Illustration von Menschen im Gespräch beim Netzwerken
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Wissenschaft und Politik
Wie funktioniert wissenschaftliche Politikberatung?

Wissenschaftler sollen der Politik evidenzbasierte Lösungen zu aktuellen Problemen aufzeigen. Wieviel Einfluss haben die Beratenden?

Von Michael Böcher 02.06.2022

Politikberatung hat sich in Deutschland in den letzten Jahren stark ausdifferenziert. Es gibt dauerhaft eingerichtete Sachverständigengremien der Bundesregierung, zum Beispiel der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ("die Wirtschaftsweisen") oder der Bioökonomierat, dem der Autor angehört. Diese sind institutionalisiert und sollen der Bundesregierung regelmäßig Expertise zur Verfügung stellen. Dem Bundestag steht ein wissenschaftlicher Dienst zur Verfügung, und es gibt zudem die Möglichkeit, im Rahmen von Anhörungen zu bestimmten Themen in den Fachausschüssen externe Expertinnen und Experten einzuladen. Im Geschäftsbereich einzelner Ministerien angesiedelte Ressortforschungseinrichtungen leisten aufgabenbezogen wissenschaftsbasierte Beratung und besitzen Informationspflichten gegenüber der Öffentlichkeit. Bekannt geworden in der Corona-Pandemie ist vor allem das Robert-Koch-Institut.

Viele weitere Akteure ergänzen diese eher "klassischen" Beratungsformen: So beraten wissenschaftliche Akademien wie die Leopoldina die Politik. Bekannt geworden sind vor allem die Ad-hoc-Stellungnahmen zu den Corona-Maßnahmen wie Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Impfkampagnen. Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen beraten ebenfalls die Politik. Welcher Wissenschaftler und welche Wissenschaftlerin kennt nicht Forschungsprojekte für öffentliche Auftraggeber, an denen am Ende "Handlungsempfehlungen" stehen sollen? Dazu kommt eine Fülle an Think Tanks, Stiftungen und privaten Politikberatungsfirmen, die ebenfalls den Anspruch haben, Politikberatung zu betreiben.

"Wer kennt nicht Forschungsprojekte für öffentliche Auftraggeber, an deren Ende 'Handlungsempfehlungen' stehen sollen?"

Auch einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben in verschiedenen Medien Einschätzungen zu politischen Themen für die Öffentlichkeit ab und werden zu Politikberatern. Christian Drosten, Virologe an der Charité in Berlin, wurde insbesondere wegen seiner Beiträge im Rahmen des NDR-Podcasts "Corona-Virus-Update" so schlagartig bekannt. Mittlerweile kommt kaum eine Talkshow ohne Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler aus – was allerdings für das wissenschaftliche Ansehen auch negative Konsequenzen haben kann, gelten doch die "Medienstars" der jeweiligen Dis­ziplinen, die der herrschenden Medienlogik folgend komplizierte Fakten auf die berühmten "30 Sekunden" herunterbrechen können, ihren Kolleginnen und Kollegen oft als suspekt.

Gibt es einen idealtypischen Prozess in der Beratung von Politikern?

Die Forschung zu wissenschaftlicher Politikberatung unterscheidet verschiedene Beratungsmodelle: Im klassischen linearen (oder technokratischen) Modell formuliert die Politik eine Nachfrage nach einer wissenschaftsbasierten Lösung, die dann durch die Wissenschaft erzeugt und unmittelbar angewendet werden kann. Eine Ausweitung wissenschaftlicher Forschung führe automatisch zu einer effektiveren und effizienteren Politik.

Mittlerweile gilt dieses Modell als überholt, unter anderem, weil dessen Voraussetzung, die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ermittlung der besten politischen Lösung, unrealistisch ist. Die Wissenschaft ist nicht in der Lage, Lösungen zu entwickeln, die nicht mehr Gegenstand politischer Abwägungen sind. So können Fragen, zum Beispiel ob man bei der Transformation zur Nachhaltigkeit eher auf neuartige technische Lösungen oder Rückbau und Postwachstum setzt, nicht wissenschaftlich entschieden werden. Es existieren unterschiedliche wissenschaftliche Positionen und Kontroversen, auf deren Basis die Politik Entscheidungen unter Unsicherheit trifft. Auch die Corona-Pandemie ist kein Beispiel für technokratische Politik – viele ergriffene Maßnahmen basierten auf einer nur unzureichenden wissenschaftlichen Datenbasis wie den unsicheren Fallzahlen oder wichen von wissenschaftlichen Empfehlungen ab, zum Beispiel bei der Öffnung und Schließung von Schulen in Präsenz.

