Universitäten im Wandel
Exzellenz für Viele?
Deutschlands Universitäten stehen für eine gediegene wissenschaftliche Qualität, für Spitzenforschung durch intellektuellen Reichtum und Fächervielfalt, für eine wachsende Verbesserung der akademischen Lehre, die Bereitschaft zur Veränderung, für klugen Ressourceneinsatz und starken Pragmatismus. Seit der Jahrtausendwende haben die Universitäten, oft unter den widrigen Bedingungen der Mittelkürzung, ihre Aufgabenfelder kontinuierlich erweitert und zugleich ihre Leistungskraft in zentralen Funktionsbereichen gesteigert. Die permanente Ausdehnung der Verpflichtungen führte also weder zur Qualitätsreduktion noch zum Zusammenbruch des Systems. Ermöglicht wurde diese keineswegs selbstverständliche Konstellation dadurch, dass die Universitäten ihre organisatorischen und im weiteren Sinne akademischen Kapazitäten optimiert haben.
Die hohe Leistungsdichte offenbart sich in den zentralen Handlungsfeldern geradezu exemplarisch. In der Forschung sind deutsche Universitäten europaweit führend und weltweit absolut konkurrenzfähig, als Partner für außeruniversitäre Spitzeninstitute und die Wirtschaft gleichermaßen attraktiv, wachsend erfolgreich bei der Drittmittelgewinnung, der Einwerbung renommierter Preise und der Förderung ihres akademischen Nachwuchses. Gleichzeitig haben sie im Bereich angewandter Wissenschaften, des Transfers und der Interaktion mit der Gesellschaft (third mission) deutlich mehr Wirksamkeit als früher entfaltet. Die Lehre, früher oft vernachlässigt, gewinnt zunehmende Aufmerksamkeit und erhält durch die Digitalisierung neue Impulse. Dass die Anstrengungen auf diesem Feld fruchten, verraten die Ergebnisse neuerer Evaluationen, die eine wachsende – wenngleich keine erschöpfende – Zufriedenheit der Studierenden mit dem universitären Unterricht, einschließlich seiner durch die Corona-Krise erstmals breit erprobten virtuellen Praxis, belegen.
Neue Aufgaben für die Universitäten
Zu den klassischen Feldern sind zahlreiche neue Aufgaben getreten, und auch hier bleibt festzuhalten, dass die Universitäten sie überzeugend erledigen, ohne anderes zu vernachlässigen. Sie entwickeln dichte Beratungsnetzwerke im Studienbereich, informieren die Öffentlichkeit, betreiben eine immer vielfältiger werdende Wissenschaftskommunikation, sorgen für eine nachhaltige Campuskultur und wachsende Internationalisierung ihrer Mitglieder, fördern – mit noch nicht ausreichenden Effekten – Frauen in allen Stadien der wissenschaftlichen Karriere und ermöglichen jungen Menschen forschungsbasierte Unternehmensgründungen. Sämtliche dieser Aktivitäten evaluieren sie regelmäßig, indem sie ihre Leistungsdaten analysieren und die Erreichung ihrer strategischen Ziele überprüfen. Viel Zeit investieren die Universitäten in die kritische Selbstbeobachtung, die ihnen von staatlicher und privater Seite, von Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Gemeinwesen gleichermaßen auferlegt wird.
