Chancengleichheit an Hochschulen
"Mehr als exzellente Forschung und Lehre"
"Ich fühle mich wie ein Quotenkind", sagt Dr. Carsten Rensinghoff. "Meist werde ich zwar zu Berufungsverfahren eingeladen, aber bekomme dann doch nur abschlägige Bescheide." Der 48-Jährige ist halbseitig gelähmt und gilt damit als schwerbehindert. Bei einem Verkehrsunfall als Jugendlicher erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma. "Weil bei mir das informationsverarbeitende Organ geschädigt ist, traut man mir nicht zu, vernünftig wissenschaftlich tätig zu sein. Dabei habe ich es mit meiner Dissertation schon bewiesen", ärgert er sich.
Gerade in seinem Fachbereich, der Sonderpädagogik, könne er etwas beitragen, sagt er, "weil wir Menschen mit Behinderung in unserer Forschung auf andere Dinge achten, als das Menschen ohne Behinderung tun – zum Beispiel, was es so an Hilfsmitteln gibt."
Bis auf eine anfängliche und aktuell auf drei Monate befristete Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter habe er an verschiedenen Hochschulen immer nur Lehraufträge gehabt, aktuell an der privaten Universität Witten/Herdecke, an der er Seminare in den Bereichen "Disability Studies" und "Peer Support" gibt.
Die Lehre und der Austausch mit den Studierenden machten ihm Spaß, sagt Carsten Rensinghoff, aber: "Es bedeutet für mich, dass ich kein monatliches Salär habe, das ich auch in der vorlesungsfreien Zeit erhalte. Ich muss mich von Semester zu Semester hangeln."
Zweifel an Leistungsfähigkeit
Für staatliche Hochschulen als öffentliche Arbeitgeber gilt, dass sie Menschen mit Behinderung zum Vorstellungsgespräch einladen müssen, sofern die fachliche Eignung für eine ausgeschriebene Stelle "nicht offensichtlich fehlt". So steht es in Sozialgesetzbuch (SGB) IX zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Die Regelung gilt auch dann, wenn es ausreichend andere Bewerber mit höherer Qualifikation gibt.
Die Rechtsabteilungen der Hochschulen "zwängen" Bewerber daher in das Verfahren, während die ablehnende Haltung der Berufungskommission vorprogrammiert sei, schrieb ein Autor in Forschung & Lehre 12/16, der anonym bleiben will.Auf rund 50 Professuren habe er sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre schon beworben, schätzt Carsten Rensinghoff – ohne Erfolg. Die Begründung: "Andere waren eben besser". Er glaubt das nicht. Genau wie der Autor des Erfahrungsberichtes hat er vielmehr das Gefühl, chancenlos gegenüber Bewerberinnen und Bewerbern ohne Behinderung zu sein.
"Wir haben immer noch das Problem, dass eine Behinderung von vielen Leuten gleichgesetzt wird mit 'nicht so leistungsfähig'", sagt Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Oft seien jedoch gerade Menschen mit Behinderung besonders zielstrebig, weil sie es gewohnt seien, Hürden zu überwinden und in Momenten, in denen sie durch ihre Behinderung eingeschränkt sind, kreative Lösungen zu finden. "Das sind alles Fähigkeiten, die die Wissenschaft braucht und möchte", sagt Verena Bentele, die an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München studiert hat und als ehemalige Biathletin und Skilangläuferin später viermal die Weltmeisterschaften und zwölfmal die Paralympics gewonnen hat. Von Geburt an ist sie blind.
Mathilde Niehaus, Professorin für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln, glaubt, dass Vorbehalte nicht einmal böswillig gemeint sein müssten. „Gerade über psychische Erkrankungen ist das Wissen in der allgemeinen Bevölkerung gering und die Unsicherheit darüber, wie man mit Menschen mit Behinderung umgeht und was ihre Behinderung für ihre berufliche Leistung bedeutet, entsprechend groß.
Was genau meint "behindert"?
Menschen gelten nach Sozialgesetzbuch (SGB) IX als „behindert“, wenn „ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Der Grad der Behinderung wird in einem ärztlichen Gutachten anhand einer Punkteskala von 20 bis 100 beurteilt. Als „schwerbehindert“ gilt eine Person grundsätzlich ab einem Grad der Behinderung von mindestens 50 Punkten.
