Das Foto zeigt eine Porträtzeichnung von Friedrich Schleiermacher.
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Friedrich Schleiermacher
Auf die Vorlesung kommt es an

Vor 250 Jahren wurde Friedrich Schleiermacher geboren. Was würde er heute zur Situation der Universitäten sagen? Ein fiktives Gespräch.

Von Felix Grigat 20.11.2018

Forschung & Lehre: Die Qualität der Lehre an den Universitäten ist seit kurzem wieder in aller Munde. Viele schlagen vor, die Universitäten mehr als höhere Schulen zu verstehen. Ist das angemessen?

Friedrich Schleiermacher: Nein. Es ist geradezu verderblich, wenn die Universitäten nur fortgesetzte Schulen werden. Die Schulen beschäftigen sich nur mit Kenntnissen als solchen; die Einsicht in die Natur der Erkenntnis überhaupt, den wissenschaftlichen Geist, das Vermögen der Erfindung und der eigenen Kombination suchen sie nur vorbereitend anzuregen, ausgebildet aber wird dies alles nicht in ihnen.

F&L: Das heutige Studium wird durch die Modularisierung immer engmaschiger. Studenten und Hochschullehrer beklagen den Rückgang der akademischen Freiheit. Welche Bedeutung hat die Freiheit für die Universität?

Friedrich Schleiermacher: Das Lernen an und für sich, ist nicht der Zweck der Universität, sondern das Erkennen. Es soll nicht das Gedächtnis angefüllt, auch nicht bloß der Verstand bereichert werden. Es soll ein ganz neues Leben, ein höherer, der wahrhaft wissenschaftliche Geist soll erregt werden. Dies aber gelingt nun einmal nicht im Zwang. Der Versuch kann nur angestellt werden in der Temperatur einer völligen Freiheit des Geistes. Zur Wissenschaft und zum Erkennen, welches ihn befreit vom Dienst jeder Autorität, kann der Student nicht durch irgendeine Gewalt oder durch einen Zwang äußerer Übungen gelangen. Es muss Raum gelassen werden allem, was jedem von innen kommt. Je mehr sich der Geist der Wissenschaft regt, desto mehr wird sich auch der Geist der Freiheit regen, und sie werden sich nur in Opposition stellen gegen die ihnen zugemutete Dienstbarkeit.

Je mehr sich der Geist der Wissenschaft regt, desto mehr wird sich auch der Geist der Freiheit regen. Friedrich Schleiermacher

F&L: Die Universitäten sollen viele Aufgaben erfüllen wie zum Beispiel für den globalen Arbeitsmarkt ausbilden und  für die Wirtschaft umsetzbare Forschungsergebnisse liefern. Was ist die Hauptaufgabe einer Universität?

Friedrich Schleiermacher: Die Universität hat es vorzüglich mit der Einleitung eines Prozesses zu tun, und zwar eines ganz neuen geistigen Lebensprozesses. Die Idee der Wissenschaft soll erweckt, ihr zur Herrschaft über die Studenten verholfen werden, und zwar auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, so dass es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles Einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen, und in einen großen Zusammenhang einzutragen, dass sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewusst zu erden, und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herausarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität.

Die Vorlesung ist keinesfalls überholt

F&L: Die Vorlesung hat seit einigen Jahren keinen guten Ruf. Ist sie überholt?

Friedrich Schleiermacher: Die ganze Universität ist ein wissenschaftliches Zusammenleben und die Vorlesungen insbesondere das Heiligtum desselben. Wenige verstehen die Bedeutung des Kathedervortrages; aber zum Wunder hat er sich, ohnerachtet immer von dem größten Teile der Lehrer sehr schlecht durchgeführt, doch immer erhalten, zum deutlichen Beweise, wie sehr er zum Wesen einer Universität gehört und wie sehr es der Mühe lohnt, diese Form immer aufzusparen für die wenigen, die sie von Zeit zu Zeit recht zu handhaben wissen. Ja, man könnte sagen, der wahre eigentümliche Nutzen, den ein Universitätslehrer stiftet, stehe immer in gradem Verhältnis mit seiner Fertigkeit in dieser Kunst.

F&L: Aber läuft das nicht auf "Frontalunterricht" hinaus, der didaktisch  doch überholt ist?

Friedrich Schleiermacher: Nein, denn der Kathedervortrag der Universität muss die Natur des alten Dialogs haben, wenn auch nicht seine äußere Form; er muss darnach streben, einerseits das gemeinschaftliche Innere der Zuhörer, ihr Nichthaben sowohl als ihr unbewusstes Haben dessen, was sie erwerben sollen, andererseits das Innere des Lehrers, sein Haben dieser Idee und ihre Tätigkeit in ihm recht klar ans Licht zu bringen.

