Straßenansicht in Kabul vom 15. August 2022: Im Bildvordergrund sieht man eine Frau von hinten mit einem Kind auf dem Arm, im Bildhintergrund fährt ein Pick-Up-Truck voller Taliban-Kämpfer vorbei.
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Philipp Schwartz-Initiative
Als Fellow nach Deutschland – ein Schimmer der Hoffnung

Ein Jahr nach der Eroberung durch die Taliban liegt die Wissenschaftsfreiheit in Afghanistan "in Scherben". Forschende flüchten auch nach Deutschland.

Von Charlotte Pardey 15.08.2022

Forschung & Lehre: Nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban am 15. August 2021 waren viele afghanische Forschende unmittelbar bedroht. Wie hat die Philipp Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung reagiert?

Frank Albrecht: Im Philipp Schwartz-Hauptprogramm haben wir die Antragsfrist für die Nominierung afghanischer Forschender verlängert und die Zugangsvoraussetzungen insofern vereinfacht, dass nicht für jede einzelne vorgeschlagene Person ein eigener Gefährdungsnachweis erbracht werden musste, sondern wir von einer landesweiten akuten Gefährdung ausgegangen sind. Auch vor 2021 wurden schon vereinzelt afghanische Forschende nominiert, aber mit der erneuten Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan hat der Umfang der Nominierungen stark zugenommen: Allein in der letzten Auswahlrunde wurden 15 afghanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorgeschlagen, fünf sind als Fellows ausgewählt worden.

Portraitfoto von Frank Albrecht
Frank Albrecht arbeitet seit 2016 in der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung. Seit 2020 ist er Programmdirektor der Initiative.

F&L: Nach welchen Kriterien werden die Fellows ausgewählt?

Frank Albrecht: Der Fokus liegt nicht nur auf der Gefährdung der Nominierten, wir müssen auch auf Basis der wissenschaftlichen Qualifikation auswählen. Ein wichtiges Kriterium ist die Perspektive auf eine erfolgreiche temporäre Integration der Fellows in das deutsche Wissenschaftssystem. Aus unserer Sicht wäre es unverantwortlich, Personen zwei Jahre zu fördern, die danach keine Chance haben, in Deutschland weiterzukommen. In Afghanistan liegt eine ganz besondere Qualifikationslage der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor. Es ist nicht selten, dass Masterabsolventen Professuren oder Dozenturen ausfüllen. Promotionen sind nicht der Normalfall, ebenso wenig wie aktive Forschungstätigkeit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterhalten auch nicht standardmäßig internationale Kontakte oder Kooperationen. Natürlich gibt es auch Forschende, die diese Qualifikationen haben und im Hauptprogramm nominiert und gefördert werden können. Um auch die Gegebenheiten der anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berücksichtigen zu können, hat uns das Auswärtige Amt Ende des letzten Jahres eine Million Euro zur Verfügung gestellt, um ein zeitlich begrenztes Sonderprogramm zu schaffen. Diese "Brückenförderung" haben wir inhaltlich anders gestaltet als das Philipp Schwartz-Hauptprogramm: Zugangsvoraussetzung ist lediglich eine wissenschaftliche Tätigkeit, keine Promotion. Auch das Förderziel wurde angepasst. Es geht der Brückenförderung nicht zwingend um eine wissenschaftliche berufliche Integration, sondern erstmal um Sicherheit für die Person und eine berufliche Qualifikation im weiteren Sinne. Aktuell fördern wir im Sonderprogramm 20 Personen für ein Jahr. Das ist sehr wichtig, aber ganz offen gesagt, natürlich zu wenig. Wenn wir die finanzielle Möglichkeit bekämen, würden wir sofort mehr tun. Jede einzelne Absage, die wir schicken müssen, egal ob nach Afghanistan oder woandershin, tut weh.

F&L: Wie schätzen Sie die Lage an den afghanischen Hochschulen aktuell ein?

Frank Albrecht: Die Wissenschaftsfreiheit liegt in Scherben, sowohl inhaltlich, also in Bezug auf Forschungsvorhaben und der Gestaltung der Lehre, aber auch in institutioneller Hinsicht. Die Taliban haben die Leitungsebenen der Hochschulen ersetzt mit regimetreuen, nicht unbedingt für ihre Aufgaben qualifizierten Personen. Es finden Gesinnungsprüfungen statt für Dozierende und Professoren. Die Geschlechtertrennung bestimmt den Alltag, Frauen können nur noch von Frauen unterrichtet werden und der Mangel an weiblichen Lehrenden ist ein extrem begrenzender Faktor. Dazu kommen ethnische Diskriminierungen und die humanitäre Notlage mit Hunger und Krankheit. Es ist eine katastrophale Situation.

F&L: Sie sprachen eben von weiblichen Lehrenden. Fördern sie auch Forscherinnen aus Afghanistan?