Staatliche Alimentierung als Besonderheit
Um etliche Bereiche und Aspekte unseres Universitätssystems steht es besser als oft vermutet oder behauptet wird. Zu den Besonderheiten des deutschen Hochschulmodells gehört die staatliche Alimentierung, die einen fairen, weitgehend kostenfreien Zugang zum Studium ermöglicht; zu ihnen zählt auch die Gewinnung internationaler Studierender und Forschender, ohne dass sich damit ausschließlich ein nationaler Interessenegoismus verbindet, wie das in den USA oder England oftmals der Fall ist. Bemerkenswert und längst nicht mehr selbstverständlich bleibt auch der Schutz der Disziplinenvielfalt und der Erhalt kleiner Fächer, zumal im Rahmen der Geisteswissenschaften. Generell lässt sich konstatieren, dass die Wissenschaftspolitik auf Länder- und Bundesebene im Grundsatz durchaus Verständnis für die Bedürfnisse der Universitäten zeigt. Die Vermeidung jener rein utilitaristischen Ansprüche, mit denen Hochschulen in vielen Staaten konfrontiert werden, macht eine besondere Qualität des deutschen Systems aus. Dass es dafür globale Anerkennung findet, ist auch den Spezialistinnen und Spezialisten kaum wirklich bewusst. Das Gefühl, schlechter zu sein als andere, gehört zu den eigentümlichen Aspekten des universitären Selbstbildes, das hierzulande gepflegt wird. Es ist aber in seiner Bescheidenheit durchweg sympathischer als die Arroganz, mit der sich anderswo akademische Institutionen zu inszenieren pflegen.
Was muss verbessert werden?
Was müssen unsere Universitäten verbessern? Sie sollten mehr tun, um Spitzenleistungen ihrer Studierenden zu fördern. Aus guten Gründen investieren sie finanzielle Mittel und intellektuelle Ressourcen zur Unterstützung der Schwächeren, derjenigen, die Probleme mit dem Lehrpensum haben, deren soziale Herkunft den Einstieg erschwert oder Barrieren anderer Art erzeugt. Daneben aber sollten die Universitäten zielgerichtet auf eine anregende und nachhaltige Förderung der Hochbegabten setzen, damit diese ihnen nicht, wie in der Vergangenheit häufig, ins Ausland verlorengehen. Beiden Aufgaben werden sie am besten gerecht, indem sie eine möglichst große Diversität ihrer Mitglieder anstreben. Dass Deutschland hier hinter anderen Nationen zurücksteht, ist offenkundig. Wir benötigen Universitäten, die mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft über die einzelnen Stationen einer akademischen Laufbahn fördern.
"Der Mut zur Differenzierung fehlt in unserem Universitätssystem."
Universitäten sollten ihre Profile schärfen, damit Komplementarität entsteht und Kooperation noch wirksamer wird. Der Mut zur Differenzierung fehlt in unserem Universitätssystem, zum Nachteil des großen Ganzen. Institutionenspezifische Unterscheidungen nach Studierendenzahl, Fächerspektrum und disziplinärer Ausrichtung spielen eine zu geringe Rolle im Gesamtgefüge. Statt strikter Differenzierung herrscht Nivellierung, mit ihr eine Anpassung an allgemeine Standards ohne den Mut zum Besonderen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Universitäten verschwimmen vielfach, weil man sich keiner Herausforderung entziehen und in jedem Wettbewerb erfolgreich sein möchte. Widersprüchliche Anforderungen erschweren hier eine echte Profilierung. Expansion und Konzentration sollen die Universitäten gleichermaßen leisten, Auswahl und Vielfalt ermöglichen, Exzellenz und Bandbreite parallel sicherstellen, Führung und Teilhabe im selben System organisieren. Das alles bedeutet eine Quadratur des Kreises.
