Erinnerungskulturen
"Kein Mensch lebt im Augenblick"
Forschung & Lehre: Frau Professor Assmann, die aktuelle Diskussion über Ausbeutung und Rassismus stellt auch den Umgang mit Statuen und Denkmälern aus der Kolonialzeit in Frage. Wer bestimmt oder soll bestimmen, was und auf welche Weise erinnert wird?
Aleida Assmann: Auch wenn sie zentral platziert oder aufdringlich groß sind, sind Denkmäler aufgrund ihres statischen Charakters dennoch leicht übersehbar. Sie sind Teil einer stabilen Umwelt, an die man sich gewöhnt hat, die selbstverständlich und damit in gewissem Sinne unsichtbar geworden ist. Das kann sich aber jederzeit ändern. Denkmäler werden wieder sichtbar, wenn sich gesellschaftliche Debatten ergeben, die sie plötzlich wieder ins Licht der Aufmerksamkeit rücken. Das erleben wir gerade. Wir sehen sie plötzlich mit anderen Augen, weil wir anfangen, über ihre Geschichte und Bedeutung nachzudenken. Das ist zum Beispiel bei den vielen Bismarckstatuen der Fall, die in den Zentren vieler deutscher Städte stehen und den Architekten des Zweiten Kaiserreichs entweder mit Pickelhaube als bewaffneten Krieger darstellen oder im langen Mantel mit einer gerollten Landkarte als Strategen der Kolonialisierung. Der Reichskanzler als Gegenbild zu Angela Merkel verkörpert den Stolz und die Wehrhaftigkeit Deutschlands in einem expansiven Nationalstaat. Viele Deutsche können sich mit diesem Selbstbild nicht mehr identifizieren, wenn man einmal von der "Alternative für Deutschland (AfD)" absieht, die Bismarck wiederentdeckt hat und sein Bild auf Tassen, T-Shirts und Transparente druckt. Denkmäler werden aber auch dann wieder sichtbar, wenn wir sie mit den Augen der Anderen sehen. Das gilt gerade besonders für die archaische Symbolsprache, mit der weiße Menschen schwarze Menschen abzubilden pflegten und im öffentlichen Raum repräsentierten. Je mehr Menschen von anderen Kontinenten in einer Stadt leben, desto vielfältiger wird der Blick. Jeder und jede hat einen anderen Blick, und der hängt davon ab, was man erlebt und welche Demütigungen man in seinem Leben erfahren hat. Die diverse Gesellschaft tut gut daran, sich über diesen Prozess auszutauschen und sich mit der Komplexität unterschiedlicher Lebenserfahrungen auseinanderzusetzen.
F&L: Erinnern kann ein sehr schmerzvoller Vorgang sein, zum Beispiel wenn es um das Anerkennen der eigenen Schuld oder Verantwortung geht. Deutschland hat darin weitreichende Erfahrungen. Wie steht es um die Erinnerungskultur der Deutschen?
Aleida Assmann: Die Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung hat unter den Deutschen keineswegs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen. Das eigene Leid stand zunächst im Vordergrund und das Schweigen über die Verbrechen hat in der Gesellschaft vier Jahrzehnte lang angehalten. Da die Alliierten die Westdeutschen auch bald wieder als Bündnispartner im Kalten Krieg brauchten, haben sie keinen großen Druck ausgeübt, so konnte sich das "Vergessen" durchsetzen. Die Kriegsgeneration kannte angesichts der historischen Schuld nur drei Reaktionen: das Leugnen, das Rechtfertigen und das Schweigen. Das änderte sich erst, als die nachwachsende Generation anstelle ihrer Eltern die Verantwortung für deren Verbrechen übernahm. Obwohl sie nichts mit dieser Schuld zu tun haben, können sich auch die Kinder aus Einwanderer-Familien von dieser Verantwortung angesprochen fühlen. Der KZ-Überlebende Max Mannheimer pflegte bei seinen Schulbesuchen zu sagen: "Ihr seid nicht schuldig für das, was in der Geschichte geschehen ist, aber ihr tragt eine Verantwortung dafür, dass es sich nicht wiederholt!" Dieser Wechsel der Begriffe ist entscheidend. Schuld kann nur individuell zugeschrieben werden. Verantwortung dagegen beruht nicht mehr auf Merkmalen der Zuschreibung, sondern kann von allen wahrgenommen werden. Alt- und Neubürger erben damit eine Geschichte, die überall in der gemeinsamen Umwelt weiterhin in Spuren, Denkmälern und Gedenkstätten präsent ist. Der Zugang dazu ist ein Kernthema der politischen Bildung für alle.
