verschneite Winterlandschaft mit Meditationsplatz im schwedischen Abisko-Nationalpark
mauritius images / Catharina Lux

Stille in der Religion
Heilige Stille

Innehalten, schweigen und spüren: Stille ist fester Bestandteil vieler religiöser Praktiken, etwa im Gebet oder bei der Meditation. Warum ist das so?

Von Perry Schmidt-Leukel 26.12.2021

"Still" und "heilig" – nicht erst das wohl berühmteste unter den Weihnachtsliedern stellt diese Verbindung her. Sie hat vielmehr alte Wurzeln und findet sich in allen größeren religiösen Traditionen. Doch warum ist das so? Auf diese Frage wurde in systematischer und religionsübergreifender Weise bisher eher wenig reflektiert.

Wenn heute vor allem östliche Religionen mit einer "Kultur der Stille" (so Graf von Dürckheims einstiger Bestseller über Japan) assoziiert werden, dann ist dies zweifellos eine sehr einseitige, ja schräge Wahrnehmung seitens des Westens. Doch ist das Klischee nicht völlig aus der Luft gegriffen. Zwei Dinge sind hier ins Feld zu führen: Zum einen ist in den Religionen Asiens häufig die Vorstellung anzutreffen, dass sich die letzte Wirklichkeit menschlichen Worten entzieht: "Könnten wir nennen den Namen, es wäre kein ewiger Name", heißt es gleich zu Beginn des daoistischen Klassikers Daodejing. Und in den hochgeschätzten "Unterweisungen des Vimalakīrti", einer indisch-buddhistischen Schrift aus dem ersten bis zweiten Jahrhundert n. Chr., antwortet Vimalakīrti auf die Frage nach dem wahren Wesen letzter Einheit (beziehungsweise "Nicht-Zweiheit") mit Schweigen. "Hier", so der Text, "ist kein Raum für Silben, Klänge und Ideen". Diese Stille ist ein beredtes Schweigen: ein Zeichen, das auf Transzendenz verweist.

Zum anderen ist damit eine Praxis verknüpft, in der die Stille gezielt kultiviert wird. Es geht dabei nicht primär um äußere Stille, um die Abwesenheit von Lärm. Diese ist lediglich eine Hilfe zu der eigentlich angezielten inneren Stille. "Yoga", so liest man im zweiten Vers des klassischen Yoga-Lehrbuchs schlechthin, den Yoga-Sūtren des Patañjali, "ist das Zur-Ruhe-Bringen des Flatterns des Geistes". Wer es einmal mit der Meditation probiert hat, wird verstehen, wovon hier die Rede ist. Denn sobald man versucht, mit welcher meditativen Technik auch immer, den Geist still zu stellen, ohne dabei einfach einzuschlafen, wird man schnell erfahren, welche innere Unruhe, welches "Gedankengeflatter" dabei auftreten kann.

Die Stille nach dem "Om"

In den östlichen Religionen wird der Weg zur inneren Stille nicht selten mit dem Weg zur unaussprechlichen letzten Wirklichkeit identifiziert oder doch auf das Engste verknüpft. Schweigen, Stille und die Tuchfühlung mit der letzten Wirklichkeit bilden ein inhaltliches Kontinuum. Typisch dafür ist die Erklärung des Mantras "Om", eigentlich AUM, in einer der Upanischaden (Māṇḍūkya Upaniṣad 1,1-12). Demnach symbolisiert diese Silbe die gesamte Wirklichkeit und zugleich die gesamte Bandbreite möglicher Bewusstseinszustände. Sie besteht jedoch, so die überraschende Erklärung, nicht aus drei, sondern aus vier Lauten: Der vierte Laut ist still. In ihm verhallt die getönte Silbe. Er steht für jenes Bewusstsein, in dem alles, was benennbar ist, in seliger Einheit, der "Nicht-Zweiheit", zur Ruhe kommt.

Natürlich gehen östliche Religionen keineswegs in den bisher skizzierten Zügen auf. Hier gibt es umfangreiche dogmatische und metaphysische Abhandlungen mit allerlei Disputen ebenso wie viele Formen ritueller Praktiken, bei denen es teilweise ganz und gar nicht still, sondern durchaus klangvoll und animiert zugehen kann. Zudem ist all dies nicht selten umgeben, ja durchsetzt von jenen institutionellen Machtkämpfen, wie sie uns aus der europäischen Religionsgeschichte nur zu gut (oder allzu schlecht) vertraut sind.

