moderne Hausfassade der Universität Leipzig
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Universitäten im Wandel
Exzellenz für Viele?

Die deutschen Universitäten haben seit den 1960er-Jahren eine Metamorphose durchlaufen. Wie steht es nun um die so entstandene Universität der Vielen?

Von Peter-André Alt 27.11.2021

Deutschlands Uni­versitäten stehen für eine gediegene wissen­schaftliche Qualität, für Spit­zenforschung durch intellektuellen Reichtum und Fächervielfalt, für eine wach­sende Ver­bes­serung der akademischen Lehre, die Bereitschaft zur Ver­änderung, für klugen Res­sour­cen­einsatz und starken Prag­matismus. Seit der Jahrtausendwende ha­ben die Uni­­versitäten, oft unter den widrigen Bedingungen der Mittelkürzung, ihre Auf­gabenfelder kontinuierlich er­weitert und zugleich ihre Leistungskraft in zen­tralen Funktionsbereichen gesteigert. Die per­manente Ausdehnung der Verpflichtungen führte also weder zur Qualitäts­reduktion noch zum Zusam­men­bruch des Systems. Ermöglicht wurde diese keineswegs selbstverständ­li­che Kon­stel­lation dadurch, dass die Universitäten ihre organisa­tori­schen und im weiteren Sinne akademischen Kapazitäten optimiert haben.

Die hohe Leistungsdichte offenbart sich in den zentralen Handlungsfeldern ge­radezu exem­plarisch. In der For­schung sind deutsche Universitäten euro­paweit führend und weltweit absolut konkurrenzfähig, als Partner für außer­uni­ver­si­tä­re Spitzen­institute und die Wirtschaft gleicher­maßen attraktiv, wach­send er­folg­­reich bei der Drittmittelgewinnung, der Einwerbung renom­mierter Preise und der Förderung ihres akademischen Nachwuchses. Gleich­zeitig haben sie im Bereich angewandter Wissen­schaften, des Transfers und der Interaktion mit der Gesellschaft (third mis­sion) deutlich mehr Wirksamkeit als früher ent­fal­tet. Die Lehre, früher oft vernach­lässigt, gewinnt zu­neh­mende Aufmerksamkeit und erhält durch die Digita­lisierung neue Im­pul­se. Dass die Anstrengungen auf diesem Feld fruchten, ver­raten die Ergebnisse neuerer Evalua­tionen, die eine wachsende – wenn­­gleich keine erschöpfende – Zu­friedenheit der Stu­die­­renden mit dem uni­ver­sitären Unterricht, einschließlich seiner durch die Corona-Krise erstmals breit erprobten virtuellen Praxis, belegen.

Neue Aufgaben für die Universitäten

Zu den klassischen Fel­dern sind zahlreiche neue Aufgaben getreten, und auch hier bleibt fest­zuhalten, dass die Universitäten sie überzeugend erledigen, ohne anderes zu ver­nachlässigen. Sie entwickeln dichte Beratungsnetzwerke im Stu­dienbereich, informieren die Öffentlichkeit, betreiben eine immer vielfältiger wer­dende Wissenschaftskommunikation, sorgen für eine nachhaltige Campus­kultur und wachsende Internationalisierung ihrer Mitglieder, fördern – mit noch nicht ausreichenden Effekten – Frauen in allen Stadien der wissen­schaft­lichen Karriere und ermöglichen jungen Menschen forschungsba­sierte Un­ternehmensgründungen. Sämtliche dieser Aktivitäten evaluieren sie re­gel­­mä­ßig, indem sie ihre Leistungsdaten analysieren und die Erreichung ihrer stra­tegischen Ziele überprüfen. Viel Zeit investieren die Universitäten in die kri­tische Selbstbeobachtung, die ihnen von staatlicher und privater Seite, von Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Gemeinwesen gleichermaßen auferlegt wird.