F&L: Warum braucht es "kulturelle Erinnerungsräume"? Welche Rolle spielen sie beim Zugang zur Vergangenheit?
Aleida Assmann: Kein Mensch lebt im Augenblick. Aus physikalischer Sicht betrachtet ist Gegenwart nur der Augenblick des Umschlagens von Zukunft in Vergangenheit. Erst durch die Verschränkung von Erwartung und Erinnerung, Husserl sprach von "Protention" und "Retention", kann das Bewusstsein von Kontinuität und Identität entstehen. Dieses Repertoire von Erfahrungen, auf die man zurückgreifen kann, kann individuell und subjektiv sein, aber man baut sie nicht für sich alleine auf. Wir stehen schon immer auf den Schultern von Riesen, indem wir das Wissen früherer Generationen nutzen und eingebettet sind in kulturelle Umwelten, kollektive Rituale und alltägliche Praktiken. Kulturelle Erinnerungsräume sind nicht einfach rückwärtsgewandt, sondern sind eine angeeignete Vergangenheit. Sie sind produktiv, wenn sie Zukunft erschließen und problematisch, wenn sie Zukunft verstellen.
Aus Forschung & Lehre 7/21
Jetzt lesenF&L: Kann aus einer individuellen eine allgemein verbindliche Erinnerung werden?
Aleida Assmann: Es gibt gar keine rein individuelle Erinnerung. Das jedenfalls war die These des Soziologen Maurice Halbwachs. Er ging davon aus, dass jeder Mensch nicht nur für sich, sondern auch für andere erinnert. Tatsächlich sind Erinnern und Erzählen aufs Engste miteinander verbunden. Durch Erinnerungen sind wir, wie Halbwachs gezeigt hat, aber auch noch auf eine andere Weise verbunden. Er sprach von "sozialen Rahmen" des Erinnerns und bezog sich dabei auf die verinnerlichten Normen und Tabus im Austausch von Erinnerungen. Denn nicht alle Erinnerungen sind in jeder Gruppe in gleicher Weise erwünscht und anerkannt; manches behält man deshalb lieber für sich. Was aber auf sozialer Ebene nicht kommuniziert werden kann, wird verdrängt beziehungsweise vergessen. Jeder soziale Rahmen schließt etwas ein und Vieles aus. Es gibt also kein Erinnern ohne Vergessen. Die Kunst beansprucht einen freieren Umgang mit sozialen und politischen Rahmen; sie kann auch das aufgreifen, was aus der Kommunikation ausgeschlossen wird. In der Kunst kann auch aus einer individuellen Erinnerung eine allgemeine Erinnerung werden, die von beliebig vielen Menschen geteilt wird. Das beste Beispiel dafür ist "Die Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust.
F&L: Gibt es eine Pflicht zur Erinnerung beziehungsweise ein Recht auf Erinnerung?
