Corona-Diskurs
Die Verabsolutierung des homo phaenomenon
Die Aufgabe kritischer Wissenschaft und entsprechender "Transfer"-Leistungen ist es, gesellschaftliche und rechtspolitische Prozesse zu begleiten und aktiv die jeweilige Expertise in den Entscheidungsfindungsprozess einzubringen. Eine vitale, an den gesellschaftlichen Fragen interessierte Universität, die auch außerhalb des Elfenbeinturms sichtbar ist, hat nicht nur naturwissenschaftlich und medizinisch das Potenzial, beratend tätig zu sein, sondern etwa auch pädagogisch, ökonomisch, juristisch, soziologisch und philosophisch.
Grenzen des wissenschaftlichen Austauschs
Nun hat sich in den letzten Monaten gezeigt, wie schwierig es ist, in Zeiten großer Verunsicherung, in denen zum Teil natur- und gesellschaftswissenschaftliches Neuland betreten wird, einen konstruktiven Diskurs zu führen. Jahrhundertealte Errungenschaften der geistigen Auseinandersetzung kommen an ihre Grenzen, etwa wenn die einen den anderen vorwerfen, ihre Rationalität wegen ihrer übersteigerten Angst eingebüßt zu haben oder umgekehrt, per se deshalb unvernünftig zu sein, weil sie den Sinn bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus nicht einsehen oder die Gefährlichkeit anhand der statistischen Daten anders einschätzen als der Mainstream.
Auch der interdisziplinäre Austausch innerhalb der universitären Wissenschaftsbereiche stößt an seine Grenzen. Die Expertise im jeweils eigenen Fach mag extrem hoch sein. Der Infektiologe kann aber eben nur eine laienhafte Vorstellung davon haben, was der Jurist mit "Rechtsgrundlagen" oder der "Verhältnismäßigkeit" von Grundrechtseingriffen meint, während umgekehrt dem Juristen nur vage bekannt sein dürfte, wie ein mRNA-Impfstoff funktioniert. Der Mathematiker mag wissen, was "exponentielles Wachstum" ist, der Psychologe, wie man eine empirisch fundierte Statistik erstellt und liest. Die daraus folgenden (rechts)politischen Schlüsse zu beurteilen, ist aber Aufgabe aller Gesellschaftswissenschaftler, inklusive der Juristen und Philosophen. Und selbst innerhalb verwandter Disziplinen scheint es zuweilen beinahe unmöglich zu sein, sich verständlich zu machen, etwa wenn sich ein Rechtsphilosoph mit einem Verfassungsrechtler über den Begriff des Rechtsstaates verständigen will. Es zeigt sich, dass es mit der viel beschworenen Interdisziplinarität nicht weit her ist.
Das darf aber in einer Zeit, da die Expertisen notwendig ineinandergreifen müssen, um mündige Entscheidungen zu ermöglichen und damit eine Gesellschaft als freiheitliche Rechtsgemeinschaft zu erhalten, nicht das Ende des Diskurses bedeuten. Eines ist gewiss: Auf die Möglichkeit der Selbstbestimmung des Einzelnen in einer Gemeinschaft mit Gleichbedeutsamen kann ebenso wenig leichtfertig verzichtet werden wie auf das nackte Leben oder die Gesundheit der einzelnen Mitglieder.
Einwände aus rechtsphilosophischer Sicht
Aus der Perspektive der Disziplin der Rechtsphilosophie ist diese Zeit eine große Herausforderung an das Denken. Rechtsphilosophie bedeutet stetige Beschäftigung mit den staatlichen Gesetzen und ihrer Legitimation, mit dem Verhältnis von Staat und Einzelnem, mit den Grundvoraussetzungen einer gelungenen Rechtsgemeinschaft, den Bedingungen des Rechtsstaats sowie der Begründung von staatlichem Zwang, sowohl in der Gefahrenabwehr als auch im Bereich der Strafe. Rechtsprinzipien sind fundiert in der Grundeigenschaft des Menschen, neben einer biologisch-empirischen Existenz (homo phaenomenon) auch selbstbestimmtes Vernunftwesen (homo noumenon) zu sein. Bestimmte Folgerungen aus dieser Grundeinsicht sind für eine freiheitliche Rechtsgemeinschaft gedanklich notwendig und müssen auch aktiv in den Diskurs eingebracht werden – und zwar mit nicht geringerem Anspruch auf Gehör als (vermeintliche) Gewissheiten der Naturwissenschaften. Solche Überlegungen gehen weit über die bloße Anwendung des geltenden Rechts hinaus, betreffen vielmehr seinen Grund. Rechtsphilosophische Wissenschaft ist als Teil der praktischen Philosophie außerdem keine reine Gelehrtenbuchwissenschaft, sondern schließt notwendig die Lebenspraxis, praktische Selbstorientierung und gesellschaftliche Fragen ein.