Frank Albrecht: Im Hauptprogramm fördern wir seit der letzten Auswahlrunde eine afghanische Wissenschaftlerin und vier Wissenschaftler. Bei der Ausschreibung des Sonderprogramms haben wir gesondert darauf hingewiesen, dass wir die Nominierung afghanischer Wissenschaftlerinnen begrüßen würden. Die Gefährdungslage für weibliche Forschende ist im Land besonders hoch. Allgemein beobachten wir, dass deutlich weniger Frauen als Männer für Schutzprogramme wie die Philipp Schwartz-Initiative nominiert werden. Das hängt allerdings nicht nur damit zusammen, dass in den Herkunftsländern weniger Frauen wissenschaftlich tätig sind. Auch in Gefährdungssituationen scheinen weibliche Forschende beispielsweise mehr Care-Arbeit übernehmen zu müssen und zusätzlich zu ihrer Forschungsarbeit weniger Zeit dafür zu haben, internationale Kontakte aufzubauen und zu aktivieren, wenn sie in eine Notsituation geraten. Wir setzen uns seit zwei Jahren strategisch mit dieser Intersektionalität von Gender, Gefährdung und Wissenschaft auseinander. Es fehlen allerdings weltweit oder zumindest europaweit erhobene Daten. Durch unseren Hinweis auf die Nominierung von weiblichen Forschenden sind immerhin sieben der 20 Fellows in der Brückenförderung für Afghanistan Frauen.

F&L: Außer, dass Bewerberinnen und Bewerber eine deutsche Hochschule oder Forschungseinrichtung benötigen, die sie vorschlägt, welche weiteren Herausforderungen stellen sich ihnen?

Frank Albrecht: Der Großteil des formalen Aufwandes liegt bei der nominierenden Institution eingedenk der Tatsache, dass Menschen auf der Flucht keine Zeit haben, sich in einen Bewerbungsprozess einzuarbeiten. Von den gefährdeten Forschenden werden lediglich die klassischen Bewerbungsunterlagen gefordert: Lebenslauf, Publikationsliste, Zeugnisse und ein Forschungsproposal. Eine Herausforderung für die Forschenden ist, dass ein qualitätsorientierter Auswahlprozess einige Wochen in Anspruch nimmt, aktuell dauert er bei uns etwa drei Monate. Das ist zwar recht schnell für Auswahlprozesse in Deutschland, aber in einer akuten Gefährdungssituation sicher eine lange Zeit. Ganz oft ist die Aussicht auf eine Förderung währenddessen der einzige Hoffnungsschimmer für die nominierten Personen.

F&L: Wo befinden sich die Forschenden, die nominiert werden? Bereits in Deutschland oder noch im Ausland?

Frank Albrecht: Das ist sehr unterschiedlich in Abhängigkeit vom jeweiligen Konflikt und Herkunftsland. Es ist kein Hinderungsgrund für eine Förderung, wenn die Ausreisesituation der nominierten Person noch überhaupt nicht klar ist. Ganz oft ermöglicht erst die Zusage einer Förderung durch uns die Einreise nach Deutschland und stellt einen Visumsgrund dar. Die Philipp Schwartz-Initiative als Programm wird vom Auswärtigen Amt nicht nur gefördert, sondern auch unterstützt und so haben wir enge Abstimmungswege. Auch in Härtefällen ist das Auswärtige Amt mit den Auslandsvertretungen sehr hilfreich.

F&L: Können Sie vielleicht beispielhaft von solchen Situationen afghanischer Forschender berichten?

Frank Albrecht: Von den 20 Geförderten im Sonderprogramm konnten aktuell nur elf ihre Förderung antreten. Die übrigen neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten bisher nicht aus Afghanistan oder einem Transitland – meist Pakistan oder Iran – ausreisen. Eine Forscherin zum Beispiel ist alleinstehend. Das heißt bereits die selbständige Reise durch Afghanistan ist ihr nicht möglich, sodass hier nun tatsächlich so etwas wie eine Evakuierungsbegleitung erfolgen muss. Ein anderer Fellow ist aktuell im Iran. Er hat Probleme hat mit seinen Papieren und ihm geht dort das Geld aus, während er auf die Möglichkeit wartet, auszureisen. Ein weiterer Fellow hat ein sehr kleines Kind, das noch keinen Pass hat. Aber für eine Ausreise braucht es natürlich einen Pass…

F&L: Pausiert die Förderung in solchen Fällen?

Frank Albrecht: Ja, wir können die Förderung offenhalten. Leider nicht unendlich lange. Erstens müssen wir immer bedenken, dass es eine andere Person gibt, die die Förderung vielleicht hätte antreten und nutzen können, der wir aber absagen mussten. Aktuell ist der zweite Faktor haushaltsbedingt. Wir können zum Beispiel unsere Ukraineförderung nur sehr eingeschränkt verschieben, weil die Gelder nur zeitlich begrenzt abrufbar sind.