Aleida Assmann: Eine Erinnerungspflicht ist problematisch, weil etwas Innerliches schwer mit äußerlicher Disziplin erzwungen werden kann. Es gibt Erinnerungsrituale, die nur auf Wiederholung beruhen. Das ist eine Form der Abrichtung, wo die innere Anteilnahme und Auseinandersetzung außen vor bleiben. Plausibler als die Frage, ob es ein Recht auf Erinnerung gibt, erscheint mir die Frage, ob es ein Recht darauf gibt, erinnert zu werden. Das würde ich unbedingt bejahen. Hier ein Beispiel: An den Erinnerungen an das Massaker an der schwarzen Bevölkerung von Tulsa, ein Ereignis, das seit 100 Jahren jährlich kommemoriert wird, hat in diesem Jahr zum ersten Mal der Präsident der Vereinigten Staaten teilgenommen. Dabei verkörperte er die Bereitschaft der weißen Tätergesellschaft, sich verantwortungsvoll an das historische Verbrechen zu erinnern und damit die Opfer zu würdigen. Es gibt inzwischen auch ein Recht auf Vergessenwerden, das der Europäische Gerichtshof eingeführt hat. Dieses betrifft persönliche Informationen im Internet, die sich nicht mehr mit der Zeit durch Vergessen auflösen. Wenn sie nicht mehr aktuell aber geschäfts- und rufschädigend für die Betroffenen sind, können sie inzwischen auf Antrag bei Google gelöscht beziehungsweise entlinkt werden.
F&L: Wie gelingt es, eine Erinnerungskultur lebendig zu halten?
Aleida Assmann: Eine wichtige Möglichkeit, um Erinnerungen lebendig zu halten, besteht in der Wiederauffrischung. Was man schwarz auf weiß besitzt, das kann man zwar getrost nach Hause tragen, wie zum Beispiel ein Buch, aber alles, was ausschließlich in der Sicherungsform der Dauer gespeichert ist, tendiert auch zur Erstarrung, zur Unsichtbarkeit, zum Vergessen. Um als Erinnerung lebendig zu bleiben, bedarf es deshalb der Sicherungsformen der Wiederholung, die das Gespeicherte periodisch reaktivieren, reinszenieren, umdeuten, erneuern. Dafür sind Jubiläen und Jahrestage da. Sie stabilisieren Erinnerung durch mehr oder weniger regelmäßige Wiederholungen als Sinn- und Identitätsangebot beziehungsweise als zukunftsgerichtete Handlungsverpflichtung für folgende Generationen. Über Jahrestage kann eine Erinnerung nicht nur über Jahrzehnte, sondern auch über Jahrhunderte hinweg reaktiviert und erneuert werden. Das historische Ereignis, das seinen persönlichen Erfahrungsbezug verloren hat, wird dabei auf ein abstraktes Gruppenkollektiv überschrieben und symbolisch und mythisch verdichtet. In diesem Prozess verwandelt sich individuelle Erinnerung in kollektive Kommemoration. Gedenktage, auch wenn sie oft von nichts anderem diktiert sind als von der Wiederkehr einer Null, sind also weit mehr als ein leerer Ritus, sondern haben Funktionen und erfüllen Bedürfnisse. Mit ihnen versichert sich eine Gesellschaft ihrer zentralen Schlüsselereignisse und bleibenden Impulse in der Geschichte.
F&L: Warum braucht es (physische) Orte des Gedenkens?
Aleida Assmann: Von Cicero stammt der Satz: "Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt". Er sprach dabei aus Erfahrung und Anschauung, denn er hat eine Pilgerreise nach Athen unternommen und das von Gras überwachsene Gelände aufgesucht, wo einst Platons Akademie gestanden hatte. Es gab nur noch wenig materielle Spuren am authentischen Ort, aber sein mitgebrachtes Wissen belebte sich und er fühlte vor Ort eine erstaunliche Nähe zu den großen Helden der Philosophie. Eine ganz andere Geschichte, die aber den Satz von Cicero durchaus bestätigt, hat der argentinische Richter Daniel Rafecas erzählt, der seit 2004 Ermittlungsverfahren im Rahmen der Verbrechen der argentinischen Militärjunta leitet. Er hat verschiedene Opfer an die Orte geheimer Haft- und Folterzentren begleitet und konnte dabei feststellen, wie vor Ort das Körpergedächtnis aktiviert wurde und viele Einzelheiten wieder zugänglich wurden, die der Erinnerung nicht mehr erreichbar gewesen waren. Konkrete Orte, an denen man etwas erlebt und erfahren hat, stimulieren beziehungsweise "triggern" das assoziative sinnliche Körpergedächtnis, das nicht mental bewusst gespeichert ist.
