Eine Gruppe Migranten steht an der polnisch-belarussischen Grenze belarussischen Sicherheitskräften gegenüber.
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Migration nach Europa
Flüchtlingskrise oder Krise des Asyls?

Irreguläre Migration an den EU-Grenzen wird oft als "Krise" dargestellt, zuletzt in Belarus und Großbritannien. Was steckt dahinter? Eine Einordnung.

Von Franck Düvell 09.12.2021

Die Migration um und in Europa ist und bleibt dynamisch. In 2021 sind in der EU bis November etwa 185.000 irreguläre Grenzübertritte verzeichnet worden, darunter sind viele Geflüchtete. Bei der Einreise sind im Mittelmeer mindestens 1.654 Menschen ums Leben gekommen, 42 im Ärmelkanal und 10 an der Ostgrenze. Damit bleibt die Mittelroute die gefährlichste, dort sterben verhältnismäßig 10 bis 15-mal mehr Menschen, als auf den anderen beiden Routen. Insgesamt wurden in der EU rund 400.000 Asylanträge gestellt. Daneben erscheinen die zuletzt viel beachteten irregulären Einreisen über Belarus in die EU – etwa 8.000 oder etwas mehr als vier Prozent aller irregulären Einreisen –oder die irreguläre Weiterreise von Frankreich nach Großbritannien – bislang 25.000 – marginal, zumal die Migration durch Belarus schon wieder beendet ist. Auch in Deutschland, wohin etwa 5.000 der zunächst nach Litauen und Polen Geflüchteten bislang weitergezogen sind, machen sie bislang nur etwa vier Prozent der 120.000 Asylanträge aus. Einerseits war 2021 zwar ein Ausnahmejahr, da 2020 durch die globalen Lockdowns im Rahmen der Pandemiebekämpfung viele Migrationsentscheidungen zunächst aufgeschoben worden waren, aber die Mobilität inzwischen wieder angezogen hat. Andererseits ist die irreguläre Migration seit 2015 aber stark zurückgegangen und bewegt sich seither auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Von den weltweit 84 Millionen Geflüchteten in 21 leben ohnehin nur 4 Prozent in Europa, wo sie 0,4 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Nach wie vor verlaufen die bedeutenden Fluchtrouten überwiegend aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie dem östlichen und westlichen Afrika über das Mittelmeer in die südliche EU und von dort weiter in andere Mitgliedsstaaten. Die Bedeutung der Türkei-Route hat sich allerdings seit der EU-Türkei Erklärung in 2016 abgeschwächt, während die der Route über Marokko und zu den Kanaren zugenommen hat. Die osteuropäische Route wurde bereits 2010 versperrt, die Ukraine hatte sich damals den Erwartungen der EU gebeugt und die Transitmigration weitgehend unterbunden. Die einzige Ausnahme ereignete sich 2015/16, als Russland Transitmigration von fast 40.000 Geflüchteten nach Norwegen und Finnland zuließ. Belarus war bislang noch nie Transitland. Schließlich sind die beiden Migrationswege durch Belarus und Frankreich fundamental verschieden, insofern die Route über Belarus in die EU hineinführt, während die durch Frankreich aus der EU hinaus und in einen Drittstaat führt. Dies hat wichtige rechtliche und politische Implikationen, wie unten erläutert wird.

Die Migration in 2021 durch Belarus und Frankreich ist ein Resultat und Fortsetzung der großen Fluchtbewegungen seit den 1990er beziehungsweise 2010er Jahren, vor allem aus Syrien, Afghanistan, dem Irak sowie Ost-, West- und Südafrika sowie die Weitermigration aus der Türkei und dem Libanon. Etwas überraschend war in diesem Jahr einzig die Migration aus irakisch Kurdistan, was bislang als relativ stabil galt. Auch die Migration von Frankreich nach Großbritannien ist nicht neu, sondern wird seit nunmehr zwei Jahrzehnten beobachtet. Dabei handelt es sich um Personen, die bereits in der EU sind. Neu ist nur, dass die Migration inzwischen über das Meer erfolgt und damit gefährlicher ist weil der Zugang zum Tunnel, den Fähren, Zügen und LKWs mit Stacheldrahtzäunen versperrt wurde. Zudem erinnern die Bilder von Schlauchbooten im Ärmelkanal an jene vom Mittelmeer und bringen in der Öffentlichkeit Vorstellungen von einem Kontrollverlust hervor.

Aktuelles Migrationsgeschehen nicht mit 2015 vergleichbar

"Migrationskrise", wie die jüngsten Ereignisse in Großbritannien, Litauen und Polen bezeichnet wurden, ist vor dem Hintergrund der eingangs genannten Zahlen dennoch ein großes Wort. Tatsächlich sind die Ereignisse in ihrer Dimension überhaupt nicht mit der Flüchtlingskrise von 2015 vergleichbar. In Litauen und Polen sind zwischen Juni und November 2021 in etwa so viele Geflüchtete angekommen wie in Griechenland in 2015 mitunter an nur einem einzigen Tag! Zudem sind weder Litauen noch Polen Zielstaaten, vielmehr reisen die meisten in einen anderen EU-Staat weiter, überwiegend Deutschland. Insofern ergeben sich in der EU nur wenige Herausforderungen im Hinblick auf die Aufnahme von Geflüchteten. Auch hat Großbritannien in 2021, wie auch in den vorherigen Jahren, nur etwa ein Drittel so viele Geflüchtete aufgenommen, wie Frankreich und nur ein Viertel so viele wie Deutschland. In Belarus leben zudem anders als in der Türkei – welche derzeit rund 4 Millionen Menschen beherbergt– so gut wie gar keine Geflüchteten. Der Druck, den Belarus auf die EU aufbauen kann, ist demnach vergleichsweise gering. Insofern handelt es sich auch weniger um eine Krise für die betroffenen Staaten, als vielmehr eine Krise für die betroffenen Menschen, die sich gezwungen sehen, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben, weil es für Geflüchtete keine legalen Migrationskanäle gibt.