Der skizzierte idealtypische Beratungsprozess zwischen Auftrag der Politik und Lösungsangebot der Wissenschaft findet nicht statt, auch wenn solche Vorstellungen nach wie vor als Erwartungen formuliert werden. Realistischer sind Politikberatungsmodelle, die eine wechselseitige Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage nach wissenschaftlicher Politikberatung beschreiben. In der Wissenschaft werden oft auch ohne konkrete politische Nachfrage Probleme entdeckt, die politisch gelöst werden müssen – die Entdeckung des Ozonlochs kann hier als Beispiel dienen. In solchen Politikberatungsvorstellungen kommen am Ende Lösungen zum Vorschein, die auch politische Abwägungen reflektieren. Dies sorgt oft für Frust bei den Beraterinnen und Beratern, wenn sie an der Politik verzweifeln, da diese ihre wissenschaftlichen Empfehlungen nicht konsequent umsetzt. Dies war in der Corona-Pandemie mitunter zu beobachten, wenn Virologen und Virologinnen die Politik stark kritisierten.

Missverständnis zwischen Wissenschaft und Politik vermeiden

Warum funktioniert wissenschaftliche Politikberatung oft nicht idealtypisch? Die Antwort ist verblüffend einfach: Politik ist keine Wissenschaft und Wissenschaft keine Politik. Im Luhmann’schen Sinne basiert Politik auf Macht, während es in der Wissenschaft um Wahrheit geht. In der Politik werden auf der Basis unterschiedlicher Wertvorstellungen und Interessen Lösungen ausgehandelt und Kompromisse gesucht. In der Wissenschaft wird Wissen auf der Basis bestimmter disziplinärer Forschungslücken anhand spezifischer Methoden erzeugt und fortlaufend verbessert. Der wissenschaftliche Forschungsprozess ist nie abgeschlossen, jedes Wissen ist vorläufig. Dieses Prinzip ist nur schwer mit der Erwartung an die Politik, zustimmungsfähige und Vertrauen stiftende, wirksame Entscheidungen zu treffen, die "stimmen", in Einklang zu bringen.

Beide Systeme sind daher nicht einfach kompatibel. Von Politikerinnen und Politikern wird erwartet, dass sie kurzfristig Entscheidungen treffen, auch wenn das dafür notwendige Wissen nicht vollständig ist. Oft gibt es dabei politische "Gelegenheitsfenster", in denen Maßnahmen ergriffen werden können, die sonst fast unmöglich sind, zum Beispiel wenn gerade eine Wahl gewonnen wurde oder der Haushalt stimmt. Politisch geht es nicht zeit- und themenkonjunkturunabhängig um das Finden der besten Lösung wie idealtypisch in der Wissenschaft. Wissenschaftliche Lösungen müssen zur interessen- und machtbasierten politischen Praxis passen. In einer Studie zur wissenschaftlichen Politikberatung in der Corona-Pandemie konnten wir zeigen, dass die bereits 2013 im Bundestag diskutierten Szenarien zu einer drohenden Pandemie damals keinerlei politisches Gehör fanden und Empfehlungen, sich auf ein solches Ereignis zum Beispiel mit der Anschaffung notwendiger Schutzausrüstung vorzubereiten, ignoriert wurden. Damals hatte dieses wissenschaftliche Thema keine politische Konjunktur. Anders 2020: Als die Politik gezwungen war, die Pandemie zu bewältigen, konnten wissenschaftliche Vorschläge unmittelbar an die politische Logik "andocken" und entfalteten einen großen Einfluss, auch wenn permanent deutlich wurde, wie das ständig nur vorläufige wissenschaftliche Wissen hier der Notwendigkeit abgesicherter politischer Entscheidungen und dem Vermitteln eines Sicherheitsgefühls gegenüber der Bevölkerung zuwiderlief.

Wie wissenschaftliche Politikberatung gelingt

Was folgt aus den dargelegten Eigenheiten wissenschaftlicher Politikberatung? Zunächst einmal sollte sie viel stärker als bisher die Funktionsweise politischer Prozesse berücksichtigen. Oft sind es nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse als solche, die fehlen, sondern eine Überschätzung der Rolle von Wissenschaft für die Politik und eine naive Vorstellung über das "Enlightenment" von Politikerinnen und Politikern führen zu Misserfolgen in der Beratung.

"Wissenschaftliche Politikberatung sollte viel stärker als bisher die Funktionsweise politischer Prozesse berücksichtigen."

