Das Foto zeigt Charlie Chaplin auf ein Zahnrad gespannt aus dem Film "Moderne Zeiten"
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Standpunkt
Zwingende Freiheit

Die Universitäten leben von der intrinsischen Motivation, ja Selbstausbeutung ihrer Wissenschaftler. Welche Folgen hat das für die Institution?

Von Felix Grigat 01.01.2019

Die Universitäten sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie waren auch nie das, was man gedacht hat, was sie gewesen seien. Auch sind sie nicht das, was sie ehemals sein sollten. Noch weniger entsprechen die Universitäten dem, was sich Hochschulmanager vorstellten, als sie sie geplant hatten. Sie gleichen weder dem vermeintlichen "Humboldtschen Ideal", noch sind es durchökonomisierte Wirtschaftsbetriebe oder gar Kampfmaschinen für den internationalen Wettbewerb. Sie sind etwas, aber nicht alles von all dem. Deshalb haben sie ein Identitätsproblem - und nicht nur das.

In den vergangenen 25 Jahren wurden die Universitäten mit so vielen Reformen und "Wettbewerben" überzogen, dass kaum ein Stein auf dem anderen blieb. Die Bologna-Reform als "Mutter aller Reformen" sistierte den Kern der Universität. Sie wurde von einer Bildungsuniversität, in der die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt steht, zu einer Kompetenzhochschule, bei der Anschlussfähigkeit an das System wesentlich ist.

Die wettbewerblich angelegten Exzellenzinitiativen brachten einigen Universitäten einen Geldregen und viele (befristete) Stellen. Sie führten aber zugleich zu einem maßlosen Verbrauch der knappsten Ressource, die die Wissenschaft benötigt: Zeit.

Bologna und die Exzellenzinitiativen hatten Folgen für die Strukturen, die Studierenden und die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie stehen unter kontinuierlichem Evaluationsdruck und müssen in Wettbewerbskämpfen um Forschungsmittel bestehen. Diese Anstrengungen haben ihre Grenze erreicht. Intrinsisch motiviert erhöhen die Wissenschaftler ständig das Maß ihrer Selbstausbeutung. Weil man sich über die Leistung und die Anerkennung der scientific community definiert, überlässt man sich einer "zwingenden Freiheit" (Han) oder dem "freien Zwang" zur Maximierung der Leistung. Dies ist eine anthropologisch gefährliche Mesalliance.

Der Burnout hat die Universität erreicht. Sie ist zu einer vielfach geforderten, überforderten, ja "heißgelaufenen" Organisation mutiert.

Eine von der Bildung und Freiheit des Menschen her gedachte Universität ist etwas ganz anderes als eine Universität als Leistungsmaschine. Kein Mensch kann sich bilden, kein Forscher forschen, der wie ein Ross eingespannt ist in die "unselige Eile" einer "wilden Jagd", bestimmt von Gutachten, Massenveranstaltungen, Publikationsdruck, Zielvereinbarungen; der allenthalben Startschüsse hört und Stoppuhren erwartet, die ihm sagen: "Wirf alles weg von Dir, Nachdenken, stille Besinnung ... sonst kommst Du zu spät in den Zeitexpreß hinein." (Kierkegaard). Weil der Einzelne hineingesogen wird in den Strudel der Ungeduld, meint er unterzugehen, wenn er sich nicht selbst ausbeutet. Damit aber verliert er seine Freiheit, verliert den aufrechten Gang und wird zu einem homo in se curvatus. Seine Freiheit verliert er präzise deshalb, weil er in ihr etwas anderes sucht als sie selbst.

Deshalb sollte man die Universitäten mit mehr Wettbewerben und Reformen doch bitte verschonen. Sie brauchen nichts dringender als Muße und Freiheit, damit sich Studierende, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer wieder auf die Sache der Wissenschaft, von Forschung und Lehre, konzentrieren können.