"Die Krisen überlagern sich. Das war schon immer so, aber bei Afghanistan und dem Ukraine-Krieg waren es jetzt zwei Krisen von enormem Ausmaß." Frank Albrecht

F&L: Im Juli teilte die Humboldt-Stiftung mit, dass sie im Jahr 2023 ein acht Prozent geringeres Budget vom Auswärtigen Amt erhalten werde. Stiftungspräsident Professor Christian Pape erklärte, dass die Philipp Schwartz-Initiative auch von schmerzlichen Kürzungen betroffen sei. Während 2022 Sondermittel für den Schutz von Forschenden aus der Ukraine vorhanden seien, müssten die begonnenen und im nächsten Jahr weiterlaufenden Stipendien zu Lasten von Bewerbungen aus anderen Ländern finanziert werden. Können Sie das erklären?

Frank Albrecht: In der letzten Ausschreibungsrunde sind infolge des Krieges in der Ukraine etwa 230 Nominierungen eingegangen, dreimal so viele wie in jeder normalen Runde, das hat die Initiative und die gesamte Stiftung vor ungekannte Herausforderungen gestellt. Im Hauptprogramm haben wir durch zusätzliche Gelder für die Ukraineförderung 66 Fellowships an ukrainische Forschende vergeben können. Dazu kommen 20 Förderungen für alle anderen Herkunftsländer. Sie sehen schon, was der unbeabsichtigte Effekt ist: die Philipp Schwartz-Initiative, die eigentlich für Forschende aus der ganzen Welt gedacht ist, erhält einen starken Fokus auf die Ukraine. Die Krisen überlagern sich. Das war schon immer so, aber bei Afghanistan und dem Ukraine-Krieg war es jetzt tatsächlich so, dass zwei Krisen von enormem Ausmaß und besonderem Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zusammenkamen.

F&L: Die zusätzlichen Gelder zur Förderung ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können laut Bundesfinanzministerium nur noch 2022 abgerufen werden. Was sind die Folgen?

Frank Albrecht: Etwa 4,5 Millionen Euro wurden der Humboldt-Stiftung im Juli 2022 für ukrainespezifische Auswirkungen bereitgestellt, besonders auch natürlich für die Philipp Schwartz-Initiative. Wir können wie beschrieben überdurchschnittlich viele ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fördern. Einen großen Teil der Gelder werden wir allerdings nicht einsetzen können, weil sie eben nur 2022 genutzt werden können und unser Hauptprogramm auf bis zu zwei Jahre ausgelegt ist. 2023 müssen die angelaufenen Förderungen ukrainischer Forschender dann aus unseren institutionellen Geldern weitergeführt werden. Aktuell versuchen wir mit allen Mitteln zu verhindern, dass im kommenden Jahr weniger bedrohte Forschende aus anderen Ländern aufgenommen werden können. Die Entscheidung ist dabei noch nicht gefallen. Allerdings müssen wir eine Ausschreibungsrunde aussetzen: Die aktuelle Runde, die eigentlich bereits im Juni hätte ausgeschrieben werden sollen, wurde in den August verlegt, um die Lücke zur folgenden Ausschreibung zu schließen, die voraussichtlich im Sommer 2023 erfolgen wird. Die Frühjahrsauswahl 2023 wird ausfallen, da uns die finanziellen Mittel fehlen. Währenddessen kann man eine zunehmende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit weltweit beobachten, wie etwa der Academic Freedom Index zeigt. Viele Krisen und Konflikte, die eigentlich auch Aufmerksamkeit verdienen, bekommen diese aktuell nicht.

Philipp Schwartz-Initiative

Die Philipp Schwartz-Initiative als Förderprogramm für von Krieg oder Verfolgung bedrohten ausländischen Forschenden der Alexander von Humboldt-Stiftung gibt es seit 2015, aktiv ist sie seit 2016. Aktuell läuft die zwöfte Ausschreibungsrunde, für die noch bis zum 21. Oktober 2022 Nominierungen eingereicht werden können.

Fellows werden von deutschen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen nominiert. Es geht bei der Förderung nicht nur um die Sicherung und Finanzierung bedrohter Forschender, sondern auch darum, Hilfe beim Aufbau der beruflichen und privaten Existenz der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers in Deutschland zu leisten.

Aktuell baut die Philipp Schwartz-Initiative zusammen mit Scholars at Risk Europe und der European University Association ein neues EU-Programm auf, MSCA4Ukraine. Mit diesem sollen ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an europäischen Gasteinrichtungen an ihrer Promotion oder als Postdoc weiterarbeiten können. So soll auch Ländern, in denen es keine Schutzprogramme gibt, ermöglicht werden, ukrainische Forschende aufzunehmen. Auch die Reintegration in der Ukraine soll, sobald diese wieder möglich ist, gefördert werden, um keinen Braindrain zu erzeugen, wie die Humboldt-Stiftung mitteilt.