Symbolbild für Geschlechterforschung: buntes Helix-Wellenmuster verbindet Silhouetten von Mann und Frau
mauritius images / Ikon Images / Roy Scott

Geschlechterforschung
Exzellent ohne Gender Studies in MINT?

Die Geschlechterforschung ist etabliert, aber Angriffen ausgesetzt. In den MINT-Fächern sind die Gender Studies kaum institutionalisiert. Ein Appell.

21.06.2023

Autor:innen

  • Anelis Kaiser Trujillo, bis 31.03.2023 Professur Gender Studies in MINT am Institut für Informatik, Universität Freiburg, Gründerin des Netzwerks NeuroGenderings
  • Corinna Bath, bis 28.02.2022 Professur Gender, Technik und Mobilität, TU Braunschweig und Ostfalia Hochschule für Ange­wandte Wissenschaften
  • Waltraud Ernst, Universitätsassistentin am Institut für Frauen- und Geschlechter­forschung, Johannes Kepler Universität Linz
  • Helene Götschel, bis 14.12.2019 Professur Gender in Ingenieurwissenschaften und Informatik, Hochschule Hannover
  • Heinz-Jürgen Voß, Professur Sexual­wissenschaft und Sexuelle Bildung, Hochschule Merseburg

Was die Integration von Geschlechterforschung in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technikwissenschaften) auf professoraler Ebene betrifft, ist Deutschland international unter den Schlusslichtern.

In der Schweiz wurde kürzlich ein Lehrstuhl neu besetzt und dafür der Schwerpunkt Digitalisierung gewählt, in den USA und Kanada gehören zahlreiche Gender-Lehrstühle in MINT zur akademischen Landschaft, etwa die Professuren "Neuroscience and Behavioral Biology and Women's, Gender, and Sexuality Studies" (Emory University), "Psychology, Gender Studies, & Neuroscience" (Queen’s University) und "Gender Studies & Psychology" (British Columbia); Masterstudiengänge wie "MIT Women’s & Gender Studies" sind am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) nicht mehr wegzudenken. In den nördlichen europäischen Ländern zeigen Lehrstühle in Chemie beziehungsweise Physik, zum Beispiel an der Lund University oder der University of York, dass Genderforschung in MINT auch ganz im Interesse der MINT-Fächer selbst liegt.

Warum braucht es Gender Studies in MINT?

Diese Institutionalisierung von Gender & Diversity Studies in MINT ist begründet, denn dieses Fächerensemble stellt und bearbeitet Fragen, die angesichts globaler Herausforderungen wie Digitalisierung, Klimawandel und sozialer Ungleichheit dringend der wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen:

Wenn beispielsweise Schwangere bei Crashtests nach den Normen für die Automobilindustrie bisher ebenso wenig berücksichtigt werden müssen wie Menschen, die sehr groß, sehr klein oder sehr schlank sind; wenn autonome Fahrzeuge Rollstuhlfahrer:innen nicht als Menschen, für die gebremst werden sollte, erkennen; wenn Apps zum Kauf von Tickets entgegen gesetzlicher Bestimmungen eine Klassifizierung als weiblich oder männlich voraussetzen, stellt sich die Frage: Welche Körper zählen in welchen Mobilitäts- und damit verbundenen Sicherheitskonzepten?

Wenn Herzinfarkte und andere medizinische Notfälle bei Frauen seltener diagnostiziert werden, weil sie andere Symptome zeigen als Männer; wenn Medikamente noch immer an männlich gedachten Normkörpern getestet und dosiert werden; wenn "männliche" Aggressivität oder "weibliche" Unfähigkeit zur räumlichen Orientierung stereotyp als festverdrahtetes Merkmal des Gehirns verstanden werden, stellt sich die Frage: Welche Menschen überleben nicht aufgrund von ignoriertem Wissen und warum werden die teils seit mehr als 30 Jahren vorliegenden Erkenntnisse der feministischen Natur- und Technikforschung, wie Androzentrismus oder Essentialisierung, trotz quantifizierbarer Kosten nicht angewendet?

