Flaggen der Taliban am Stand eines Straßenverkaufs.
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Afghanistan
Wie unterscheiden sich Taliban und ISIS-K?

Afghanistan beheimatet eine Vielzahl islamistischer Gruppierungen, die nicht immer deutlich voneinander abgegrenzt sind. Einige Hintergründe.

Von Charlotte Pardey 01.10.2021

Afghanistan ist ein komplexes Land, in dem etwa 20 verschiedene Volksgruppen aufeinandertreffen: Paschtunen, Hazara, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen sind nur die fünf größten. Parallel dazu konkurrieren islamistische Gruppierungen miteinander um Macht und Einfluss, wie die jüngsten Geschehnisse im Land mit der neuerlichen Machtergreifung der Taliban und den Anschlägen auf den Kabuler Flughafen kurz darauf zeigen, für die der Islamische Staat Khorasan die Verantwortung übernommen hat.

"Es ist eine der größten Herausforderungen für die Taliban, den Islamischen Staat und weitere Gruppierungen im Land unter Kontrolle zu bringen, beispielsweise die pakistanischen Taliban (TTP), die Ostturkistanische Islamische Bewegung von Uiguren, die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU) oder Al-Kaida. Wenn die Taliban internationale Anerkennung haben wollen, müssen sie diese Gruppen einhegen, zum Beispiel durch Einbindung in ihre eigenen Strukturen", erläutert Politologin Dr. Katja Mielke, die am BICC (Bonner International Centre for Conflict Studies) zu Afghanistan und Pakistan forscht.

Laut Mielke sind die zentralen Gruppen in Afghanistan aktuell die afghanischen Taliban und der so-genannten Islamische Staat Khorasan (IS-K) oder auch einfach nur Daesh genannt. Es sei zum aktuellen Zeitpunkt unklar, wie stark die Präsenz des Al-Kaida-Netzwerks in Afghanistan ist: Während ein UN-Bericht von 2020 von engen Verbindungen zwischen Al-Kaida und den Taliban spricht, höre man von ihnen derzeit nichts, so Mielke. In jedem Fall stünden die afghanischen Taliban und der Islamische Staat in Afghanistan in Konkurrenz zueinander, es gebe aber auch personelle wie ideologische Überschneidungen.

Die Taliban der 1990er und heute

Die Taliban bilden eine aus dem lokalen Kontext hervorgegangene islamistische Bewegung. Sie wurde, die Anfang der 1990er Jahre in Südafghanistan von ehemaligen sogenannten Mudschahedin-Kämpfern, gegründet, die in den 1980er Jahren gegen das marxistische Kabuler Regime und die sowjetischen Truppen gekämpft hatten. Viele von ihnen waren Mullahs und Graduierte pakistanischer Koranschulen. Weitverbreitet werde angenommen, wie Mielke erklärt, dass afghanische Flüchtlinge gezielt vom pakistanischen Geheimdienst ausgebildet und zur Taliban-Bewegung gemacht wurden, um das Interesse Pakistans an einem ihm entgegenkommenden Regime in Afghanistan zu bewahren. Dies sei allerdings nicht bewiesen. Plausibler scheint es Mielke, dass die Taliban als lokale Macht aufgrund der Unzufriedenheit mit dem herrschenden Bürgerkrieg entstand, den korrupte sogenannte Mudschahedin-Parteien maßgeblich führten.

Von Kandahar aus eroberten die Taliban dann 1994 und 1995 zunehmend die Distrikte und Provinzen Afghanistans, bis sie im September 1996 Kabul einnahmen. Erst später drangen sie auch in den Norden vor. 1998 wurde Masar-i Sharif eingenommen, den Nordosten des Landes eroberten die Taliban allerdings nie. Sie wollten den Bürgerkrieg beenden und eine Gesellschaft gründen, die nach islamischen Werten lebt. Als Kleriker und Kämpfer verfügten sie allerdings nicht über ein politisches Programm und waren unerfahren im Staatsaufbau, so Mielke. Sie versuchten, andersdenkende Afghaninnen und Afghanen mit Repressalien zu ihrer Vorstellung des Islams zu zwingen. Schon vor der Militäroffensive der Vereinigten Staaten von Amerika im Anschluss an die Terrorangriffe des 11. Septembers 2001 sank daher ihre Legitimation. Durch die Offensive der Amerikaner wurde die Taliban-Regierung militärisch besiegt und ihre Anhänger flohen zumeist über die Grenze nach Pakistan. Dort organisierten sie sich neu und gewannen in Afghanistan im Laufe der 2000er Jahre sukzessive an Einfluss zurück. Nicht zuletzt aufgrund der Korruption der afghanischen Regierung, wie Mielke erläutert.

Heute seien die afghanischen Taliban als Gruppe schwieriger einschätzbar als noch zwischen 1996 und 2001. "Sie sind besser aufgestellt, was beispielsweise ihre diplomatischen Verbindungen und Verhandlungskompetenzen angeht. Schon ab 2015 haben sie unterschiedlichen Berichten zufolge bereits wieder etwa 50 Prozent des afghanischen Territoriums beherrscht", beschreibt Mielke. Auch die religiöse Landschaft habe sich gewandelt: Afghanistan sei stärker von salafistischen Elementen beeinflusst als in den 1990er Jahren, berichtet die Politologin. Grundsätzlich seien Salafisten keine Bedrohung: Nur ein politisierter Teil verfolge eine dschihadistische Agenda, zu der auch Gewalttaten gegen Nicht-Muslime gehören.