Institutioneller Egoismus
Unsere Universitätslandschaft ist durch verteilte Kräfte, durch distribuierte Exzellenz geprägt. Das bildet ihre besondere Qualität, die aber nur dann zum Ausgangspunkt für Spitzenleistungen wird, wenn man sie in gemeinsamer Aktivität zwischen unterschiedlichen Institutionen nutzt. Noch immer leben Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen trotz verbesserter Kooperationskultur in getrennten Regelkreisen und Organisationsstrukturen. Wenn neben die wachsende Zahl gemeinsamer Arbeitsvorhaben eine größere Bereitschaft zur synchronisierten Entwicklung von Personal und Infrastruktur tritt, dürfte sich das Prinzip der verteilten Exzellenz als auch international interessantes Leistungsmodell mit Vorbildfunktion für andere Länder ausweisen. Aber die Hürden, die hier zu überwinden sind, bleiben hoch. Denn weiterhin leiden die Beziehungen zwischen Universitäten und Einrichtungen der Max-Planck-, der Helmholtz- oder Leibniz-Community unter der Tendenz zum institutionellen Egoismus. Das sollte sich ändern, damit aus der verteilten eine vernetzte Exzellenz werden kann. Die Politik muss wiederum die herausragenden Forschungsleistungen der Universitäten anerkennen und dem insbesondere auf Bundesebene beobachtbaren Trend entgegenwirken, sie primär auf die Funktion von Qualifizierungsstätten zu beschränken. Zu dieser Anerkennung gehört wesentlich, dass Universitäten in derselben Weise dynamisch finanziert werden wie die außeruniversitären Institutionen, die am Pakt für Forschung und Innovation partizipieren.
Keine Dauerevaluation
Für die Verbesserung der Lage unserer Universitäten müssen auch Staat und Gesellschaft einen Beitrag erbringen. Am wichtigsten ist fraglos das Vertrauen in bisherige Leistungen. Die Bilanz der letzten 20 Jahre kann sich sehen lassen. Aus ihr sollte sich die Erkenntnis ableiten, dass Universitäten nicht permanent evaluiert werden müssen, um gut zu funktionieren. Der Verzicht auf kleinteilige Überprüfung und Kontrolle ist lebensnotwendig für ein Klima der intellektuellen Entdeckungslust, Experimentierfreude und Wagnisbereitschaft. Wenn die Universitäten mehr Ruhe und mehr Förderkontinuität jenseits nervöser Projekt- und Programmzyklen mit stets wechselnden Rahmenbedingungen erhalten, dann werden sie auch größere Innovationsleistungen vollbringen. In der Tat soll der Staat die Strategieprozesse an den Hochschulen durch eine gemeinsame Festlegung von Zielen und Zwecken des Gesamtsystems vorantreiben. Er darf, ja muss verlangen, dass die Universitäten sich regelmäßig der Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion stellen. Allerdings wird diese Frage zuweilen Antworten provozieren, die politisch nicht immer opportun sind. Etwa die, dass die Expansion des Universitätswesens kaum so fortschreiten kann, wie das über Jahrzehnte der Fall war; und dass Qualitätssteigerung und Wachstum – bei geringfügig angehobenen Budgets – einen inneren Widerspruch bilden. Diesen Widerspruch aufzulösen muss das vorrangige Ziel einer wirklich inhaltsreichen Strategiediskussion an den deutschen Universitäten sein. Es wäre schon ein Erfolg, wenn man sie endlich mit der gebotenen Ehrlichkeit beginnen könnte.
Unsere Universitäten haben seit dem Anfang der hochschulpolitischen Debatten der sechziger Jahre eine weitreichende Metamorphose durchlaufen. Sie waren einem ständigen Reform- und Anpassungsprozess, Veränderungsschüben, Erweiterungserfordernissen, Umsteuerungszwängen und wechselnden Leistungserwartungen unterworfen. Aus den großen Zyklen dieser Umbauvorgänge kam eine komplett veränderte Institution hervor. Eine Universität der Vielen, nicht der Eliten, eine Universität der internationalen Begegnung, nicht der nationalen Egozentrik, eine Universität der Aufgabenpluralität, nicht des Elfenbeinturms, eine Universität der Offenheit, nicht der Exklusivität. Wenn diese Universität mit einer guten Mischung aus Pragmatik und Programmehrgeiz an ihrem eigenen Anspruch arbeitet, kann sie nicht verlorengehen, sondern nur gewinnen im Strom des Wandels, dem Institutionen wie Individuen unterliegen.
Der hier veröffentlichte Text geht zurück auf das Schlusskapitel des Buchs "Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität" von Peter-André Alt, das im September 2021 bei C.H. Beck (München) erschienen ist.