F&L: Wären nicht individuellere Formen, wie zum Beispiel das Gespräch zwischen Hochschullehrer und Student, besser für die Lehre geeignet?

Friedrich Schleiermacher: Jede Gesinnung bildet und vervollkommnet sich nur im Leben, in der Gemeinschaft mehrerer. Durch Ausströmung aus dem Gebildeten, Vollkommenen wird sie zuerst aufgeregt und aus ihrem Schlummer erweckt in den Neulingen; durch gegenseitige Mitteilung wächst sie und stärkt sich in denen, die einander gleich sind. Man sollte meinen, das Gespräch könne am besten das schlummernde Leben wecken und seine ersten Regungen hervorlocken. Allein es muss wohl nicht so sein unter vielen und in der neueren Zeit, weil doch ohnerachtet so mancher erneuerten Versuche das Gespräch nie als allgemeine Lehrform auf dem wissenschaftlichen Gebiet aufgekommen ist, sondern die zusammenhängende Rede sich immer erhalten hat. Es ist auch leicht einzusehen warum. Unsere Bildung ist weit individueller als die alte, das Gespräch wird daher gleich weit persönlicher, so dass kein Einzelner im Namen aller als Mitunterredner aufgestellt werden kann und das Gespräch eine viel zu äußerliche, nur verwirrende und störende Form sein würde.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

ist am 21.11.1768 in Breslau geboren; er starb am 12.2.1834 in Berlin.

Schleiermacher war Theologe, Philosoph, Übersetzer, Philologe, Pädagoge und Universitätspolitiker. Zu allen Disziplinen hat er Entscheidendes beigetragen. Er war präsent in den intellektuellen und politischen Diskursen seiner Zeit. Er gehört zu den bedeutendsten evangelischen Theologen und Philosophen der Geschichte und prägt bis heute wissenschaftliche Debatten. So hatte er großen Einfluß auf die Begründung der Hermeneutik.  Nach Tätigkeiten als Hauslehrer und Prediger wurde er zum Professor für Theologie in Halle und Berlin berufen.

F&L: Was ist für einen guten Vortrag besonders wichtig?

Friedrich Schleiermacher: Der Lehrer muss alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muss nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.  Dabei müssen sich zwei Tugenden vereinigen: Lebendigkeit und Begeisterung auf der einen Seite. Das Reproduzieren muss kein bloßes Spiel sein, sondern Wahrheit; so oft der Hochschullehrer seine Erkenntnis in ihrem Ursprung anschaut, so oft er den Weg vom Mittelpunkt zum Umkreise der Wissenschaft beschreibt, muss er ihn auch wirklich machen. Bei keinem wahren Meister der Wissenschaft wird das auch anders sein; er wird lehrend immer lernen, und immer lebendig und wahrhaft hervorbringend dastehn vor seinen Zuhörern. Ebenso notwendig ist ihm aber auch Besonnenheit und Klarheit, um, was die Begeisterung wirkt, verständlich und gedeihlich zu machen, dass er nicht etwa nur für sich, sondern wirklich für sie rede und seine Ideen und Kombinationen ihnen wirklich zum Verständnis bringe und darin befestige.

Kein Universitätslehrer kann wahren Nutzen stiften, wenn er von einer dieser Trefflichkeiten ganz entblößt ist. Es geht nicht um eine Anhäufung von Literatur, welche dem Anfänger nichts hilft und vielmehr in Schriften muss niedergelegt als mündlich mitgeteilt werden. Die echte Klarheit besteht nicht im unermüdeten Wiederkäuen und Dünne und Dürre des Gesagten. Die wahre Lebendigkeit nicht im Reichtum gleichbedeutender Beispiele und, gleichviel ob guter oder schlechter, nebenherlaufender Einfälle und polemischer Ausfälle.

F&L: Was ist mit den Hochschullehrern, die über Jahre immer wieder das Gleiche vortragen?

Friedrich Schleiermacher: Nichts Jämmerlicheres zu denken als dieses. Ein Professor, der ein für allemal geschriebenes Heft immer wieder abliest und abschreiben lässt, mahnt uns sehr ungelegen an jene Zeit, wo es noch keine Druckerei gab und es schon viel wert war, wenn ein Gelehrter seine Handschrift vielen auf einmal diktierte, und wo der mündliche Vortrag zugleich statt der Bücher dienen musste. Jetzt aber kann niemand einsehn, warum der Staat einige Männer lediglich dazu besoldet, damit sie sich des Privilegiums erfreuen sollen, die Wohltat der Druckerei ignorieren zu dürfen, oder weshalb wohl sonst ein solcher Mann die Leute zu sich bemüht und ihnen nicht lieber seine ohnehin mit stehenbleibenden Schriften abgefasste Weisheit auf dem gewöhnlichen Wege schwarz auf weiß verkauft. Denn bei solchem Werk und Wesen von dem wunderbaren Eindruck der lebendigen Stimme zu reden, möchte wohl lächerlich sein.