Vor allem bei der Bewerbung um eine wissenschaftliche Tätigkeit hätten es Betroffene schwer, sagt Holger Burckhart, Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und Rektor der Universität Siegen. In den Bereichen "Technik" und "Verwaltung" sei eine Beschäftigung meist problemlos möglich.
Wie viele Menschen mit Behinderung insgesamt an deutschen Hochschulen beschäftigt sind, wird nicht statistisch erfasst. Denn ihre Behinderungen oder chronischen Erkrankungen müssen sie nicht angeben – und viele tun dies laut Mathilde Niehaus auch nicht, weil sie Stigmatisierungen und Benachteiligungen fürchten. Die Sozialpädagogin rät allerdings, eine Behinderung in jedem Fall anzugeben. "Da Bewerberinnen und Bewerber bei fachlicher Eignung eingeladen werden müssen, haben sie so die Möglichkeit, sich zu präsentieren und zu erklären, warum sie zum Beispiel weniger Lehrerfahrung vorweisen können als andere."
Vertrauensperson als Vermittler
Nicht nur im Auswahlverfahren spielt die Schwerbehindertenvertretung einer Hochschule eine zentrale Rolle. Sie muss von Hochschulen, öffentlichen wie privaten, kontaktiert werden, falls Menschen mit Schwerbehinderung im Bewerberpool sind, und hat dann das Recht, ein Mitglied als Vertrauensperson in das Auswahlverfahren zu schicken – außer Bewerber haben dies im Vorfeld explizit abgelehnt. "Die Vertrauensperson hat die Aufgabe einzuschätzen, ob ein Bewerber die Anforderungen der Stelle mit der passenden Unterstützung erfüllen kann", erklärt Verena Bentele. Das müsse sie anschließend den Fachverantwortlichen vermitteln.
Verena Bentele begrüßt eine Neuerung des Bundesteilhabegesetzes, die festlegt, dass ab mindestens 100 statt vorher 200 Beschäftigten mit Schwerbehinderung eine Vertrauensperson auf Wunsch von anderen Aufgaben freizustellen ist. Nachgebessert werden müsse laut Aussage der Vertrauensperson einer Hochschule aber die derzeitige Regel, dass die Verantwortlichen einer bestimmten Abteilung keine neue Arbeitskraft für denjenigen einstellen dürften, den sie freistellen. Denn das führe dazu, dass sie einer Freistellung nur widerwillig zustimmten.
Bei Carsten Rensinghoff war oft keine Vertrauensperson beim Auswahlverfahren dabei, erzählt er. "In der Sonder-, Rehabilitations-, Inklusions- und Integrationspädagogik haben sie oft gesagt, 'wir kennen uns doch damit aus, da muss doch nicht noch extra ein Schwerbehindertenbeauftragter sitzen'. Oder es wird gesagt: 'Wir haben den Schwerbehindertenbeauftragten eingeladen, aber der oder die ist nicht gekommen'."
Um solche Situationen von vorneherein zu vermeiden, empfiehlt Verena Bentele, vorab selbst mit der Schwerbehindertenvertretung Kontakt aufzunehmen. "So können Bewerber auch direkt Informationen über das Auswahlverfahren und die Barrierefreiheit an der Hochschule erhalten." Sie ruft aber ausdrücklich dazu auf, die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen. "Sonst missachtet die Hochschule geltendes Recht."
Hürde: Kostenabwägungen
Haben es Menschen mit Schwerbehinderung einmal an die Hochschule geschafft, stehen ihnen oftmals bauliche Barrieren im Weg: Die Veranstaltung findet im fünften Stock ohne Aufzug statt. Der Türöffner ist zu hoch oder die Akustik im Vorlesungssaal zu schlecht. Die Liste ist lang. Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass Neubauten sowie Umbauten und Modernisierungen der Norm DIN-18040 folgen müssen, um barrierefrei zu sein.
Bei der Modernisierung alter Gebäude wird häufig der Denkmalschutz zum Problem. "Da müssen bürokratische Hürden abgebaut werden", fordert Holger Burckhart. Hinzu kommen Geldfragen: "Hochschulleitungen haben das Problem, dass sie für Menschen mit Behinderung hohe Ausgaben bei einer vergleichsweise kleinen Gruppe rechtfertigen müssen", sagt er. Für Betroffene ist es eine Krux. Schließlich müssen sie es erst einmal durch das Auswahlverfahren schaffen, um stärker an der Hochschule vertreten sein zu können.
