bereit sind, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen."
Elvira Rosert

F&L: Wie beurteilen sie die Rolle der internationalen Organisationen wie die UN als ernstzunehmende Gestalter in Friedensprozessen?

Elvira Rosert: Das friedenspolitische Repertoire der Vereinten Nationen ist so breit und die Anzahl der Konflikte, mit denen sie seit ihrer Gründung befasst waren, ist so groß, dass eine generelle Beurteilung nicht angebracht ist. Wir finden Beispiele für positiven Einfluss auf Friedensprozesse und aufs Konfliktgeschehen, aber auch Beispiele, in denen die UN zu wenig getan haben, und Beispiele, in denen wir die Rolle der UN durchaus kritisch sehen müssen.

Zu den ersten Erfolgen der Vereinten Nationen nach dem Kalten Krieg zählt etwa die Befreiung Kuwaits, das der Irak annektiert hatte, in einer vom Sicherheitsrat mandatierten militärischen Operation. Auch ein Großteil – etwa zwei Drittel – der inzwischen 72 UN-Blauhelmmissionen gilt vielen Studien zufolge als überaus effektiv, wenn es darum geht, erneute Konfliktausbrüche zu verhindern, die Anzahl der Konfliktopfer zu reduzieren und insbesondere die Zivilbevölkerung zu schützen. Weitere Beispiele sind der Unabhängigkeitsprozess Namibias, den die UN erfolgreich begleitet haben oder das Friedensabkommen in El Salvador, das unter Mitwirkung der UN ausgehandelt und danach von ihnen überwacht wurde.

F&L: An welchen Stellschrauben würden Sie gerne noch drehen?

Elvira Rosert: Zum Teil haben die Vereinten Nationen zu wenig Einfluss. Es gibt Friedensmissionen, die ihrer wichtigsten Aufgabe, dem Schutz der Zivilbevölkerung, nicht nachkommen konnten, weil ihnen das Mandat zur Anwendung von Gewalt gefehlt hat und deshalb unter den Augen der UN Genozide geschehen sind, so in Ruanda und in Srebrenica.

Der Einfluss der UN auf das Konfliktgeschehen ist auch heute häufig abhängig von der Interessenslage dritter Staaten, insbesondere derer, die die Macht haben, Entscheidungen im Sicherheitsrat zu verhindern. Wobei ich einwenden würde, dass internationale Institutionen auch eigene Dynamiken entfalten. Das bedeutet, dass Staaten Interessensgegensätze wenn nicht überwinden, dann zumindest punktuell in einem gewissen Maße außen vor lassen können, um gemeinsame Positionen zu formulieren oder gemeinsam zu handeln. Wenn wir jedoch beobachten, dass die internationale Gemeinschaft versagt, zum Beispiel beim Schutz der Zivilbevölkerung in Syrien, dann liegt es häufig daran, dass die jeweiligen Regime eine verbündete Großmacht im Sicherheitsrat haben, die ein effektives Vorgehen verhindert.

Im Fall Syrien ist es Russland. Manchmal sind Friedensanläufe aber auch schon so häufig gescheitert, dass zwar offensichtlich ist, welche Bedingungen vorliegen müssten, damit Frieden möglich ist – jedoch überhaupt nicht offensichtlich ist, ob und was externe Akteure unternehmen können, um diese Bedingungen herzustellen. In Russland müsste etwa eine Demokratisierung stattfinden; die israelische und die palästinensische Zivilbevölkerung bräuchten Repräsentanten, die ernsthaft am Frieden und an einer Zweistaatenlösung interessiert und zugleich in der Lage sind, interne radikale Gruppierungen zu kontrollieren – doch das sind Prozesse, die der Steuerung von außen nur bedingt zugänglich sind.

F&L: Welchen Gefährdungen, die ihre Handlungskraft lähmen, sind die UN noch ausgesetzt?

Elvira Rosert: Manchmal gefährden internationale Organisationen ihre eigene Legitimität. Wenn rein zwischenstaatliche Organe, wie der UN-Sicherheitsrat oder der UN-Menschenrechtsrat, nur selektiv auf Krisen reagieren oder unausgewogene Kritik üben, ist es noch verkraftbar, weil man das als Interessenspolitik ihrer Mitglieder interpretieren kann und nicht unbedingt der internationalen Organisation an sich zuschreiben muss. Aktuell beobachten wir Selektivität leider jedoch auch bei UN-Organisationen, die nicht aus Staatenvertretern, sondern aus UN-Beamten beziehungsweise Repräsentanten bestehen, die eigentlich nur ihrem Mandat verpflichtet sind. So hat es beispielsweise bis Anfang Dezember gedauert, bis die UN Frauenorganisation (UN Women) zur sexualisierten Gewalt, die die Hamas bei ihrem Terrorangriff an Frauen in Israel verübt hat, überhaupt Stellung genommen hat. Auch die UN-Sonderberichterstatterin zur Gewalt gegen Frauen hat sich dazu frappierenderweise nur spät und sehr zögerlich geäußert.

"Eigentlich bräuchten wir eine neue globale Sicherheitsinstitution, von der sich auch die Länder des Globalen Südens angemessen repräsentiert fühlen."
Elvira Rosert

Das ist einer der Gründe, warum Israel den Vereinten Nationen doppelte Standards vorwirft. Dieser Legitimitätsverlust könnte nicht nur die Fähigkeit der Vereinten Nationen untergraben, in diesem Konflikt vermittelnd tätig zu werden, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit darüber hinaus beschädigen. Ein bekanntes Problem ist auch der reformbedürftige, aber reformunfähige Sicherheitsrat, über den wir bereits gesprochen haben. Aufgrund der festgeschriebenen institutionellen Macht der ständigen Mitglieder, die sich Reformen entgegenstellen, sehe ich nicht, wie das Organ entscheidend an Handlungsmacht gewinnen kann – was es jedoch müsste. Eigentlich bräuchten wir eine neue globale Sicherheitsinstitution, von der sich auch die Länder des Globalen Südens angemessen repräsentiert fühlen. Gleichzeitig muss man im Blick behalten, dass es zu einer Fragmentierung der globalen Sicherheitsordnung kommen kann, weil auch Russland und China intensiv um die Länder des Globalen Südens werben und dort ihren Einfluss zu sichern versuchen.

F&L: Welche Chance hat die Idee und die Gestaltung einer internationalen „Friedensidee“, um gemeinsam weltweit an der Friedenssicherung zu arbeiten?

Elvira Rosert: Die Friedensidee ist immer wieder im Gespräch, ursprünglich als die Idee einer pazifistischen internationalen Gemeinschaft, in der man auf militärische Machtmittel verzichtet. Das kann aber nur dann funktionieren, wenn alle dabei sind. Sobald wir einen Staat haben, der aus dieser Friedensidee ausbricht, macht es das für alle anderen unmöglich, auf Gewaltmittel zu verzichten. Solange es also manche Staaten gibt, für die aggressive Außenpolitik ein legitimes Mittel ist, ihre Interessen durchzusetzen, können wir diese Idee nicht global umsetzen – immerhin ist es aber regional bereits gelungen.