Doch auch den westlichen Religionen ist die Verbindung apophatischen Schweigens mit meditativer Stille nicht fremd. In Teilen des Islams findet sich die Überzeugung, dass der eigentliche Name Gottes nicht nur jenseits seiner 99 schönsten Namen verborgen, sondern grundsätzlich unaussprechlich ist. Der höchste Name ist kein Name – denn er kann nicht genannt werden. Genau darin benennt er aber die absolute Transzendenz des Göttlichen. Gott passt nicht nur in kein Bild, sondern auch in kein Wort. So kennt und praktiziert man beispielsweise in Teilen des Sufismus neben der lauten oder stillen Rezitation der Gottesnamen auch die schweigende Meditation des Herzens: Den Geist von allen Gedanken zu entleeren, schafft jene Offenheit, in der die Wahrnehmung der göttlichen Gegenwart und das Sich-Verlieren in ihr möglich werden.

Schweigen als Gebet

Die hebräische Bibel, das sogenannte "Alte Testament", schildert, wie Gott dem Propheten Elija nicht im Sturm, nicht im Erdbeben und nicht im Feuer erscheint, sondern in einem "sanften, leisen Säuseln" (1 Kön. 19,12). Und in den Psalmen, den Liedern zum Lob Gottes, heißt es: "Gott, man lobt dich in der Stille" (Ps. 65,2). Stille und Schweigen wurden zu festen Bestandteilen der Gebetspraxis im sogenannten jüdischen Pietismus im Ägypten des dreizehnten Jahrhunderts. Dabei waren seine theologischen Gewährsleute, der große Moses Maimonides mit seinem Sohn Abraham und Enkelsohn Obadyah zutiefst vom islamischen Sufismus beeinflusst. Schweigendes, kontemplatives Gebet war auch im mittelalterlichen Christentum weit verbreitet und blickte auf eine lange, besonders im Mönchtum verankerte Tradition zurück. Und wie in den Religionen des Ostens ist auch in den Religionen des Westens die Stille als religiöse Praxis in aller Regel verbunden mit der Überzeugung von der Unsagbarkeit und begrifflichen Unfassbarkeit Gottes.

Einiges davon ist in den Umbrüchen der Neuzeit verloren gegangen. Doch seit dem zwanzigsten Jahrhundert lässt sich in allen drei abrahamitischen Religionen eine Renaissance spiritueller Stille erkennen, die in Judentum und Christentum, teilweise auch im Islam, unter anderem durch Inspiration aus den asiatischen Religionen angestoßen wurde. Aber auch so manche Einsicht der späten Moderne bereitet solchen Wiederentdeckungen den Weg. Wenn ein hard-core Positivist wie der frühe Wittgenstein in seinem berühmten Tractatus erklärt: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" und den ostentativen Charakter dieses in sich widersprüchlichen Satzes durch die Behauptung untermauert: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische", dann verweist dieses Sich-Zeigen jenseits der Sprache unverkennbar in den Bereich einer religiös konnotierten Stille.

Wie tritt man in diese Erfahrung ein? Geübte Meister können mit Hilfe der kontemplativen Techniken, über die die religiösen Traditionen verfügen, den Weg weisen. Doch wirklich still wird das Gedankengeflatter erst durch den keineswegs einfachen Schritt innerlich loszulassen, auch und gerade sich selbst. Erzwingen lässt sich dieses Loslassen nicht. Es kann aber eintreten, wenn das Unaussprechliche nicht Angst, sondern Vertrauen erweckt. "Vor dem, was Leiden bringt, mag Furcht entstehen. Die Leerheit bringt das Leid zur Ruhe. Warum sich vor ihr fürchten?" schreibt ein buddhistischer Meister des 7. oder 8. Jahrhunderts (Bodhicaryāvatāra 9,56). Heilige Stille, so lässt sich vielleicht sagen, ist dieses Leerwerden, gehalten im Unfassbaren. Aber vermutlich ist das schon wieder zu viel gesprochen und es bleibt bei der Antwort des Vimalakīrti.

"Stille" – Schwerpunkt von Forschung & Lehre

Unsere Umgebung nehmen wir oft als laut und hektisch wahr. Wissenschaft und Gesellschaft leben von der Kommunikation, Stille ist da nicht vorgesehen. Dabei ist Stille die Vorraussetzung für Kommunikation. Kein Gespräch wäre möglich, wenn man nicht auch still zuhören würde.

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