"Manche Hochschulen einer Region kooperieren und schaffen Barrierefreiheit für unterschiedliche Teilgruppen, etwa für Menschen mit Hörschädigung oder Gehbeeinträchtigung", sagt Holger Burckhart. Dies sei "keine Ideallösung, aber unter den aktuellen Bedingungen ein möglicher Schritt".Wie viel Hochschulen für Barrierefreiheit ausgeben, hält das Statistische Bundesamt nach eigenen Angaben nicht nach.
Chancengleichheit in den Landeshochschulgesetzen
Die Prämisse der Chancengleichheit steht mit Blick auf Studierende sowohl im Hochschulrahmengesetz als auch in allen Landeshochschulgesetzen. Die Landeshochschulgesetze beziehen sich weiterhin auf die Chancengleichheit von "Menschen mit Behinderung" und damit verbundene Aufgaben der Hochschulen. Einzelne Passagen gehen explizit auf Beschäftigte ein.
So formuliert Bremen: "Die Hochschulen wirken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf die Beseitigung der für Menschen mit Behinderung in der Forschung und Wissenschaft bestehenden Nachteile hin". Berlin und Schleswig-Holstein legen fest, dass Menschen mit Behinderung das Recht auf eine zeitlich beschränkte Verlängerung ihres Beschäftigungsverhältnisses haben. Außerdem verpflichtet sich Schleswig-Holstein, die barrierefreie Gestaltung von Gebäuden "zu berücksichtigen".
Hessen spricht die Möglichkeit einer Beurlaubung oder Ermäßigung der Arbeitszeit an.Hamburg weist darauf hin, dass mögliche Nachteile durch eine Behinderung bei der Entscheidung über eine Promotionszulassung beachtet werden müssen und Nordrhein-Westfalen hebt die Altersgrenze für eine Verbeamtung von Menschen mit Behinderung von 50 auf 53 Jahre und geht, ebenso wie Rheinland-Pfalz, auf die Pflicht der Hochschulen ein, die Schwerbehindertenvertretung einer Hochschule an Berufungsverfahren zu beteiligen.
Ausgewählte Regelungen
Auswahlverfahren und behinderungsgerechter Arbeitsplatz: §§ 81 und 82 Sozialgesetzbuch (SGB) IX.
Sonderregelungen (Mehrarbeit, Zusatzurlaub, Nachteilsausgleich): §§ 124 bis 126 SGB IX
Verlängerung von befristeten Arbeitsverträgen: § 2 Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG)
Begründungspflicht bei Ablehnungen: § 81 SGB IX
Prävention: § 84 SGB IX
Benachteiligungsverbot: §7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
Lehrverpflichtung: Lehrverpflichtungsordnung der Bundesländer
Förderung an den Hochschulen
Förderprogramme für Menschen mit Behinderung an den Hochschulen können "Vorbilder schaffen und diese präsent machen", wie Mathilde Niehaus sagt. Sie leitet an der Universität zu Köln das bundesweite Projekt "PROMI – Promotion inklusive", das mit Geld der Hochschulen und des Bundes sozialversicherungspflichtige Promotionsstellen für Menschen mit Schwerbehinderung finanziert. 45 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können darüber an 21 Hochschulen in zwölf Bundesländern unterstützt werden.
Unter den Geförderten ist etwa Anna Drum. Die Kunsthistorikerin untersucht an der TU Dresden am Beispiel des Films "Freaks" von 1932, bei dem kleinwüchsige Personen mitspielen, was in der visuellen Kultur als zu klein oder auch zu groß gilt. Von PROMI hat sie über eine Vertrauensperson erfahren. Anders als bei den meisten Stipendien-Programmen hat PROMI für sie den Vorteil, durch eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung an der Universität einen Anspruch auf Hilfsmittel zu haben.
Für ihr Büro an der Universität Duisburg-Essen hat die 1,30 Meter große Wissenschaftlerin einen speziell für sie angefertigten Tisch und Stuhl; außerdem ein rollbares Regal, mit dem sie ihre Bücher gut transportieren kann. Das stünde ihr sonst nicht zu, weil die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe einen Studienabschluss als "ausreichende Lebensgrundlage" ansieht. Daher unterstützt sie Hilfsmittel für eine daran anschließende Promotion nicht.