Staatliche Alimentierung als Besonderheit

Um etliche Bereiche und Aspekte unseres Universitätssystems steht es besser als oft vermutet oder behauptet wird. Zu den Besonderheiten des deutschen Hochschulmodells ge­hört die staat­liche Alimentierung, die einen fairen, weit­gehend kostenfreien Zugang zum Studium ermög­licht; zu ihnen zählt auch die Gewinnung inter­nationaler Studierender und For­schen­der, ohne dass sich da­mit ausschließlich ein nationaler Interessenegoismus verbindet, wie das in den USA oder England oftmals der Fall ist. Bemerkenswert und längst nicht mehr selbstverständlich bleibt auch der Schutz der Diszipli­nen­vielfalt und der Erhalt kleiner Fächer, zumal im Rahmen der Geisteswis­sen­schaften. Generell lässt sich konstatieren, dass die Wissenschaftspo­litik auf Länder- und Bundesebene im Grundsatz durchaus Verständnis für die Bedürfnisse der Univer­sitäten zeigt. Die Vermeidung jener rein utilitaristischen Ansprüche, mit denen Hochschulen in vielen Staaten kon­frontiert werden, macht eine besondere Qualität des deut­schen Systems aus. Dass es dafür glo­bale Anerken­nung findet, ist auch den Spezialistinnen und Spe­zialisten kaum wirklich bewusst. Das Gefühl, schlechter zu sein als andere, gehört zu den eigentümlichen Aspekten des uni­ver­sitären Selbstbildes, das hier­zulande ge­pflegt wird. Es ist aber in seiner Be­schei­denheit durch­weg sy­m­­pa­thischer als die Ar­ro­ganz, mit der sich anderswo akademische Institutionen zu ins­zenieren pflegen.

Was muss verbessert werden?

Was müssen unsere Univer­sitäten verbessern? Sie sollten mehr tun, um Spitzenleistungen ihrer Stu­dierenden zu fördern. Aus guten Gründen investieren sie finanzielle Mittel und in­tel­lektuelle Ressourcen zur Unterstützung der Schwächeren, der­jeni­gen, die Probleme mit dem Lehrpen­sum haben, deren soziale Herkunft den Ein­stieg erschwert oder Barrieren anderer Art erzeugt. Daneben aber sollten die Uni­versitäten zielgerichtet auf eine anregende und nach­haltige För­­derung der Hoch­begabten set­zen, da­mit diese ihnen nicht, wie in der Ver­gan­­genheit häufig, ins Ausland ver­­lo­ren­gehen. Beiden Aufgaben werden sie am besten gerecht, indem sie eine mög­lichst große Di­versität ihrer Mitglieder anstreben. Dass Deutschland hier hinter an­de­ren Na­tionen zurücksteht, ist offen­­kundig. Wir be­nötigen Uni­versitäten, die mehr Menschen un­­ter­schied­licher Herkunft über die einzelnen Statio­nen einer akademischen Lauf­bahn för­­dern.

"Der Mut zur Differen­zierung fehlt in unserem Universitätssystem."

Uni­versitäten sollten ihre Profile schärfen, damit Kom­plementarität entsteht und Kooperation noch wirksamer wird. Der Mut zur Differen­zierung fehlt in unserem Universitätssystem, zum Nachteil des großen Ganzen. In­stitu­tionenspezifische Unterscheidungen nach Studieren­den­zahl, Fächer­spek­trum und disziplinärer Ausrichtung spielen eine zu geringe Rolle im Gesamt­ge­füge. Statt strikter Differenzierung herrscht Ni­vellierung, mit ihr eine An­passung an allge­meine Standards ohne den Mut zum Besonderen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Univer­sitäten verschwimmen vielfach, weil man sich keiner Herausforderung entziehen und in jedem Wettbewerb erfolgreich sein möchte. Widersprüchliche Anfor­de­rungen erschweren hier eine echte Profilierung. Expansion und Konzentration sollen die Universitäten glei­cher­maßen lei­sten, Aus­wahl und Vielfalt ermöglichen, Exzellenz und Bandbreite parallel sicher­stel­len, Füh­rung und Teilhabe im selben System organisieren. Das alles bedeutet eine Quadratur des Krei­ses.