Wenn Recruiting-Software Männer für Einstellungsverfahren vorschlägt und Bewerbungen von Frauen aussortiert; wenn Hautkrebs bei People of Color oder Tätowierten durch Machine Learning signifikant schlechter erkannt wird als bei Weißen; wenn große KI-Sprachmodelle überkommene Stereotype fortsetzen und strukturelle Diskriminierung verschärfen, stellt sich die Frage: Wie können wir sicherstellen, dass Systeme Künstlicher Intelligenz und die ihr zugrundeliegenden Datensätze gerecht sind?

Generell müssen wir angesichts großer gesellschaftlicher Herausforderungen fragen: In welcher Welt wollen wir in Zukunft leben? Wie können wir für alle gleichermaßen lebbare und wünschenswerte Zukünfte gestalten? Wer soll darüber mitentscheiden, was lebbare und wünschenswerte Zukünfte sind?

Stand der Gender Studies in MINT in Deutschland

Zu diesen Fragen und vielen mehr haben Gender & Diversity Studies in MINT bereits wesentliche Grundlagenarbeit geleistet.  Sie haben die Forschungsfragen formuliert, damit es heute überhaupt eine "Gender Medizin" oder "Gender Bias in KI" geben kann. Sie könnten weitere notwendige Beiträge leisten und sichtbarer werden, wenn der Bereich auch in Deutschland stärker institutionalisiert würde. Denn derzeit gibt es an deutschen Universitäten nur zwei unbefristete Professuren in Gender Studies in MINT (Gender Medizin ausgenommen): eine zu "Mathematik und Gender Studies" an der Universität Hamburg sowie eine zu "Gender & Diversity in den Ingenieurwissenschaften" an der RWTH Aachen.

"Derzeit gibt es an deutschen Universitäten nur zwei unbefristete Professuren in Gender Studies in MINT."

Dabei gab es in Deutschland längst weitere Professuren, die sich im Bereich Gender & Diversity Studies in MINT international etabliert hatten, zum Beispiel an der Hochschule Hannover zu Geschlecht in Ingenieurwissenschaften und Physikdidaktik oder an der TU Braunschweig zu Geschlechterforschung in Maschinenbau und Informatik. Diese Professuren waren befristet eingerichtet und nicht entfristet worden. An der Universität Freiburg geschieht dieses Auslaufenlassen gerade zum zweiten Mal. Nach der Emeritierung von Britta Schinzel, Professorin für Mathematik und Informatik mit Genderschwerpunkt, wurde das Freiburger Kompetenzforum Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften (GIN) im Jahr 2008 aufgelöst. Im Anschluss wurde eine befristete Professur "Gender Studies in MINT" eingerichtet, auf der Anelis Kaiser Trujillo bis vor Kurzem Geschlechteraspekte in der Gehirnforschung untersuchte und kritisch reflektierte.

Die genannten Kolleg:innen stehen für viele andere, die teils noch kurzfristiger auf einer Gastprofessur ihr Wissen weitergeben konnten beziehungsweise können oder in Forschungsprojekten, Publikationen und Lehrprojekten gezeigt haben, dass Gender Studies in den Natur- und Technikwissenschaften international ein etabliertes Feld darstellen, das dringend benötigtes weiterführendes Wissen bereitstellt.