Auch Nicolas Vogt wird über PROMI gefördert. Der stark sehbeeinträchtigte Doktorand forscht in der anorganischen Chemie und zeigt, dass eine Schwerbehinderung auch im experimentellen Labor kein Hindernis sein muss – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
"Bei gefährlichen chemischen Reaktionen hat er immer Unterstützung, und er ist – wie auch alle anderen – grundsätzlich nie alleine im Labor", sagt Professor Axel Klein, Doktorvater von Nicolas Vogt. "Auch kann er zum Beispiel keine Aufgaben wie die Betreuung von Assistentinnen und Assistenten im Labor-Praktikum übernehmen, weil er die Situation in den großen Labor-Sälen nicht gut genug beobachten kann." Dafür übernehme er andere Aufgaben wie die Organisation von Workshops oder die Auswertung von Daten.
Absprachen im Team sind entscheidend
Die Zusammenarbeit funktioniere gut, und da das gesamte Team wisse, warum Nicolas Vogt teils andere Aufgaben übernehme, sei das Verständnis sehr groß. Bedenken, ihn in sein Forschungsteam einzubinden, hatte Axel Klein von Anfang an nicht, sagt er. Schon während einer früheren Position hatte der Chemiker mit einem Autisten und einer Frau mit Tourette-Syndrom zusammengearbeitet.
Verena Bentele freut sich über eine solche Aufgeschlossenheit. "Wir sollten uns auch in Deutschland bewusst machen, dass Diversität neue Perspektiven in die Hochschule einbringt und damit eine Bereicherung ist", sagt sie. Bei bereits Beschäftigten sei das Engagement für Chancengleichheit ohnehin im eigenen Interesse der Hochschulen.
"Es bietet die Möglichkeit, Wissen zu halten, indem erkrankte Menschen eine auf sie zugeschnittene Unterstützung erhalten und so im Job bleiben." Die Schwerbehindertenvertretung sollte daher stärker in das Eingliederungsmanagement einbezogen werden, das Menschen nach Erkrankungen oder Unfällen den Weg zurück in den Job ermöglichen soll. Seit 2004 ist es verpflichtend für Arbeitgeber.
Mehr Diversität wagen
Vor allem an den großen Hochschulen habe sich die Chancengleichheit auch schon deutlich verbessert, findet Holger Burckhart von der HRK. "Diese Hochschulen haben mehr finanzielle Spielräume." Aber auch andere Hochschulen seien bemüht, die Situation zu verbessern.
"Ein großes Problem ist, dass Hochschulen mit der UN-Behindertenkonvention von 2006 zusätzliche Pflichten bekommen haben, aber keine zusätzlichen Mittel, um die entsprechenden Vorkehrungen zu ergreifen", kritisiert Holger Burckhart. Wenn die Bundesregierung sich entscheidet, eine solche Konvention zu unterschreiben, sollte sie auch mehr Geld für den Bau und die Qualifizierung von Personal an den Hochschulen bereitstellen.
Er appelliert dennoch an das Engagement der Hochschulleitungen. "Sie müssen Vorreiter sein." In ihrer Funktion könnten sie etwa Weiterbildungsangebote für Mitarbeitende initiieren und Zuständigkeiten an der Hochschule klar regeln. Den "sanften Druck des Staates" hält er für gut, um "auch wirklich alle Hochschulen" für die Bedeutung der Chancengleichheit zu sensibilisieren. "Eine Hochschule sollte mehr sein als exzellente Forschung und Lehre."
Dass eine Behinderung Exzellenz nicht ausschließt, zeigt unter anderem das prominente Beispiel des von der unheilbaren Nervenerkrankung Amyotrophe Lateral-sklerose (ALS) betroffenen britischen Physikers Stephen Hawking.
Offenheit nimmt zu
"Die Bereitschaft, sich mit dem Thema Behinderung auseinanderzusetzen, ist da und steigt", sagt auch Mathilde Niehaus mit Blick auf die letzten fünf bis zehn Jahre. Vor allem durch Diskussionen über die "Inklusion" in Schulen habe das Thema in den Medien und der Gesellschaft eine viel größere Aufmerksamkeit bekommen. Von "Inklusion" im eigentlichen Sinne, einem Miteinander von Menschen unterschiedlicher Eigenschaften ohne eine Bewertung, wer oder was der "Norm" entspricht, sei man jedoch noch weit entfernt.
Doktorvater Axel Klein freut sich über den positiven Effekt des PROMI-Projekts: "Vorher habe ich immer wieder die Frage gehört: 'Warum muss jemand mit Sehbehinderung Chemie studieren?' Jetzt lautet sie immer häufiger: 'Wie kann jemand mit Sehbehinderung Chemie studieren?'"