Währenddessen provoziert das neue Regime der Taliban Kritik, im Land selbst ebenso wie im Ausland. Amnesty International kritisiert, dass die Taliban Menschenrechte demontierten. Die Organisation berichtet von der Tötung von Zivilistinnen und Zivilisten, Folter, und der Einschränkung von Frauen- und Freiheitsrechten.

Der Islamische Staat in Afghanistan

Als der sogenannte Islamische Staat in Irak und Syrien 2014 soweit erstarkte, dass er Territorium eroberte und Staatlichkeit für sich einforderte, habe dies in Afghanistan unter Teilen der Taliban große Begeisterung ausgelöst, berichtet Mielke. In Afghanistan sei die lokale Organisation Islamischer Staat in Khorasan (IS-K) entstanden, deren prominente Gründungsmitglieder pakistanische Taliban waren. IS-K fand Zuläufer sowohl in Pakistan als auch in Afghanistan aus den Reihen der Taliban. Die Taliban habe dies nicht geduldet und es sei eine deutliche Feindschaft zwischen beiden Gruppen entstanden. Mielke forschte zu der Frage, ob die afghanische Gruppierung als Ableger von ISIS im Nahen Osten gegründet wurde und urteilt, dass sie sich "weitgehend unabhängig und ohne direkten Einfluss aus Syrien und Irak gebildet hat."

Zeitweise versuchten sich die Gruppierungen in Afghanistan durch Anschläge und Angriffe gegenseitig zu übertreffen. Mielke betrachtet dies mit Sorge: "Was man auch an den Anschlägen auf den Flughafen gesehen hat, ist, dass aktuell die Gefahr besteht, dass es durch IS-Terror mittelfristig wieder zu einem Bürgerkrieg in Afghanistan kommen könnte."

Unterschiede und Überlappungen

Ein zentraler Unterschied zwischen den Taliban und dem Islamischen Staat in Afghanistan ist religiöser Natur. Die Taliban seien wie die Mehrheit der Afghanen Hanafiten, das heißt, dass sie einer Rechtsschule angehörten, die sich neben Koran und Hadithen auch auf die Lehren des Abu Hanif bezieht. Demgegenüber seien die religiösen Vorstellungen der salafistischen Anhänger des Islamischen Staats geprägt von der wörtlichen Auslegung von Koran und Sunna. Letztere beschreibt die überlieferten Verhaltensweisen und Ansichten des Propheten Muhammad und seiner Gefährten, die in Form von Einzelberichten, den Hadithen, gesammelt und weitertradiert wurden. In dieser Hinsicht ist der Salafismus eng mit dem in Saudi-Arabien vorherrschenden Wahhabismus verwandt, der auf den islamischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts Ibn Abd al-Wahhab zurückgeht.

Durch Gewaltakte habe sich der Islamische Staat in Afghanistan sehr unbeliebt gemacht. Er habe keine große Basis in der afghanischen Bevölkerung und gelte vor allem als Terrorgruppe, so Mielke. Andersdenkende, auch wenn sie sich selbst als Muslime verstehen, würden vom Islamischen Staat laut dem theologischen Prinzip des "takfir" zu Ungläubigen erklärt, die getötet werden könnten. So rechtfertige die Organisation die Tötungen.

Mielke zögert, eine Einschätzung zu geben, inwieweit die Ideologie der Taliban in den letzten Jahren ebenso salafistisch beziehungsweise wahhabitisch überformt wurde. "Das kann man noch nicht beurteilen", erläutert die Politologin. Die wörtliche Auslegung des Islams saudischer Prägung habe sich seit den 1980er Jahren verbreitet. Viele Afghanen seien in Flüchtlingslagern in Kontakt mit Wohlfahrtsorganisationen aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten gekommen, die dort missionierten. Das habe sich seit 2001 verstärkt, da Wohlfahrtsorganisationen der Golfstaaten den Bau von religiösen Einrichtungen finanziert hätten, den die reguläre Entwicklungszusammenarbeit außen vor ließ. Ihr wahhabitisches Gedankengut haben sie dabei mitgebracht, wie Mielke erläutert.

Auch die Nähe der beiden Organisationen zueinander sei nur schwer zu beurteilen: "Wir wissen aktuell nicht, wie viele Differenzen zwischen Taliban und Islamischem Staat in Afghanistan durch personelle Überschneidungen innerhalb der Gruppierungen überbrückt werden könnten." Wie die Taliban agieren, wie sie den Islamischen Staat in Afghanistan entweder kontrollieren oder koexistieren lassen und wie sie Staatlichkeit als islamistische Gruppierung organisierten, sei auch auf globaler Ebene wichtig, so Mielke. Es ginge um die "Deutungshoheit des dschihadistischen Islamismus".