Eine der gedanklich notwendigen Folgerungen lautet, dass eine freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung um ihrer selbst willen gerade in "Stresssituationen" darauf zu achten hat, dass die Mittel der "Stressbewältigung" selbst ohne Ausnahme rechtsstaatliche Mittel sind. Es löst größte Sorge aus, wenn der Staat als Verfassungsstaat über einen längeren Zeitraum systematisch und mit höchster Intensität in Freiheitsrechte eingreift und dabei Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit (dazu gehört auch die Verhältnismäßigkeit) aus den Augen zu verlieren droht.
Gedankliche Grundlage für diese Einwände ist, dass das Recht nur vom vernünftigen Subjekt aus begriffen und legitimiert werden kann. Das hat viele hier unbenannte Voraussetzungen, die geklärt sein müssen, bevor man das Recht als Freiheitsrealisation innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft näher bestimmt und konkretisiert. Wichtig ist aber, dass Freiheitsbeeinträchtigungen, die der Staat als verbindlich und mit Zwang durchsetzbar in Kraft setzt, klare Tatbestandsvoraussetzungen brauchen, die sich auf die betroffene Person beziehen müssen. Das ist ein Problem unserer Corona-Politik: Die große Mehrheit der Rechtsgemeinschaft wird auf unbestimmte Zeit und gravierend mit härtesten Freiheitsbeeinträchtigungen ganz unabhängig davon in Anspruch genommen, ob sie selbst eine Gefahr für andere darstellt, in welchem Maße sie das tut, ob sie konkret gefährlich ist oder wie die Situation geartet ist; alles auf den Verdacht hin, dass sie Viren-Überträger sein könnte – wobei die statistische Wahrscheinlichkeit nie wirklich empirisch untersucht und in die Begründung integriert wird.
Mangel an Begründung
Das heißt, es stehen völlig neue rechtliche Zurechnungsgründe zur Debatte. Denn Verantwortungs- und Zustandshaftung verlangen nach den überkommenen Prinzipien des Gefahrenabwehrrechts entweder unrechtmäßiges Tun oder zumindest eine reale, erwiesene Gefahr, allenfalls noch einen konkreten Gefahrverdacht, der dann aber nur Gefahrerforschungseingriffe rechtfertigen würde. Das bedeutet, dass massive Freiheitsbeeinträchtigungen wie etwa Berufs-, Versammlungs- und Kontaktverbote oder die Quarantäneanordnung nicht auf den bloßen Verdacht einer Infektiösität erlassen werden dürfen; allenfalls eine Testpflicht als "Gefahrerforschungsmaßnahme" ist in konkreten Fällen eines Verdachts oder bei der Kontaktmöglichkeit mit vulnerablen Gruppen (z.B. vor Pflegeheimen) rechtlich möglich. Im aktuell praktizierten Infektionsschutz werden diese Prinzipien missachtet. Es wird nicht mehr auf die Person und ihre Sphäre abgestellt, sondern auf eine diffuse Gefährdungslage. Nicht eine erwiesene Gefahr, sondern Unsicherheit über die Existenz einer Gefahr soll Tatbestandsvoraussetzung für Ausgangs-, Versammlungs- und Berufsverbote, Kindergarten- sowie Schul- und Universitätsschließungen u.v.m. sein. Insofern ist Skepsis angebracht, ob dies unter dem deutschen Grundgesetz und unter den bisherigen Grundbegriffen von Unrecht, Gefahr und Risiko rechtens ist.
Und es ist mindestens begründungsbedürftig, ob der Begriff der Solidarität so etwas zu tragen vermag. Denn "Solidarität" ist als Rechtsbegriff bisher nur in Nuancen ausgearbeitet. Beim strafrechtlichen Notstand etwa, der es in einer akuten Gefahrsituation erlaubt, auf fremde Rechtsgüter zuzugreifen, unabhängig vom Verursacher der Gefahr, sind aus dem Prinzip der Solidarität heraus nur geringfügige Freiheitseingriffe zulässig, etwa die zeitweise Verwendung eines Fahrzeuges, um eine schwerverletzte Person ins Krankenhaus zu bringen. Das ist in Intensität und Bedeutung nicht vergleichbar mit den flächendeckenden, dauerhaften und bis ins Privatleben hineinreichenden staatlichen Grundrechtsbeschränkungen, die gerade mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden und ganz allgemein ohne genauere Differenzierung mit menschlicher "Solidarität" begründet werden sollen.
Konsequenzen
Diese Sicht der Dinge wird in der öffentlichen Debatte eher selten zu Gehör gebracht. Die Mehrheit scheint unter dem Titel "Wissenschaft" allein virologische oder medizinische Expertise zu verstehen. Damit wird aber ein Teil des typisch Menschlichen, der natürliche Selbsterhaltungstrieb, verabsolutiert und das, was den Menschen als Menschen eigentlich einzigartig macht, seine Freiheit in Sozialität, ignoriert. Das passt in einen Zeitgeist, der es nicht mehr versteht, Einheiten zu denken, sondern mit naturwissenschaftlichem Hochmut einzelne Aspekte des menschlichen Lebens verabsolutiert und dadurch das Wesentliche aus den Augen verliert: Die Würde des Einzelnen als geistigem Wesen.
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