gefaltetes Papierboot auf Buch
mauritius images / Juan moyano / Alamy

Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Die Freiheit, die ich meine

Wissenschaft heißt, Verantwortung als Last und Freude zu erfahren und dabei nie am Ziel zu sein. Über das Wesen von Wissenschaft und Freiheit.

Von Bernhard Kempen 22.04.2019

Wissenschaft heißt lesen, beobachten, hinhören, zurück und voraus schauen, verstehen, nachdenken, diskutieren, entwerfen, aufschreiben, korrigieren, alles verwerfen und wieder ganz von vorne anfangen. Oder nicht alles verwerfen. Publizieren, kleine, stille Triumphe feiern. Bestätigung erfahren bei einem Fachvortrag, in einer Rezension, durch das beiläufige Lob eines Kollegen. Oder vehemente Kritik erdulden. Positionen räumen oder halten, dazulernen. Wissenschaft heißt Lampenfieber, aktive, fröhliche und begabte Studentinnen und Studenten erleben, ratlos sein, gute und schlechte Vorlesungen halten.

Heißt mehrtägige Seminare an entlegenem Ort, heißt Studienexkursionen nach Den Haag, Luxemburg, Straßburg und Brüssel, heißt Klausuren korrigieren und bewerten, Bachelor- und Masterarbeiten, Doktorarbeiten. Lange und kurze mündliche Prüfungen. Gutachten für Studentinnen und Studenten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in Berufungsverfahren für andere Fakultäten. Wissenschaft heißt Teil einer Institutsmannschaft sein, im Team gemeinsam durch dick und dünn gehen, heißt Verantwortung als Last und Freude erfahren. Heißt Doktorandinnen und Doktoranden treffen, beraten, ermuntern, behutsam lenken, zusehen, wie Wissenschaft wächst.

Wissenschaft heißt Gremiensitzungen absolvieren, viel Unvernunft und viel Klugheit und allem begegnen, was dazwischen liegt, heißt um Erst- und Drittmittel kämpfen. Wissenschaft heißt den Gesetzgeber beraten und vor Gerichten auftreten. Wissenschaft heißt mit beiden Beinen auf dem Boden stehen oder es wenigstens versuchen. Politik und Gesellschaft den Spiegel vorhalten, die systemische Bedeutung von Bildung betonen, für Wahrheit eintreten, gegen Vorurteile und Dummheit kämpfen, guten Wissenschaftsjournalismus genießen, schlechten verachten.

Wissenschaft heißt müde und erschöpft sein, nie am Ziel sein, gegenüber Ignoranz Ohn­macht empfinden. Wissenschaft heißt Freundschaften pflegen, hier und über die Grenzen hinweg, heißt sentimental und anhänglich sein und Freunde aus den Augen verlieren. Heißt Wissenschaftsrituale, Talare, Amtsketten und Laudationes schmunzelnd erleben. Wissenschaft heißt an die Zukunft glauben. Wissenschaft heißt das Gefühl haben, ein winziges Teil von etwas Größerem zu sein, das ich nie verstehen werde. Wissenschaft heißt leben.

Freiheit als Voraussetzung und Folge

Und Freiheit? Freiheit ist Voraussetzung. Und Folge. Ohne sie nichts von alledem. Frei sein von äußerem Zwang und politischem Kommando, von Bevormundung, von Erpressung, von Gängelung, von goldenen Zügeln. Von völlig überzogenen und inadäquaten Erfolgserwartungen. Von verfehlten und gefährlichen neuen Denk- und Sprechverboten. Von eigenen Vorurteilen, von falschen Rücksichtnahmen, von unsinnigen Gewohnheiten, von der Gier nach überholten wissenschaftlichen Statussymbolen.

Aus diesen Freiheiten entsteht neue Freiheit. Jedes Mal, wenn sich ein Irrtum als Irrtum erweist: neue Freiheit – von falschen Vorstellungen, von irrtümlichen Annahmen, von Aberglauben und Irrglauben. Freiheit für die Wissenschaft ist Freiheit durch die Wissenschaft.