Förderer fordern Gender-Aspekte in allen Fächern ein

Warum muss der Bereich "Gender Studies in MINT" immer wieder neu erfunden und etabliert werden? Seit über zehn Jahren wurde in Deutschland keine Professur für Gender in MINT entfristet und auch keine entfristete Professur für diesen Bereich geschaffen, obwohl die Expertise zunehmend im gesamten Forschungsbereich benötigt wird. Denn Geschlechterforschung muss inzwischen in Forschungsanträgen der Mathematik, Informatik, Ingenieur- und Naturwissenschaften ebenso berücksichtigt werden wie in anderen Disziplinen. Die EU fordert in der laufenden Horizon-Forschungsperiode dezidiert den Einbezug von Geschlechterdimensionen in die Inhalte von Forschung. Auch in den GEP (Gender Equality Plans), die seit 2022 Bestandteil von EU-Forschungsanträgen (zum Beispiel in ERC-Starting Grant, ERC-Consolidator Grant, oder ERC-Advanced Grant) sind, wird die Integration der Gender- und Gleichstellungs-Dimension gefordert (Horizon Europe Guidance on Gender Equality Plans). Die DFG hat ebenfalls den Einbezug von Gender Perspektiven in die Forschung für die nächste Runde der Exzellenzinitiative ausdrücklich gefordert. Die Themen "Gleichstellung, Inklusion, Diversität" (und Nachwuchs) werden ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der nächsten Exzellenzrunde sein.

Tatsächlich aber erhalten viele, die dieses offenbar dringende Forschungsdesiderat erforschen und dazu bereits auf Professuren wegweisende Perspektiven erarbeitet haben, keine Lehrstühle. Dabei bekommen besonders diejenigen keine Chance oder werden aus den Hochschulen entlassen, die sich im Laufe ihrer akademischen Karriere über Studium, Promotion und Habilitation sowohl in einem natur- beziehungsweise technikwissenschaftlichen Fach als auch in den Gender Studies eine Doppelqualifikation erworben haben und deshalb besonders gut zwischen den wissenschaftlichen Perspektiven interdisziplinär übersetzen können.

Zukunft der Gender Studies?

Mit der Befristung geht einher, dass sich die natur- und technikwissenschaftlichen Disziplinen einer langfristigen thematischen und methodischen Auseinandersetzung entziehen. Denn Gender Studies in MINT ernst zu nehmen, bedeutet eine Reflexion darauf, was als wissenschaftliche Frage, legitime Methode und angemessener Inhalt gilt. Es kann bedeuten, dass die konkrete Praxis in den Laboren oder seit Jahren eingespielte wissenschaftliche Routinen überprüft und verändert werden müssen. Die Abwehr bestimmter Inhalte und ihrer Konsequenzen ist kein Alleinstellungsmerkmal für die Gender Studies in MINT. Auch Friedensforschung oder Umweltforschung hatten lange einen schlechten Stand in diesen Fächern. Der Druck auf die MINT-Forschung, Gender Studies in MINT anzuerkennen und produktiv zu entfalten, steigt jedoch im internationalen Vergleich. Speziell dort, wo Gender lediglich als add-on Frauenförderung begriffen wird, sind Forschungsanträge aus Deutschland skandalös rückständig, was sich zunehmend in negativen Begutachtungen zeigt.

"Gender Studies in MINT ernst zu nehmen, bedeutet eine Reflexion darauf, was als wissenschaftliche Frage, legitime Methode und angemessener Inhalt gilt."

Wenn die Wissenschaft in Deutschland konkurrenzfähig bleiben will, muss das Forschungsfeld Gender Studies in MINT flächendeckend interdisziplinär etabliert werden. Das könnte zum Beispiel durch eine bundesweite Ausschreibung von mehreren entsprechenden ordentlichen Professuren an verschiedenen Universitäten geschehen. Angemessen wäre für den Anfang etwa eine Professur pro Bundesland. Vergleichbar mit einem spezifizierten Professorinnenprogramm. Denn dieses Wissen muss weitergegeben und ausgebaut werden, sonst geht immer wieder ein großes Potenzial verloren.

Die fachliche Notwendigkeit einer solchen Maßnahme liegt auf der Hand, die Expert:innen sind vorhanden, doch die universitären Strukturen stocken. Londa Schiebinger stellte in diesem Zusammenhang schon vor Jahren die Forderung auf: "fix the numbers, fix the knowledge, fix the institutions". Worauf warten die MINT-Fächer noch?