Person verlässt einen Raum, in dem nur ein Globus liegt
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De-Globalisierung
Erstauntes Innehalten dank Corona

Die Globalisierung gilt als ein irreversibel fortschreitender Prozess. Doch die Corona-Krise zeigt, wie schnell dieser zurückgefahren werden kann.

Von Jochen Hörisch 06.05.2020

Der messerscharfe Schluss, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, ist nicht nur unter Laien, sondern auch unter Fachleuten und Wissenschaftlern verbreitet. Negativzinsen könne es nicht geben, weil dann alle Bargeld horten würden, ließen selbst renommierte Volkswirtschaftler verlauten. Sie lagen (nicht nur mit dieser Einschätzung) peinlich daneben; es gibt schon seit einiger Zeit, was es nach der reinen Lehre nicht geben darf: Negativzinsen. Und die haben ersichtlich nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen (wie Rückgang der Staatsschulden und preiswerte Finanzierung von Immobilienkrediten).

Blamiert hat sich auch die Prognose, der Ausstieg aus der Atomenergie würde unweigerlich zu häufigen Zusammenbrüchen der Stromversorgung führen. Allen Alarmrufen zum Trotz kommt der Strom nach wie vor, nunmehr aber vermehrt als regenerierbare Energie aus der Steckdose. Auch hier lohnen sich traditionelle Abwägungen der Vor- und Nachteile (AKWs basieren offensichtlich auf riskanter und terrorismusanfälliger Technologie, aber sie reduzieren den CO2-Ausstoß, Wind­räder verspargeln die Landschaft und bringen schallsensible Menschen um den gesunden Schlaf et cetera). Aufschlussreicher als diese Pro- und Contra-Tabellen aber ist die Feststellung, dass eine so avancierte Hochtechnologie wie die Erzeugung von Atomenergie zugunsten einer (in jedem Wortsinne überholten, generalüberholten) Uralttechnologie aufgegeben wird: Windmühlen statt Reaktoren.  

Dynamik der De-Globalisierung

Die Globalisierung sei ein irreversibel voranschreitender Prozess, lautet eine weitere verbreitete These, sie stünde nicht ernsthaft zur Disposition. Nun führt die Corona-Krise drastisch vor Augen, wie schnell und entschieden sich gerade die bekanntesten Globalisierungsaktivitäten zurückfahren und gar einfrieren lassen. Autoritäre Regime (und böse Hacker) können das Internet weitgehend ausschalten; der internationale Flugverkehr kommt wie der zuvor boomende Kreuzfahrttourismus fast vollständig zum Erliegen; profanste Lieferketten (Toilettenpapier) werden unterbrochen; das Leben geht weiter, auch wenn die Menschen so immobil sind wie in vormodernen Zeiten und ihre Häuser kaum mehr verlassen; Nationalstaaten forcieren, auch wenn sie Gemeinschaften wie der EU angehören, ohne globale Abstimmung ihre jeweiligen Abwehrkämpfe gegen die Pandemie; Wissenschaften werden vorangetrieben, auch wenn (oder gerade weil?) Tausende von Konferenzen abgesagt werden müssen et cetera. Es lohnt sich, eine so schlichte wie implikationsreiche Tatsache festzuhalten: De-Globalisierung ist tatsächlich möglich.

"Es gibt zur Zeit einen starken De-Globalisierungsprozess in einer Dynamik, die kaum einer für möglich gehalten hat."

Eine eigentümliche Erfahrung: Einen starken De-Globalisierungsprozess gibt es zur Zeit (wie Negativzinsen) in einer Dynamik, die kaum einer für möglich gehalten hat. Der Verfasser dieser Zeilen hat als Literaturwissenschaftler das Privileg, mit schöner, mit schrecklich-schöner Literatur Ausnahmezustände für stets möglich zu halten. Dichtung rechnet geradezu systematisch mit dem Außergewöhnlichen – mit dem schwarzen Schwan, dem Kippmoment, der alles wendenden Katastrophe, der Ausnahme, dem Teufel und der Erlösung von allem Übel. Literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient die gegenwärtige Katastrophenlage auch deshalb, weil der Umgang mit ihr häufig eine recht einfache poetische Figur bemüht: die personificatio. Aus abstrakten und tiefenstrukturellen Großentwicklungen wie der Globalisierung werden persönlich zuschreibbare Ereignisse: auf diesem Tiermarkt in China, bei dieser Après-Ski-Party in Ischgl, in diesem Massentierhaltungsbetrieb, bei diesem Pressetermin in der Downing Street oder im Weißen Haus haben diese oder jene Personen dies oder jenes getan beziehungsweise unterlassen – und ihr Tun hat globale Konsequenzen gehabt.