In dem vom Autor mitentwickelten RIU-Modell (Research - Integration - Utilization) wissenschaftlicher Politikberatung rückt ins Zentrum, dass es zwischen der wissenschaftlichen Forschung als Voraussetzung und der Anwendung in der politischen Praxis einen zentralen wechselseitigen Zwischenschritt gibt: die Integration. Hier treffen politische und wissenschaftliche Ansprüche an Politikberatung permanent aufeinander. Das RIU-Modell betont, dass politische Akteure oft nur bestimmte wissenschaftliche Lösungen auswählen, wenn sie zu ihren aktuellen politischen Interessen passen, und Politik häufig auch ganz ohne wissenschaftliches Wissen gemacht wird. Am Ende sorgt der Integrationsprozess dafür, dass wissenschaftliche Politikberatung politische Lösungen zur Folge hat, die keine reine Wissenschaft sind, sondern der politischen Logik entsprechen und umsetzbar sind. Erfolgreiche wissenschaftliche Politikberatung integriert beide Logiken.

Zentral für Integrationsprozesse ist die Trennung zwischen wissenschaftlichen Aussagen und politischen Werturteilen. Im Politikberatungsprozess muss deutlich gemacht werden, was die zugrunde liegende wissenschaftliche Basis mit ihren Kontroversen und Unsicherheiten ist und was daraus abgeleitete politische Empfehlungen sind, für die es auch Alternativen geben kann. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass in der Öffentlichkeit wissenschaftliche Erkenntnisse als politische Aussagen aufgefasst werden, die man gesellschaftlich und nicht ausschließlich wissenschaftlich diskutieren könne. Die Trennung zwischen wissenschaftlichen und politischen Argumenten in der Integration ist auch wichtig, damit die Verantwortlichkeiten von Wissenschaft und Politik transparent bleiben: In einer Demokratie dürfen nur die gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Bürger, nicht jedoch die Wissenschaft, politische Entscheidungen treffen.

In der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie wichtig diese Trennung ist: Aufgrund der oft nicht klaren Trennung zwischen den zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und daraus abgeleiteten politischen Empfehlungen entstand der Eindruck, dass auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse bloß "Meinungen" seien, die genauso wie die politischen Maßnahmen gesellschaftlich debattiert werden können. Hier trugen auch manche Experten dazu bei, in dem sie selbst nicht klar ihre wissenschaftliche Aussage von politischen Empfehlungen trennten. Sie wurden dann in den Strudel politischer und medienöffentlicher Auseinandersetzung gezogen, obwohl sie dabei ungleich weniger professionell darauf vorbereitet sind als Medienschaffende oder Politiker. Die klare Trennung zwischen wissenschaftlichem Argument und politischer Empfehlung dient also auch dem Selbstschutz der politisch oft wenig erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Politikberatung betreiben.

Einfluss auf die Politik ohne Frust

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben definitiv Einfluss auf Politik. Klimaschutzmaßnahmen oder Coronapolitik wären ohne Wissenschaft undenkbar. Allerdings fehlt es häufig an dem Verständnis dafür, dass keine wissenschaftliche Lösung Politik ersetzen kann, da es in Bezug auf ein Problem immer politische Alternativen gibt. Für das Gelingen wissenschaftlicher Politikberatung ist entscheidend, politische Prozesse besser zu verstehen, um Frustrationen zu vermeiden. Erfolge wissenschaftlicher Politikberatung stellen sich oft nur in kleinem Rahmen oder langfristig ein, es werden nie wissenschaftliche Maximallösungen zur unmittelbaren politischen Praxis. Dies ist kein Scheitern wissenschaftlicher Politikberatung, sondern das Ergebnis von Integrationsprozessen zwischen Politik und Wissenschaft. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dann gute Politikberater, wenn sie ihren eigenen Einfluss weder über- noch unterschätzen und sich stärker als bisher mit politischen Prozessen und notwendigen Integrationsprozessen zwischen Wissenschaft und Politik auseinandersetzen.

Wissenschaftliche Politikberatung – Schwerpunkt in Forschung & Lehre

Angesichts aktueller Krisen und globaler Herausforderungen scheint Politik ohne Wissenschaft nicht denkbar. Doch in welchem Verhältnis sollen wissenschaftliche Beratung und politische Entscheidung stehen? Inwieweit können Politiker wissenschaftliche Expertise als Entscheidungsgrundlage nutzen? Welche Erfahrungen haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Politikberatung gemacht?

Die aktuelle Ausgabe von Forschung & Lehre geht dem Einfluss der Wissenschaft auf die Politik nach.

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