Institutioneller Egoismus

Unsere Universitätslandschaft ist durch verteilte Kräfte, durch distribuierte Ex­zel­lenz geprägt. Das bildet ihre besondere Qualität, die aber nur dann zum Aus­gangspunkt für Spitzenleistungen wird, wenn man sie in gemeinsamer Ak­ti­vität zwischen unterschiedlichen Institutionen nutzt. Noch immer leben Uni­versitäten und außeruniversitäre Einrichtungen trotz verbesserter Koope­ra­tions­kultur in getrennten Regelkreisen und Organisationsstrukturen. Wenn ne­ben die wach­sende Zahl gemeinsamer Arbeitsvorhaben eine größere Be­reit­schaft zur synchronisierten Ent­wicklung von Personal und Infra­struk­tur tritt, dürfte sich das Prinzip der verteilten Exzellenz als auch in­ternational inte­res­san­tes Leistungsmodell mit Vorbildfunktion für andere Länder aus­wei­sen. Aber die Hürden, die hier zu überwinden sind, bleiben hoch. Denn weiterhin leiden die Beziehungen zwischen Uni­ver­si­täten und Einrichtungen der Max-Planck-, der Helmholtz- oder Leib­niz-Com­munity unter der Tendenz zum in­stitutionellen Egoismus. Das sollte sich ändern, damit aus der verteilten eine vernetzte Exzellenz werden kann. Die Politik muss wie­derum die herausragenden Forschungsleistungen der Universitäten anerkennen und dem ins­besondere auf Bundesebene beobachtbaren Trend entgegenwirken, sie primär auf die Funk­tion von Qualifizierungsstätten zu beschränken. Zu dieser Anerkennung gehört wesentlich, dass Univer­sitäten in derselben Weise dynamisch finanziert werden wie die außeruniversitären In­stitu­tionen, die am Pakt für Forschung und Innovation partizipieren.

Keine Dauerevaluation

Für die Verbesserung der Lage unserer Universitäten müssen auch Staat und Ge­sellschaft einen Beitrag erbringen. Am wichtigsten ist fraglos das Vertrauen in bisherige Leistungen. Die Bilanz der letzten 20 Jahre kann sich sehen las­sen. Aus ihr sollte sich die Erkenntnis ableiten, dass Universitäten nicht per­ma­nent evaluiert werden müssen, um gut zu funktionieren. Der Verzicht auf klein­tei­lige Überprüfung und Kontrolle ist lebensnotwendig für ein Kli­ma der intel­lek­tuellen Entdeckungslust, Experimentierfreude und Wagnis­be­reit­schaft. Wenn die Universitäten mehr Ruhe und mehr För­­derkontinuität jenseits ner­vöser Projekt- und Programmzyklen mit stets wech­seln­den Rah­men­be­din­gun­gen erhalten, dann werden sie auch größere Inno­va­tions­lei­stun­gen voll­bringen. In der Tat soll der Staat die Strategieprozesse an den Hoch­schulen durch eine gemeinsame Festlegung von Zielen und Zwe­­cken des Ge­samt­systems voran­treiben. Er darf, ja muss verlangen, dass die Univer­sitäten sich regelmäßig der Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion stellen. Aller­dings wird diese Frage zuweilen Antwor­ten pro­vozieren, die politisch nicht immer op­portun sind. Etwa die, dass die Ex­pansion des Universitätswesens kaum so fort­schrei­ten kann, wie das über Jahr­zehnte der Fall war; und dass Qua­litäts­steigerung und Wachstum – bei ge­ringfügig an­gehobenen Budgets – einen in­neren Wi­derspruch bilden. Diesen Wider­spruch aufzu­lösen muss das vor­rangige Ziel ei­ner wirklich in­halts­rei­chen Strate­gie­diskussion an den deut­schen Univer­sitäten sein. Es wäre schon ein Erfolg, wenn man sie endlich mit der gebo­tenen Ehr­lichkeit be­ginnen könn­te.

Unsere Universitäten haben seit dem Anfang der hochschulpolitischen Debat­ten der sechziger Jahre eine weitreichende Metamorphose durchlaufen. Sie waren einem ständigen Re­form- und Anpassungsprozess, Veränderungs­schü­ben, Erweiterungserfor­der­nis­sen, Um­steuerungszwän­gen und wechselnden Leistungser­war­­tungen un­ter­­wor­fen. Aus den großen Zyklen dieser Um­bauvorgänge kam eine kom­plett ver­änderte In­stitution hervor. Eine Universität der Vielen, nicht der Eli­ten, ei­ne Universität der internationalen Begegnung, nicht der natio­nalen Ego­zen­trik, eine Uni­versität der Aufgabenpluralität, nicht des Elfen­bein­turms, ei­ne Uni­versität der Offenheit, nicht der Exklusivität. Wenn diese Uni­ver­sität mit einer gu­ten Mi­schung aus Prag­matik und Pro­grammehrgeiz an ihrem eigenen An­spruch ar­beit­et, kann sie nicht ver­lorengehen, sondern nur gewinnen im Strom des Wan­­dels, dem Institutionen wie Individuen unterliegen.

Der hier veröffentlichte Text geht zurück auf das Schlusskapitel des Buchs "Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität" von Peter-André Alt, das im September 2021 bei C.H. Beck (München) erschienen ist.