Gute Betreuung der Studierenden essentiell

F&L: Aber, bei allem Respekt, die Vorlesung alleine macht noch keine gute Lehre. Wie steht es mit der Betreuung der Studenten?

Friedrich Schleiermacher: Freilich dürfen die eigentlichen Vorlesungen nicht das einzige Verkehr des Lehrers mit seinen Schülern sein. Steife Zurückgezogenheit und Unfähigkeit, auch außerhalb des Katheders noch etwas für die studierende Jugend zu sein, hängen auch gewöhnlich mit den schon gerügten Untugenden des Vortrages zusammen. Wenn der Lehrer mit Nutzen anknüpfen soll an den Erkenntniszustand der Zuhörer; wenn er ihnen helfen soll, die Abweichungen zu vermeiden, zu welchen sie hinneigen; wenn er sich glücklich hindurcharbeiten soll durch die unter ihnen herrschenden Unfähigkeiten im Auffassen: so müssen noch andere Arten und Stufen des Zusammenlebens mit ihnen ihm zustatten kommen, um ihn in der nötigen Bekanntschaft mit den immer abwechselnden Generationen zu erhalten.

F&L: Aber das ist doch in der heutigen Massenuniversität mit ihren überfüllten Seminaren und Studiengängen nicht möglich!

Friedrich Schleiermacher: Man sage nicht, dass dies der Zahl wegen unmöglich sei. Es schließt sich an die Vorlesungen eine Kette von Verhältnissen, an denen, je vertrauter sie werden, schon von selbst desto wenigere teilnehmen, Konversatorien, Wiederholungs- und Prüfungsstunden, solche, in denen eigne Arbeiten mitgeteilt und besprochen werden, bis zum Privatumgang des Lehrers mit seinen Zuhörern, wo das eigentliche Gespräch dann herrscht und wo er, wenn er sich Vertrauen zu erwerben weiß, durch die Äußerungen der erlesensten und gebildetsten Jünglinge von allem Kenntnis erlangt, was irgend auf eine merkwürdige Weise in die Masse eindringt und sie bewegt. Nur indem er allmählich diese Verhältnisse knüpft und benutzt, kann der Lehrer die herrliche Sicherheit der Alten, welche immer den rechten Fleck trafen in ihren Unterredungen, verbinden mit der edeln Bescheidenheit der Neueren, welche eine schon angefangene und selbständig fortgehende individuelle Bildung jedes Einzelnen immer voraussetzen müssen.

Der Staat muss die Wissenschaften sich selbst überlassen. Friedrich Schleiermacher

F&L: Zum Schluss: Wie beurteilen Sie den Bologna-Prozess?

Friedrich Schleiermacher: Es ist dem ganzen Gang neueuropäischer Bildung angemessen, dass die Regierungen auch der Wissenschaften sich aufmunternd annehmen und die Anstalten zu ihrer Verbreitung in Gang bringen mussten. Allein hier wie überall kommt eine Zeit, wo diese Vormundschaft aufhören muss.  

F&L: Also mehr Autonomie für die Universitäten?

Friedrich Schleiermacher: Der Staat muss die Wissenschaften sich selbst überlassen, alle innern Einrichtungen gänzlich den Gelehrten als solchen anheimstellen und sich nur die ökonomische Verwaltung und die Beobachtung des unmittelbaren Einflusses dieser Anstalten auf den Staatsdienst vorbehalten. Schulen und Universitäten leiden je länger, je mehr darunter, dass der Staat sie als Anstalten ansieht, in welchen die Wissenschaften nicht um ihrer-, sondern um seinetwillen betrieben werden, dass er das natürliche Bestreben derselben, sich ganz nach den Gesetzen, welche die Wissenschaft fordert, zu gestalten, missversteht und hindert, und sich fürchtet, wenn er sie sich selbst überließe, würde sich bald alles in dem Kreise eines unfruchtbaren, vom Leben und von der Anwendung weit entfernten Lernens und Lehrens herumdrehen. Vor lauter reiner Wissbegierde würde die Lust zum Handeln vergehn und niemand würde in die bürgerlichen Geschäfte hinein wollen.  Dies scheint seit langer Zeit die Hauptursache zu sein, weshalb der Staat sich zu sehr auf seine Weise dieser Dinge annimmt.

Die Antworten Schleiermachers sind entnommen: Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808) Überarbeite Fassung eines in Forschung & Lehre veröffentlichten Textes.