"Das kulturelle Gedächtnis ist ein aufwendiges Langzeitprojekt; es ermöglicht Menschen, sich in einem großen Zeithorizont zu bewegen."
F&L: Was zeichnet eine gelingende epochen- und generationenübergreifende Kommunikation aus und was kann zu ihrem Scheitern führen?
Aleida Assmann: Kultur ist "das nicht vererbbare Gedächtnis eines Kollektivs". Diese schöne Definition stammt von den russischen Kultur-Semiotikern Jurij Lotman und Boris Uspenskij. Während die Tiere ihr lebensrelevantes Wissen mit den Genen weitergeben, müssen Menschen dafür einen Ersatzmechanismus aufbauen, indem sie ihr gemeinsames Gedächtnis mithilfe von Medien wie Schrift und Bild, Gesang und Tanz aufbauen und stabilisieren. Das kulturelle Gedächtnis ist ein aufwendiges Langzeitprojekt; es ermöglicht Menschen, sich in einem großen Zeithorizont zu bewegen. "Wer nicht von dreitausend Jahren/ Sich weiß Rechenschaft zu geben,/ Bleib im Dunkeln unerfahren,/ Mag von Tag zu Tage leben" (Goethe). Archive, Museen, Denkmäler, aber auch Schulen und alle Künste sind daran beteiligt, dass wir noch etwas von vergangenen Tagen wissen, die Höhepunkte künstlerischer Inspirationen weiterhin genießen und wichtiges Wissen für nachfolgende Generationen parathalten. Gelingende Weitergabe könnte in diesem Zusammenhang bedeuten: ein System effektiver Nachhaltigkeit, das zugleich die Weiterentwicklung der Kultur fördert. Scheitern könnte heißen: materieller Verlust durch Kriege und Katastrophen, aber auch defekte Datenträger sowie politische Eingriffe der Zensur und gezielte Zerstörung von Kulturgut.
F&L: Wann und unter welchen Voraussetzungen ist das Vergessen hilfreich oder sogar notwendig für eine Gesellschaft? Wann ist es gefährlich? Kann eine traumatische Vergangenheit überhaupt vergessen werden?
Aleida Assmann: Nietzsche hielt den Schmerz für das mächtigste Mittel der Mnemotechnik: "Nur was nicht aufhört wehzutun, bleibt im Gedächtnis". Das ist eine sehr radikale Ansicht. Am nächsten kommt dem die traumatische Vergangenheit, die eine Wunde hinterlässt, die nicht heilt, also tatsächlich nicht vergessen werden kann. Es gibt sehr unterschiedliche Formen des Vergessens. Ich unterscheide da zwischen neutralen, negativen und positiven Potenzialen. Neutrales Vergessen geschieht durch Auswahl und dient der Komplexitätsreduktion. In diesem Sinne komprimieren und reduzieren wir unsere täglichen Erfahrungen fortschreitend und automatisch im Sinne einer mentalen Hygiene. Vergessen kann aber auch als Waffe gegen den Gegner eingesetzt werden, um die Erinnerung an ihn zu löschen, dann spricht man von "damnatio memoriae" und im Falle einer ganzen Gruppe, die ermordet wurde, gar von "Mnemocid", dem 2. Tod (in Analogie zu "Genocid"). Als ebenfalls negativ wird das Vergessen bewertet, wenn es die Täter schützt und den Opfern schadet. Das positive Potenzial des Vergessens liegt in der Herstellung einer "tabula rasa" und der Ermöglichung eines unbeschwerten neuen Anfangs. Von Balzac stammt der Satz: "Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen macht es erträglich."
"Erinnern und Vergessen" – Schwerpunkt der Juli-Ausgabe von Forschung & Lehre
Erinnern und Vergessen sind essenziell für das menschliche Leben. Aber: Wie "funktionieren" Erinnern und Vergessen individuell, biologisch? Wie bildet sich die Erinnerung einer Nation? Kann man willentlich vergessen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die aktuelle Ausgabe von Forschung & Lehre.