Transatlantischer Dialog
"Die amerikanische Zukunft ist vermeidbar"
Forschung & Lehre: Herr Professor Keppler-Tasaki, Sie sind zur Zeit Stipendiat im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles. Wie wird man Stipendiat und welche Chancen eröffnet ein solches Stipendium?
Stefan Keppler-Tasaki: Für 2019 gab es insgesamt acht Fellowships. Ein Beirat wählt die Fellows aus. Zur Antragsstellung gehört, ein vom besonderen Ort profitierendes Projekt sowie Veranstaltungen mit Partnereinrichtungen in den USA zu planen und so Dialoge herzustellen. Teils bringt man eigene amerikanische Kontakte in das Netzwerk des Hauses ein, teils hilft das Haus bei der Vermittlung neuer Kontakte. Beide Seiten profitieren. Mein Forschungsgegenstand sind die Beziehungen zwischen deutscher Literatur und amerikanischem Film. Ich lebe seit vielen Jahren in Japan und verfolge Forschungskooperationen besonders zwischen der Universität Tokio und Berliner sowie kalifornischen Hochschulen. Dies zusammen bildet die Brücke für mich, um am Thomas-Mann-Haus zu arbeiten.
F&L: Die USA und Deutschland verbindet ein gemeinsames Wertefundament als Demokratie. Braucht es Orte wie das Thomas-Mann-Haus, um diesem Fundament wieder mehr Standfestigkeit zu geben?
Stefan Keppler-Tasaki: Als das Haus 2016 von der Bundesregierung gekauft wurde, entwickelte sich die transatlantische Situation schon in die heutige Richtung. Darin besteht der offensichtliche Glücksfall des Thomas Mann House: bei einem bröckelnden Bilateralismus und Multilateralismus den internationalen Dialog stärken zu können und Kontakte herzustellen, die sonst nicht zustande gekommen wären. Das Thomas-Mann-Haus ist ein Drehkreuz in ganz verschiedene politische und thematische Richtungen.
F&L: Welche Wirkung übt der Ort auf Sie aus?
Stefan Keppler-Tasaki: Das kalifornische Heim von Thomas Mann besitzt eine starke Aura. So im Arbeitszimmer als dem eigentlichen musealen Raum des Hauses mit einem kleinen, aber besonderen Teil der Original-Bibliothek Thomas Manns: der Weimarer Goethe-Ausgabe. Für mich ist wichtig, dass wir hier nicht allein im Geist Thomas Manns arbeiten, sondern auch in Auseinandersetzung mit diesem Geist. Es hilft natürlich, an Erinnerungsorten zu leben und Nähe zu spüren durch die Architektur, durch die Position des eigenen Körpers im Raum am historischen Ort. Das erlaubt einen höheren Grad der historischen Vergegenwärtigung, der dann wieder mit Distanzierungsprozessen und der Reflexion der eigenen Erfahrung am historischen Ort einhergehen muss.
F&L: Die Thomas-Mann-Fellows sollen die Möglichkeit erhalten, Debatten im Geiste Thomas Manns zu grundlegenden Gegenwarts- und Zukunftsthemen auf beiden Seiten des Atlantiks, auch mit Blick auf den Pazifik, anzustoßen. Was stoßen Sie an beziehungsweise worauf stoßen Sie?
Stefan Keppler-Tasaki: Die Bedeutung des Thomas-Mann-Haus sehe ich gerade auch darin, dass es am Pazifik liegt und zur asien-pazifischen Region geöffnet ist. Bereits die Exilanten wie Thomas Mann, Alfred Döblin und Bertolt Brecht haben das erkannt. Sie waren sich im Klaren darüber, dass die nächsten Nachbarn an dieser Küste China, Japan und Korea sind. Die Gründung der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco wurde von den deutschen Exilanten genau beobachtet. Viele von ihnen verbanden damit die Idee, einen Weltstaat zu schaffen mit einer Weltkultur, zu der auch Ost- und Südostasien wesentlich beitragen. Diese weltkulturelle Perspektive bedingt einen multilateralen Dialog, bei dem auch die ostasiatischen Gesellschaften nicht außerhalb unseres Wertemodells existieren. Wir müssen sehen, in welchen Punkten wir sie noch ernster nehmen müssen, als wir das bisher getan haben, und was wir von ihnen lernen können. Das Thomas-Mann-Haus bietet genau diese Chance, den Multilateralismus auch in der transpazifischen Dimension zu verfolgen: eine Triangulierung zwischen Amerika, Asien und Europa.
"Das Thomas-Mann-Haus bietet die Chance auf eine Triangulierung zwischen Amerika, Asien und Europa."
Worauf stoße ich: Zum älteren deutschen Hollywood-Diskurs, in Romanen und der Essayistik, gehörte ja die Idee, dass man sich in Los Angeles oder überhaupt in Südkalifornien bereits in der Zukunft der Menschheit befindet. Ich würde heute sagen, man befindet sich hier an der Vorfront von Entwicklungen, die zu globalen Entwicklungen werden und fünf bis zehn Jahre später auch anderswo ankommen. Man stößt auf eine Art Labor der Zukunft, in dem einige Experimente gelingen und andere weniger. Man kann in der Theorie absehen, was auf den Rest der Welt zukommt, und gewinnt Zeit, Entwicklungen zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten.