"Insofern handelt es sich auch weniger um eine Krise für die betroffenen Staaten, als vielmehr eine Krise für die betroffenen Menschen."

Tatsächlich ist die Behandlung von Geflüchteten in Litauen und Polen unanständig. Teils lässt man sie im Niemandsland erfrieren, schlägt sie bei der Einreise oder schiebt sie illegal zurück. Auch sind die Asylanerkennungsraten schändlich niedrig, 2 Prozent beziehungsweise 16 Prozent im Vergleich zu durchschnittlich 50 Prozent in der EU. Das Asylverfahren in der EU ist nach wie vor eine Lotterie, wir sind weit entfernt von einem Gemeinsamen Asylsystem; dies erklärt auch die Weitermigration in andere Mitgliedsstaaten, etwa nach Deutschland. Erst wenn dies geändert ist, kann man von Schutzsuchenden erwarten, ihre Asylverfahren in Litauen und Polen zu betreiben.

Das Problem der irregulären Migration nach Litauen, Polen, Großbritannien und andere Staaten ist allerdings zum Teil hausgemacht. So nimmt Großbritannien nach dem Austritt aus der EU nicht mehr an der gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik teil, ist deshalb auch nicht mehr in die Dublin Konvention der EU eingebunden und hat nun nicht mehr das Recht, Flüchtlinge nach Frankreich zurückführen. Außerdem entfällt damit ein wichtiger legaler Migrationskanal, der bislang die Familienzusammenführung innerhalb der EU ermöglicht hat. Darüber hinaus blockiert der Rat der Europäischen Union seit 2017 eine Initiative zu regulären Umsiedlungen von Geflüchteten, von der bis zu 250.000 Geflüchtete jährlich profitieren könnten. Somit haben die EU und Großbritannien wichtige legale Migrationskanäle versperrt beziehungsweise gar nicht erst eingerichtet, die es erlauben würden, die irreguläre Migration durch eine geordnete Aufnahme zu ersetzen. Tatsächlich haben sich sowohl Großbritannien mit dem Brexit-Slogan, "die Kontrolle über die Grenze zu übernehmen", als auch die EU mit ihren zerstrittenen Mitgliedsstaaten und ihrer Unfähigkeit, eine geordnete Migrations- und Flüchtlingspolitik zu entwickeln, erpress- und angreifbar gemacht. Dies haben sich nun Belarus und indirekt auch Russland zunutze gemacht.

Innen- und außenpolitische Beweggründe in der Migrationsdiplomatie

Vor diesem Hintergrund muss man die Einstufung des Migrationsgeschehens an der Ostgrenze der EU sowie in Großbritannien als "Notstand" und "Krise" im Kontext internationaler Beziehungen und insbesondere der Migrations- und Flüchtlingsdiplomatie betrachten und den diskursiven Zweck analysieren. Großbritannien will innenpolitisch von den Problemen des Brexit ablenken und außenpolitisch alle Verantwortung für Geflüchtete auf Frankreich und die EU schieben und seine Insellage nutzen, um sich noch weiter abzuschotten. Frankreich will dagegen Großbritannien an den Verhandlungstisch der EU und in einige Migrationsabkommen zurückholen. Belarus sucht nach einem Mittel, mit dem es auf die Sanktionen der EU in Entgegnung auf die Unterdrückung der Proteste gegen das Regime reagieren kann. Währenddessen besteht Russlands geopolitisches Ziel darin, die EU zu schwächen, zu destabilisieren und zurückzudrängen (angesichts der Krise an den Außengrenzen der EU lauert hier die nächste große Gefahr). Derweil sieht sich Polen als Verteidiger des "wahren", nämlich weißen und christlichen Europas und will die Ummauerung Europas weiter vorantreiben. Diese Art der Funktionalisierung von Migration für politische Zwecke ist nicht neu. Libyens Gaddafi hatte mehrfach mit der Öffnung der Grenze gedroht, Erdogan in der Türkei zuletzt 2020 und auch Russland hatte diese Karte in 2015/16 ausgespielt, um Druck auf Finnland und Norwegen auszuüben.

Hätte allerdings die EU die paar Tausend Geflüchteten aus Belarus stillschweigend aufgenommen und umverteilt und im Hintergrund das Grenz- und Aufnahmeregime der neuen Situation angepasst, wären Lukaschenko und Putin ins Leere gelaufen. Hätte die EU das Umsiedlungsprogramm für Geflüchtete verabschiedet und daneben die Familienzusammenführung vereinfacht und hätte Großbritannien die europäische Migrations- und Asylpolitik nicht verlassen, wären irregulärer Migration und Schmugglern weitgehend der Boden entzogen.

Allerdings geht es in Polen, Litauen, Griechenland, Großbritannien und anderswo derzeit eher darum, die Verantwortung für Geflüchtete – wie es nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der Weigerung der Weltgemeinschaft, die europäischen Juden zu retten, international im Völkerrecht verankert wurde – weiter einzuschränken. Der Papst bezeichnete jüngst die Flüchtlingspolitik Europas als von Hass getrieben und die Flüchtlingslager an der Außengrenzen der EU gar als Konzentrationslager. Derzeit steht die Zukunft des Flüchtlingsschutzes auf dem Spiel und es sieht nicht gut aus für die Menschen, die in der Hoffnung auf diesen Schutz flüchten.