Das Konzept der Globalisierung ist (wie etwa auch das der Moderne, des Geldes oder des Schicksals) ein Musterbeispiel für das Problem, das Soziologen und Medienwissenschaftler als Adressatenproblem bezeichnen. Die Moderne, das Geld, das Schicksal und die Globalisierung haben die starke Gemeinsamkeit, keine Anschrift, keine Telefonnummer und keine Mailadresse zu haben. Das unterscheidet sie von Museen für moderne Kunst, von Banken und vom Vatikan, die konkret adressierbar und deshalb auch konkret kritisierbar sind. Wir können aber nicht bei der Globalisierung anrufen, um ihr mal deutlich die Meinung über die Zumutungen zu sagen, die sie mit sich bringt.

Umso beeindruckender ist die sehr handfeste und hautnahe Erfahrung, dass politische Interventionen weite Globalisierungsdynamiken zumindest für eine gewisse Zeit, die viele als zumutungsreich lang empfinden, außer Kraft setzen können. Irritierend und zugleich erhellend ist auch, dass De-Globalisierung im Mikrobereich eine persönlich erfahrbare Entsprechung findet. Nicht nur Staaten, Wirtschaften und Gesellschaften gehen auf Distanz zueinander und kappen Beziehungen aller Art: Hier kommt kein Ausländer mehr rein. Auch Individuen gehen in Quarantäne und stellen auf Homeoffice um: Hier kommt kein Virus mehr rein (dass Viren auch der Schlüsselbegriff für die Bedrohung globaler Computersysteme sind, ist eine eigene Analyse wert).

Wer Toilettenpapier hortet, um es zu Wucherpreisen bei Ebay anzubieten, handelt in einem globalen Kontext, in dem gerade auch in den Regierungszentralen der westlichen Staaten eine "me first"- beziehungsweise "we first"-Politrhetorik waltet. Viele Indizien sprechen dafür, dass gerade Politiker wie Boris Johnson und Donald Trump, die diese Rhetorik strapazieren, ihren Ländern schaden, dass sie ganz konkret in der Corona-Krise auf die falschen Strategien gesetzt haben. Eine uns gespenstisch vertraute, strukturell alte Erfahrung: Deutschland wurde von denen ruiniert, die am lautesten "Deutschland, Deutschland über alles" schrien.

Nutzen und Schaden der Entschleunigung

Krisen, so lautet eine alte und sich stets neu bewahrheitende Erfahrung, können Zeiten des erstaunten Innehaltens sein. Sie machen deutlich, dass alles auch ganz anders sein kann, als wir es gewohnt waren und uns vorstellen konnten. Es lohnt sich, nicht mit plakativen und globalen Pro-und-Contra-Globalisierungs-Positionen zu arbeiten, sondern konkret und detailliert zu analysieren, wo welche De-Globalisierung und Entschleunigung nutzt – und wo sie schadet. Ein Ergebnis solcher Analysen könnte zum Beispiel sein, dass zwei oder drei Tage Homeoffice pro Woche produktiver sind als fünf Bürotage und dass sie drastische Entlastungen für Verkehrsströme bringen, dass es sinnvoll ist, bei Seuchenbekämpfung internationale Kooperation zu pflegen, dass globale Lieferketten nicht nur ökologische Probleme mit sich bringen, sondern auch extrem krisenanfällig sind et cetera.

"Auch die anstehende De-Globalisierung ist ein globales Phänomen."

Zu den wunderlichsten Resultaten solcher Analysen könnte auch die Einsicht zählen, dass fortgeschrittenste Technologie schon seit Jahrzehnten häufig Bremstechnologie ist. Die Antibabypille bremst das Bevölkerungswachstum, die ABS-und Airbagtechnologie bremst bedrohlichste PKW-Zusammenstöße ab, das größte bisherige Technologieprojekt überhaupt, das SDI (Strategic Defense Initiative) bremst gar Interkontinentalraketen aus, bevor sie ihr Vernichtungsziel erreicht haben; und die Virologen tun alles, um die beschleunigte Verbreitung von Viren zu stoppen. Die Weltgeschichte tritt in eine Epoche ein, in der Verlangsamen und Bremsen als die weltweit eigentlichen Avantgarde-Projekte verstanden werden müssen. Die Paradoxie ist deutlich und produktiv: Auch die anstehende De-Globalisierung ist ein globales Phänomen – und ein avantgardistisches zumal.