F&L: Können Sie ein Beispiel für solche vermeidbaren Entwicklungen nennen?
Stefan Keppler-Tasaki: Sicherlich das Thema Immobilien und Obdachlosigkeit. Wohnungen werden in Los Angeles nicht mehr unbedingt gebaut, um sie zu vermieten, sie sind auch ungenutzt Investitionsobjekte, die ihren Wert steigern. Wohnungsbau ohne Wohnen … diese Entwicklung ist mir auch als Privatperson sehr stark aufgefallen.
F&L: Mit welchen Spaltungen in der amerikanischen Gesellschaft haben wir es zu tun?
Stefan Keppler-Tasaki: Jedenfalls mit solchen, bei denen gesellschaftliches Leben kaum mehr ohne Sicherheitspersonal möglich zu sein scheint. Die Lagerbildung, gleichzeitig aber auch der Verfall von Gruppen und Institutionen ist beträchtlich, ebenso die Gereiztheit und Meinungsschärfe. Das vorletzte Kapitel von Manns "Der Zauberberg" ist mit "Die große Gereiztheit" überschrieben und verrät in seiner psychologischen Klugheit viel auch über die entsprechenden Dynamiken. Wenn man zum Beispiel die andere Person gar nicht mehr wirklich mit dem wahrnimmt, was sie gerade gesagt hat, sondern nur auf das eigene Bild von der anderen Person reagiert. In Deutschland haben wir noch die Chance, uns in eine andere Richtung zu entwickeln und zu verhindern, dass sich die gesellschaftlichen Fraktionen ineinander verhaken, ohne eigentlich im Kontakt zu sein. Die amerikanische Zukunft ist nicht unvermeidbar für uns. Ich lebe nun seit Jahren in Japan, wo man sich traditionell stärker im Konsensmodell bewegt, mit Idealen von Mäßigung und Zurückhaltung. Davon lässt sich unter den richtigen Umständen lernen.
"In Deutschland haben wir noch die Chance, uns in eine andere Richtung zu entwickeln."
F&L: Sehen Sie Anzeichen für eine solche Gereiztheit auch in Deutschland?
Stefan Keppler-Tasaki: Als Germanist, der in Japan lebt, geht mich Deutschland nah an, während ich zugleich in Distanz dazu stehe. Dabei fällt mir zuerst die Sprache auf, die Sprachverrohung, zum Beispiel wenn ich mir parteioffizielle Videos ansehe. Es ist ja nicht zu übersehen, dass die Sprachverrohung, egal, von welcher Seite sie kommt, mit einer geringeren Rücksicht auf Menschen, mit einem humanistischen Defizit einhergeht. Was ist Humanismus? Humanismus bedeutet zuerst einmal, mit Thomas Mann und anderen Exilautoren gesprochen, den Wert von Meinungen nicht über den Wert von Menschen zu stellen.
F&L: Worauf berief sich Thomas Mann in seinem Humanismus?
Stefan Keppler-Tasaki: Thomas Mann wollte der neue Goethe sein. Das zeigt sich an seinem Repräsentanzanspruch: Die deutsche Kultur repräsentieren, Deutschland in sich zu tragen zu wollen, das konnte nur über eine Goethe-Nachfolge funktionieren. Thomas Mann hat diese Entwicklung unter anderem deshalb genommen, weil Goethe, Nationalautor und Weltdeutscher und selbst kein Demokrat, die goldene Regel des Humanismus formuliert hat: "Nur alle Menschen machen die Menschheit aus." Das ist einer der wichtigsten Sätze für mich. Thomas Mann macht aus diesem klassischen Weimarer Humanismus ein politisches Modell des Pluralismus. Man muss Goethes und Manns Romane als Gegenwartsliteratur verstehen. "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Goethe oder den "Zauberberg" von Thomas Mann zu lesen, hilft uns nach wie vor, uns selbst als Individuen und Gesellschaft besser zu verstehen. Thomas Mann hatte in seinem kalifornischen Haus gleich drei verschiedene Ausgaben von Goethes sämtlichen Werken. Die Wände in seinem Arbeitszimmer waren buchstäblich mit Goethe gepflastert. Die "Goethe'sche Sphäre", sagte er selbst, war im Exil sein eigentliches Zuhause. Um Goethe zu werden, musste Thomas Mann einen "Faust" schreiben. Sein Roman "Doktor Faustus" ist in Los Angeles entstanden. Es lohnt sich mehr denn je, dieses Buch zu lesen. Hier erhält die deutsche Gesellschaft ein immer noch augenöffnendes Bild von sich selbst. Mehr als Thomas Manns politische Essays bietet es noch einmal einen anderen Zugang zu unserer eigenen Gegenwart.